Seit dreissig Jahren nehmen Kinder den Wirkstoff Methylphenidat, wenn sie sich schlecht konzentrieren können. Und die Erfahrung zeigt: Sie finden dadurch sogar leichter Freunde.
Der Sohn einer Freundin, nennen wir ihn Philipp, konnte als Kind nicht stillsitzen. Voller Unternehmungslust heckte er beständig Streiche aus und war bei seinen Altersgenossen entsprechend beliebt. Seine Impulsivität kam freilich nicht überall gut an.
Fast jede Woche beschwerte sich jemand über ihn. Anrufe aus der Schule waren für meine Freundin daher ein besonderer Stresstest. Wenn die Nummer des Klassenlehrers auf ihrem Handydisplay aufleuchtete, stiegen bei ihr Puls und Blutdruck.
Eine geringe bis mässig ausgeprägte Hyperaktivität
Philipp konnte sich nur wenige Minuten auf etwas konzentrieren und begann dann den Unterricht zu stören. Oder aber er beteiligte sich so rege daran, dass kein anderer mehr zu Wort kam.
Im Alter von neun oder zehn Jahren attestierte ein Kinderpsychologe Philipp schliesslich eine gering bis mässig ausgeprägte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) und verschrieb ihm Methylphenidat, bekannt unter dem Namen Ritalin.
Das Medikament hat Philipp allerdings nie bekommen. Meine Freundin sagte, ihr sei unwohl gewesen bei dem Gedanken, in den Gehirnstoffwechsel ihres Kindes einzugreifen. Schliesslich war damals noch weitgehend unklar, ob eine längere Behandlung mit Methylphenidat Heranwachsenden in irgendeiner Weise schaden könnte.
Laut neuen Erkenntnissen ist Methylphenidat unbedenklich
Gemäss neuen Erkenntnissen scheint eine solche Therapie zumindest mittelfristig keine Gefahren zu bergen. Das Fachjournal «Lancet Psychiatry» publizierte kürzlich eine grosse europäische Studie, an der auch Kliniken in der Schweiz und in Deutschland mitgewirkt hatten. Die Autoren des Projekts hatten darin die Gesundheit und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS zwei Jahre lang beobachtet und sie mit Gleichaltrigen ohne diese Entwicklungsstörung verglichen.
Die Forscher fanden keine Hinweise, dass sich Methylphenidat ungünstig auf das Wachstum, die Psyche oder auch das Nervensystem der 756 Mädchen und Jungen, die mit dem Medikament behandelt worden waren, auswirkte. Allerdings hatten die Kinder einen geringfügig höheren Blutdruck und Puls – eine Nebenwirkung des Medikaments, die auch bei Erwachsenen beobachtet wird.
Von Gleichaltrigen besser akzeptiert
Kein Zweifel besteht daran, dass der Wirkstoff die Symptome des «Zappelphilipp-Syndroms» lindert. Dadurch können die Betroffenen leichter lernen, auch werden sie von Gleichaltrigen und Lehrpersonen merklich besser akzeptiert. Zudem gibt es Studien, die zeigen, dass die Jugendlichen seltener in Verkehrsunfälle verwickelt sind und weniger mit dem Gesetz in Konflikt kommen.
Hätte sich meine Freundin anders entschieden, wenn sie dies früher gewusst hätte? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Denn zwei aussergewöhnlichen Pädagogen gelang es, ihren Sohn auch ohne Medizin zu besänftigen.
Ein Klassenlehrer der Grundschule erkannte in der Zappeligkeit von Philipp einen ungebändigten Bewegungsdrang. Jedes Mal, wenn die disruptive Energie des Buben auszuufern drohte, liess er ihn zweimal um den Schulhof rennen – ein Rezept, das erstaunlich gut funktionierte.
Auch im Gymnasium gab es einen Lehrer, der Philipp bändigen konnte – offenbar, weil es ihm gelang, Philipp für den Unterricht zu begeistern und störende Zwischenrufe humorvoll zu parieren.
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