Im Winter 2021 verwendete der damalige deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn diese Formulierung auf fast jeder Pressekonferenz. Dabei stellte das Robert-Koch-Institut schon früh fest, dass der Ausdruck falsch ist.
Es gab Zeiten, da wurden Menschen, die sich nicht gegen das Coronavirus hatten impfen lassen, als weniger intelligent wahrgenommen. Vorurteile gegen diese Menschen waren laut einer dänischen Studie verbreiteter als Vorurteile gegenüber Migranten. Die Impfdebatte ist während der Corona-Pandemie gerade in Deutschland polarisiert geführt worden, auch weil es ebenso Debatten über eine mögliche Impfpflicht gab. Der damalige deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn trug zur Polarisierung bei.
«Wir erleben gerade vor allem eine Pandemie der Ungeimpften – und die ist massiv», sagte Spahn am 3. November 2021. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagte am gleichen Tag dasselbe, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow wiederholte es zwei Tage später.
Auch Medien übernahmen die Formulierung. Die NZZ schrieb damals nicht direkt von einer Pandemie der Ungeimpften. Sie berichtete von einer seinerzeit noch nicht begutachteten Publikation, laut der die Pandemie in Deutschland vor allem durch Ungeimpfte angetrieben wird. Die Studienautoren kamen zu dem Schluss, dass drei Viertel aller Infektionen von Ungeimpften verursacht würden.
Whistleblower gab RKI-Protokolle weiter
Nun sorgt der Ausdruck «Pandemie der Ungeimpften» wieder für Aufregung. Denn er war offenbar haltlos.
Nach einem längeren Rechtsstreit hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) Ende März dieses Jahres die Protokolle des Corona-Krisenstabs herausgegeben. Das RKI veröffentlichte allerdings nur Protokolle für den Zeitraum von Januar 2020 bis April 2021 – und diese grossteils geschwärzt.
Karl Lauterbach, der im Dezember 2021 zu Spahns Nachfolger als Gesundheitsminister ernannt worden ist, teilte nach Kritik am Vorgehen des RKI mit, dass die Protokolle weitestgehend entschwärzt veröffentlicht würden. Das passierte dann auch. Die Protokolle seit Mitte 2021 aber fehlten weiter. Nun gab eine Person, die im betreffenden Zeitraum beim RKI gearbeitet hatte, als Whistleblower weiter.
Wir beenden das Drama um die Schwärzungen der #RKIProtokolle an dieser Stelle. Hier kommt der komplette Datensatz aller Sitzungsprotokolle des @rki_de-Krisenstabs, von 2020 bis 2023, ungeschwärzt, inklusive 10 GB Zusatzmaterial:https://t.co/EAhOHF4lSo
Ein/e Whistleblower/in,… pic.twitter.com/lledRjeyCM
— Aya Velázquez (@aya_velazquez) July 23, 2024
Eine dadurch bekanntgewordene Passage sorgt nun für Aufregung. Das RKI hat nämlich der Darstellung Spahns, Söders und Ramelows direkt widersprochen. Konkret geht es um den 5. November, einen Tag, an dem Deutschland laut Protokoll weltweit auf Platz 6 der Corona-Infektionen lag, «mit steigenden Fallzahlen».
66,9 Prozent der Deutschen waren laut den Angaben zu diesem Zeitpunkt vollständig geimpft. «Impfquote hat einen Effekt, erklärt aber nicht alles», heisst es im Protokoll. Und unter dem Punkt «Wissenschaftskommunikation» steht: «In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?» Diese Frage ist dann offenbar verneint worden.
In einem ergänzenden Unterpunkt des Protokolls heisst es, der Minister (also wohl Spahn) benutze die Formulierung bei jeder Pressekonferenz, «vermutlich bewusst», man könne die Verbreitung also «eher nicht» korrigieren.
Die Frage sei, heisst es im Protokoll, wie man die aktuelle Lage mit welcher Kommunikationsstrategie wieder in den Griff bekommen könne. Deshalb sollte die sogenannte AHA+L (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske und Lüften) in der Kommunikation auch an Geimpfte adressiert werden. Der Begriff «Pandemie der Ungeimpften» zog sich in der öffentlichen Wahrnehmung aber weiter durch Herbst und Winter 2021.
Ungeimpfte als Geiselnehmer und Tyrannen
Der «Spiegel» zum Beispiel schrieb: «Die Minderheit der freiwillig Ungeimpften nimmt die Mehrheit der Geimpften in Haftung, ja als Geisel.» Frank Ulrich Montgomery, damals Chef des Weltärztebundes, sprach von einer «Tyrannei der Ungeimpften». Karl Lauterbach wollte Mitte November schliesslich Ungeimpften nur noch den Zugang zu ihrem Arbeitsplatz, Lebensmittelgeschäften und Apotheken gewähren.
Dabei hatte das RKI längst festgestellt, dass es nie eine Pandemie der Ungeimpften gab. Im Protokoll lässt sich allerdings auch nachlesen, dass die Ansteckungsrate unter Ungeimpften laut RKI höher war und dass Menschen ohne Impfung schwerer erkranken.
Der deutsche Virologe Christian Drosten kritisierte den Ausdruck seinerzeit. Im Interview mit der «Zeit» im November 2021 sagte Drosten: «Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie.» Warum sich das Narrativ und die Vorurteile gegenüber Ungeimpften trotz der RKI-Feststellung und Drostens Aussagen hielten, gilt es noch aufzuarbeiten.







