Seit Jahrzehnten ist die hohe Geburtenrate eine Herausforderung für das bevölkerungsreichste arabische Land. Überall baut Ägyptens Präsident Abdelfatah al-Sisi daher neue Städte, sogar eine neue Hauptstadt. Nur ist die noch verwaist.
Auf den siebenspurigen Strassen fahren kaum Autos, vor den gleichartigen, wuchtigen Sandsteingebäuden der ägyptischen Ministerien huschen nur manchmal Anzugträger vorbei. Die einzigen Menschen hier scheinen Beamte, Putzkräfte und Sicherheitskräfte zu sein. Ägyptens neue Hauptstadt rund 60 Kilometer östlich von Kairo hat schon jetzt Rekorde gebrochen: Hier befindet sich Afrikas höchster Turm und die grösste Kathedrale des Nahen Ostens. Auch ein olympisches Dorf wurde errichtet – für den Fall, dass das Land am Nil die Spiele 2036 ausrichtet. Nur die Einwohner fehlen.
In einem Häuschen vor einem der vielen identischen Wohnblocks steht ein Wachmann mit blauer Jacke und Schnauz. Viel zu tun hat er nicht. «In jedem Haus hier befinden sich etwa 25 Wohnungen», sagt der Schnauzbartträger. «Drei oder vier davon sind vielleicht bewohnt.» Damit sei das eine der belebteren Gegenden in der neuen Hauptstadt. Bei den Anwohnern handle es sich um wichtige Personen, Richter etwa, verkündet er stolz.
Vor zehn Jahren haben die Bauarbeiten für das Megaprojekt in der Wüste begonnen. Damals kündigte Präsident Abdelfatah al-Sisi an, die neue Hauptstadt solle errichtet werden, um vor allem einem jahrzehntealten ägyptischen Problem Herr zu werden: der Überbevölkerung. Kairo ist mit seinen mehr als 20 Millionen Einwohnern eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Hier herrscht das Kontrastprogramm zur neuen Hauptstadt: Das Dröhnen aus Hupen, Motorbrummen und Geschrei reisst auf den verstopften Strassen nie ab. Weshalb wächst die ägyptische Bevölkerung unaufhörlich – und löst die neue Hauptstadt wirklich das Problem?
Das Bevölkerungswachstum ist ein altes Problem
Ägyptens autoritär herrschender Präsident Sisi hat die hohe Geburtenrate als Wurzel der tiefen Wirtschaftskrise ausgemacht, in der sich das bevölkerungsreichste arabische Land seit Jahren befindet. Im vergangenen Herbst mahnte Sisi, dass eine «Katastrophe» drohe, falls die Fortpflanzung in Ägypten nicht reguliert werde. Ägypten steht vor dem umgekehrten Problem vieler westlicher Gesellschaften: Statt einer Überalterung hat Ägypten eine junge, stetig wachsende Bevölkerung, für die es zu wenig Arbeitsplätze und Wohnraum gibt.
Mit seiner Diagnose habe Präsident Sisi nicht gänzlich unrecht, meint der ägyptische Bevölkerungsforscher Ayman Zohri. Für das Treffen hat sich der Mann mit dem ausrasierten grauen Bart ein griechisches Restaurant im Zentrum Kairos ausgesucht. Durch die geöffneten Fenster dringt der Strassenlärm, auf den Trottoirs quetschen sich die Menschenmengen. Ein neues Problem ist das Bevölkerungswachstum laut Zohri nicht. «Es gibt sogar Schriften aus dem Jahr 1936, die das Problem der Überbevölkerung in Ägypten behandeln», sagt er lächelnd.
Die ersten staatlichen Programme zur Familienplanung wurden in Ägypten in den 1960er Jahren unter Präsident Gamal Abdel Nasser ins Leben gerufen. «Die ganzen Programme haben ihre Ziele verfehlt», sagt Zohri. «Doch ohne sie wäre es noch schlimmer geworden, Ägypten hätte heute schätzungsweise 15 Millionen Einwohner mehr. Das wäre eine Katastrophe!»
Ägyptens urbane Revolution
Heute leben rund 107 Millionen Menschen in Ägypten. «Das liegt vor allem an der konservativen Einstellung der ägyptischen Gesellschaft», sagt Zohri. Der Einfluss radikaler islamischer Lehren aus Saudiarabien und anderen Golfstaaten nähre die hohen Geburtenraten. Rund 20 Prozent der ägyptischen Bevölkerung seien ehemalige Arbeitsmigranten, die am Golf gewesen seien und dort die Lehren konservativer Prediger aufgesogen hätten, meint der Forscher.
Zurzeit bekommt eine ägyptische Frau laut der staatlichen Statistikbehörde im Durchschnitt 2,85 Kinder. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, gäbe es 2050 rund 160 Millionen Ägypter. Der Demografieexperte Ayman Zohri geht davon aus, dass die Geburtenrate in Wirklichkeit sogar noch höher ist.
Die Gründe für die hohen Geburtenraten sind neben dem Einfluss des konservativen Islam vielfältig. Die Pensionen reichen nicht aus, um damit im Alter zu überleben. Eine hohe Kinderzahl ist eine bessere Altersvorsorge für die Ärmeren. Gleichzeitig gibt die Regierung zu wenig Geld für das Bildungs- und Gesundheitssystem aus, um vom hohen Bevölkerungswachstum zu profitieren. «Das führt dazu, dass die Kinder aus kinderreichen Bevölkerungsgruppen mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder viele Kinder haben werden», sagt Zohri.
Als alleinige Erklärung für die miserable Wirtschaftslage kann die Überbevölkerung gemäss dem Demografieforscher nicht herhalten. «Einfacher wird es allerdings auch nicht, wenn die Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre alt ist.» Für die Regierung ist es jedoch bequem, die anhaltend schlechten Wachstumsraten und die hohe Inflation auf die vielen Geburten zu schieben.
Und die wachsende Bevölkerung taugt auch als gute Begründung für die Bauprojekte, die unter Präsident Sisi überall aus dem Wüstensand schiessen. Rund vierzig neue Plansiedlungen wurden in den elf Jahren seiner Herrschaft im ganzen Land aus dem Boden gestampft. Die neue Hauptstadt ausserhalb von Kairo ist nur das bekannteste Beispiel einer urbanen Revolution, die unter Sisi neue Fahrt aufgenommen hat.
Die neue Hauptstadt als Schutz vor einer Revolution
Grundsätzlich leuchtet die Idee ein: 97 Prozent der ägyptischen Bevölkerung leben auf 4 Prozent der Fläche entlang des Nils. Die neuen Plansiedlungen sollen die verdreckten und überfüllten Städte entlasten. Doch bis jetzt wollen oder können nur wenige Ägypter in die neuen Städte ziehen. Neu-Kairo, das zwischen Kairos Zentrum und der neuen Hauptstadt liegt, fasst bis heute nur etwas mehr als 300 000 Einwohner, obwohl es einmal für fünf Millionen Menschen geplant war.
Laut dem britischen Stadtplaner Nicholas Simcik-Arese sind die neuen Städte denn auch nicht nur eine pragmatische Lösung für ein jahrzehntealtes ägyptisches Problem. «Die neuen Städte sind Teil eines nationalen Mythos», sagt der Wissenschafter von der School of Architecture in London. «Sisi braucht das Versprechen, der Wüste produktives Land abzutrotzen, um seine Herrschaft zu legitimieren.»
Gleichzeitig gehen die Bauaufträge für den Städtebau nahezu ausschliesslich an Unternehmen, die dem Militär gehören – und sichern so die Herrschaft des früheren Generals Sisi. Bis heute dominiert das Militär die ägyptische Wirtschaft. Laut dem Internationalen Währungsfonds ist die Rolle des Militärs in vielen Unternehmen einer der Gründe für die wirtschaftliche Stagnation in Ägypten.
Um das Problem des knappen Wohnraums in den bestehenden Städten zu lösen, sei die Instandsetzung von verlassenen Wohnungen eine bessere Lösung, meint Simcik-Arese. «In manchen Gegenden von Kairo gibt es einen Leerstand von bis zu 50 Prozent.» Die neuen Städte werden zudem vor allem für die obere Mittelschicht gebaut. «80 Prozent der Ägypter können sich keine Wohnung in Neu-Kairo oder der neuen Hauptstadt leisten.»
Ein anderer Grund für den Bau der neuen Hauptstadt mag ein politischer sein, meint Simcik-Arese: Die Ministerien, das Parlament und der Präsidentenpalast befinden sich jetzt weit entfernt vom Tahrir-Platz, wo die Massen einst Sisis Amtsvorgänger Hosni Mubarak während des Arabischen Frühlings aus dem Amt gejagt hatten. «Das Zentrum Kairos wird von der politischen Führung als Gefahr gesehen.» Die neue Hauptstadt mit den immergleichen Gebäuden, breiten Strassen und Palmenalleen könnte dahingegen nicht steriler und «ungefährlicher» sein.
Vor den vielen, nahezu identischen Ministerien in Sisis neuer Hauptstadt erstrecken sich riesige Parkplätze, die zur Mittagszeit mit Hunderten blau-weissen Bussen gefüllt sind. In wenigen Stunden werden sie die Beamten aus den Regierungsgebäuden wieder zurückfahren – 60 Kilometer nach Westen ins verstopfte Kairo.
Im Dezember enthüllte Sisi den neuen «Palast der Republik», durch dessen lange Marmorflure Ägyptens Herrscher nur von Fernsehkameras begleitet schritt. Bis jetzt bleiben Sisis neue Städte geisterhaft. Doch immerhin sitzt der Präsident jetzt weit entfernt von der zahlreichen und jungen Bevölkerung, deren Frust wegen der Wirtschaftskrise stetig wächst.