Fachleute hatten vor den Ermüdungsschwächen der Karbonkonstruktion gewarnt, ein Computermodell scheint dies zu bestätigen. Wusste der Ocean-Gate-Chef schon vor der Tauchfahrt von dem Problem?
Der Gründer des Tauchbootunternehmens Ocean Gate, Stockton Rush, war im Juni 2023 gemeinsam mit vier zahlenden Kunden auf der Tauchfahrt in grosser Meerestiefe ums Leben gekommen. Die fünf Abenteurer waren unterwegs zum Wrack der «Titanic», die seit 1912 vor der Küste Neufundlands in 3824 Metern Tiefe auf dem Meeresgrund liegt. Aufgrund der später gefundenen Wrackteile und menschlichen Überreste schlossen Experten auf eine Implosion der «Titan» unter dem enormen Wasserdruck in mehr als 3500 Metern Tiefe.
Wie ein Ingenieur der Universität Houston herausgefunden hat, könnte die Implosion des Tauchboots «Titan» im vergangenen Jahr auf kleinste, unter enormem Druck entstehende Fissuren in der Kohlefaserstruktur (sogenanntes «micro-buckling») des Bootsrumpfes zurückzuführen sein.
Bereits Jahre zuvor hatten Fachleute vor der neuartigen Konstruktion des «Titan»-Rumpfes unter Verwendung von Karbongewebe gewarnt. Sie gaben an, dass der Einsatz des vergleichsweise günstigen Baustoffs bei wiederholter Verwendung kleinste Schäden erleiden könne.
Karbon wird als Baustoff in der Regel in Form von feinen Fasern verwendet, die in Strängen zusammengefasst und anschliessend mit anderen Strängen verwoben werden. Um die verschiedenen Fasern bleibend miteinander zu verbinden, wird meist Kunstharz verwendet. Für höchste Festigkeit werden solche mit dem Harz getränkte Fasermatten in mehreren Lagen in Formen eingelegt und unter Vakuum und Hitze gebacken. Dadurch sollen kleine geometrische Unregelmässigkeiten und Lufteinschlüsse beim Verweben der Stränge und beim Einlegen in Formen eliminiert werden.
Materialschwächen sollen vorhersehbarer werden
Nun melden sich Ingenieure der Universitäten Houston und Minnesota zu Wort. Sie gehen zwar nicht näher auf die Implosion der «Titan» ein, wollen aber dazu beitragen, dass sich das Versagen von Kohlefaserstrukturen besser vorhersagen lässt.
Einer der Autoren, Roberto Ballarini, Professor für Bauingenieurwesen an der Universität Houston, äussert sich nun in einem Artikel der Uni-Website etwas detaillierter zum Versagen der Rumpfstruktur bei der «Titan». Der Zusammenbruch der Karbonhülle sei ein anschauliches Beispiel dafür, was bei der Verwendung von Kohlefasergewebe schiefgehen könne.
Ballarini sagt: «Das für den ‹Titan›-Rumpf verwendete Material war ein Kohlefaserverbundstoff. Dieser ist dafür bekannt, dass die Fasern unter Druck zu ‹micro-buckling› neigen können.» Er geht davon aus, dass die Steifigkeit und Stabilität des Rumpfs unter dem enormen Wasserdruck nachgelassen habe, der bei den Tauchfahrten entsteht. «Im Zusammenwirken mit den unvermeidlichen geometrischen Unvollkommenheiten, die bei der Herstellung entstehen, könnte die Implosion verursacht worden sein.»
Die Ergebnisse der Untersuchung wurden im April 2024 in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift «Proceedings of the National Academy of Sciences» («PNAS») veröffentlicht, die von der amerikanischen Wissenschaftsakademie herausgegeben wird. Um das Versagen von Verbundstoffstrukturen besser vorhersagen zu können, hatten die Ingenieure ein Computermodell entwickelt. Es erlaubt die exakte Berechnung von Faserbrüchen unter hohem Druck.
In rund 3,5 Kilometern Meerestiefe herrscht ein Wasserdruck, der mit gut 380 bar auf Tauchboote einwirkt. Das wären umgerechnet auf jedem Quadratzentimeter rund 3,9 Tonnen Gewicht. Um solch enormem Druck standzuhalten, sind die meisten Tiefseetauchboote aus hochfesten Materialien wie Titan gebaut. Dass Stockton Rush mit seiner Firma Ocean Gate ausgerechnet beim Rumpf der «Titan» das deutlich günstigere und schwächere Karbon verwendete, sorgte bereits im Vorfeld in Fachkreisen für Stirnrunzeln. Zur Verstärkung der Struktur verwendete die Firma immerhin an den Enden der Bootskonstruktion Kappen aus Titan.
Wie viel wusste Stockton Rush im Voraus?
Vor seiner fatalen letzten Tauchfahrt in der «Titan» hatte Rush offen zugegeben, dass er mit der Verwendung von Kohlefasermaterial «ein paar Regeln gebrochen» habe. Er betonte jedoch, dass der praktische Einsatz seine Entscheidung für Karbon nachträglich rechtfertige. Schliesslich ermögliche erst der Einsatz des im Vergleich zum Metall Titan günstigeren Verbundstoffs mit seinen besseren Auftriebseigenschaften, kommerzielle Tiefseetauchfahrten mit Aussicht auf Gewinn durchzuführen.
Rush galt bereits seit Jahren als Hasardeur, der sich nicht scheute, sein Leben und das anderer Personen aufs Spiel zu setzen. In einem Interview mit dem TV-Sender CBS sagte er: «Wissen Sie, es gibt immer ein Limit. Irgendwann ist Sicherheit reine Zeitverschwendung. Wenn du immer auf Nummer sicher gehen willst, dann bleib einfach im Bett.»
Bedenken zu der Konstruktion der «Titan» hatte zuvor auch der U-Boot-Konstrukteur John Ramsay geäussert, der bei Ocean Gate als Chef der Meereseinsätze fungiert und das Ocean-Gate-Tauchboot «Triton» gebaut hatte. Gegenüber dem Magazin «New Yorker» sprach Ramsay von seinen Befürchtungen beim Einsatz der «Titan». Kleinere Strukturfehler im Rumpf könnten sich unter dem ständig wechselnden Wasserdruck zu grösseren tropfenförmigen Schäden ausweiten, die schliesslich ein plötzliches Einbrechen der Karbonwände zur Folge haben könnten.
Ramsay betonte dabei, dass Kohlefasern von Natur aus schwer unter Druckbelastung getestet werden könnten. Dadurch sei kaum zu berechnen, unter welchem Druck das Fasergewebe einbreche. Jede Tauchfahrt mit der «Titan» berge daher ein unbekanntes Risiko.
Diese Gefahren einzugrenzen und auszuschliessen, dazu soll das Computermodell der Universitäten von Houston und Minnesota dienen. Wie es im Bericht der Fachzeitschrift «PNAS» heisst, muss die Simulation zum Einsatz kommen, weil es beim realen Einsatz von Karbon als hochfestes Material noch zu wenige Erkenntnisse gibt. «Das komplexe Zusammenspiel des Materials unter mechanischem Druck ist noch nicht genügend erforscht, wie die durch Materialbruch verursachten Katastrophen bis heute deutlich machen», heisst es im Bericht.
Die Kosteneinsparungen, die durch das Verwenden von Kohlefaser statt des Metalls Titan erzielt wurden, haben zwar Stockton Rushs mehrfach öffentlich geäusserten Traum von kommerziell erfolgreichen Tauchfahrten zum Wrack der «Titanic» möglich gemacht. Doch überlebt haben weder die fünf Teilnehmer der letzten «Titan»-Tauchfahrt noch die Firma Ocean Gate. Sie hat alle geplanten Einsätze abgesagt und ist als Unternehmen in der Folge selbst untergegangen.