Weil sich in behindertengerecht umgebauten Bahnstationen die Rampen als zu steil erweisen, müssen teure Lifte eingebaut werden. Nun tobt ein Streit um die Übernahme der Kosten.
Der Urner Kantonsbahnhof Altdorf ist vom Pech verfolgt. Die Eröffnungsfeier zur neuen Verkehrsdrehscheibe im Gotthardkanton im Dezember 2021 musste wegen Corona abgesagt werden. Richtig los ging der Ärger kurz nach der Inbetriebnahme. In einem offenen Brief kritisierten acht Alters- und Behindertenorganisationen, die Rampe auf der Ostseite des nagelneuen Bahnhofs sei für Gehbehinderte «schlicht unüberwindbar».
Mit diesem Problem stehen die Urner nicht alleine da. Auch in Liestal (BL) und Wil (SG) sind die Rampen für Behinderte, ältere Menschen mit Rollatoren, aber auch für Personen mit Kinderwagen zu steil. Das dürfte eigentlich nicht sein. Denn wie Dutzende andere Bahnhöfe und Haltestellen wurden sie in den letzten Jahren behindertengerecht umgebaut. Nicht behindertengerecht genug, wie sich jetzt herausstellt.
Lift zum Preis eines Einfamilienhauses
Der Bahnhof Altdorf soll nun mit einem Personenlift nachgerüstet werden. Kostenpunkt: zwischen 700 000 und 900 000 Franken. An den Kosten soll sich auch der Kanton Uri beteiligen. «Für diesen Preis bauen andere ein Einfamilienhaus», empörte sich der SVP-Politiker Alois Arnold im Urner Landrat. Die Mehrheit des Parlaments sah es ähnlich und lehnte kürzlich einen Antrag der Regierung für eine kantonale Kostenbeteiligung von 250 000 Franken ab.
In Freiburg konnten ähnliche Streitigkeiten nur vermieden werden, weil noch vor dem Beginn des Umbaus 2021 ein Kompromiss gefunden wurde. Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, hatte gegen das Projekt Beschwerde eingereicht. Die SBB wollten keine Niederlage vor Gericht riskieren und bauten vier Lifte ein. Inclusion Handicap zog daraufhin die Beschwerde zurück.
Beim Bahnhof Altdorf zeigten sich die SBB weniger kulant und lehnten die Finanzierung eines zusätzlichen Lifts ab. Dies, obwohl das Problem bei den betroffenen Bahnunternehmen bekannt ist. Andrés Doménech Nothhelfer, Programmleiter Umsetzung Behindertengesetz bei der SBB, musste bei einem Selbstversuch im Rollstuhl feststellen, dass dies eine Tortur ist. «Schon eine lange 6- oder eine 10-Prozent-Steigung ist für Profisportler ein Herausforderung», sagte er gegenüber dem «Blick». In vielen Bahnhöfen weisen die Rampen aber bis zu 12 Prozent Steigung auf.
Wer ist schuld an der Misere? Die Bahnunternehmen sind es nicht, denn die vielkritisierten Rampen entsprechen allen Normen und Gesetzen. Inclusion Handicap hat deshalb bereits 2019 gefordert, dass die Normen angepasst werden. Konkret geht es um die Änderung der Ausführungsbestimmungen zur Eisenbahnverordnung (AB-EBV).
Die Gelegenheit, diese Forderung umzusetzen, hätte sich in den letzten zwei Jahren geboten. In dieser Zeit wurden die AB-EBV revidiert. Hinsichtlich der Zugänge zu Bahnhöfen hat sich in dem am 1. Juli 2024 in Kraft getretenen Regelwerk jedoch nichts geändert. Nach wie vor darf die Rampenneigung maximal 12 Prozent betragen, wie Michael Müller, Sprecher des Bundesamtes für Verkehr (BAV), auf Anfrage der NZZ erklärt.
Eine Anpassung der seit 2006 geltenden Vorschriften stand laut Müller nicht zur Debatte. Je flacher die Rampen würden, desto mehr Platz würden sie benötigen. «Das ginge zulasten der Bahnsteige, die in Spitzenzeiten ohnehin schon knapp bemessen sind. Aus Sicherheitsgründen ist das daher an vielen Stellen nicht machbar.» Müller betont, dass Steigungen von 12 Prozent auch im öffentlichen Raum vorkommen. Wer sich dort selbständig bewegen könne, könne dies auch in Bahnhöfen, sagt der BAV-Sprecher und beruft sich dabei auf einen entsprechenden Bundesratsbericht sowie einen Bundesgerichtsentscheid.
Inclusion Handicap hat sich in der Vernehmlassung ausdrücklich dafür ausgesprochen, dass neben der Einhaltung der technischen Normen auch geprüft wird, ob die Autonomie der Menschen mit Behinderung in der Praxis gewährleistet ist. «Diesbezüglich gab es im Revisionspaket leider keine Anpassungen», sagt Jonas Gerber, Mediensprecher des Behindertendachverbandes.
Neu hat das BAV Kriterien definiert, wann ein Lift anstelle einer Rampe oder sowohl eine Rampe als auch ein Lift gebaut werden muss. Es handelt sich dabei um generelle Anforderungen, im Einzelfall bleibt die Verantwortung bei den Bahnunternehmen, die einen Bahnhof umbauen lassen.
Das ist den Behindertenverbänden zu unkonkret. «Es wurde eine Chance verpasst, Klarheit über die Notwendigkeit von Rampen und Liften an Bahnhöfen zu schaffen», sagt Gerber. Zudem sei die Variante, die nur auf Lifte setze und auf Rampen verzichte, aus Sicht der Barrierefreiheit keine gute Lösung: «Wenn die Aufzüge einmal ausfallen, gibt es für Menschen mit eingeschränkter Mobilität keinen Zugang mehr.» Er verweist auf ein Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2021, wonach die selbständige Benützung des öffentlichen Verkehrs durch Menschen mit Behinderungen verfassungsmässig garantiert sei.
Sponsoren für Lift gefunden
Nehme man die Uno-Behindertenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Bundesgerichts ernst, seien – im Rahmen der Verhältnismässigkeit – immer Rampen und Lifte vorzusehen, um die Selbständigkeit möglichst vieler Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. «Aus dem gleichen Grund ist auch die Steigung von Rampen so gering wie möglich zu halten», fordert Gerber.
Der Fall Altdorf dürfte nicht der letzte gewesen sein, in dem man sich um Lifte und Rampen streitet. Im Kanton Uri zeichnet sich nun immerhin Licht am Horizont ab. Die Korporation Uri, gewissermassen die Bürgergemeinde von sechzehn Gemeinden, hat sich bereit erklärt, die bestehende Finanzierungslücke mit einem Beitrag von maximal 250 000 Franken zu schliessen. Voraussichtlich im Frühling wird der Landrat laut Volkswirtschaftsdirektor Camenzind nochmals über ein Kreditbegehren von ebenfalls 250 000 Franken entscheiden. Bis der Bahnhof Altdorf vollständig behindertengerecht ausgebaut ist, wird es also noch einige Zeit dauern.