Damit sie die Abkommen unterstützen, fordern die Gewerkschaften Konzessionen im Inland. Der Bundesrat ist in der Zwickmühle, allen voran der Wirtschaftsminister Guy Parmelin.
Wer will eigentlich diese neuen Verträge mit der EU? Man könnte fast meinen, der Bundesrat habe vergangenes Jahr aus purer Freude lange und harte Verhandlungen über ein Paket geführt, das in der Schweiz kaum jemand wirklich will. Das Lager jener, die das Projekt klar und entschlossen unterstützen, ist bisher sehr überschaubar. Unlängst sah sich die Bundespräsidentin höchstselbst zu einer Klarstellung veranlasst, via «Tages-Anzeiger» hat Karin Keller-Sutter kundgetan: «Wir machen das für die Schweizer Wirtschaft.» Für sie wolle der Bundesrat den Marktzugang sichern.
Bald wird man sehen, wie wichtig die neuen Verträge der Wirtschaft wirklich sind. Nachdem die aussenpolitischen Gespräche mit der EU Ende 2024 beendet worden sind, beginnt nun die heisse Phase der innenpolitischen Verhandlungen. Im Auftrag des Bundesrats sollen sich Gewerkschaften und Arbeitgeber im Februar auf gemeinsame Vorschläge zum Thema Lohnschutz verständigen. Ihre Gespräche haben eine technische und eine politische Ebene.
Technisch geht es um Massnahmen im Arbeitsmarkt, mit denen die Schweiz den Lohnschutz auf heutigem Niveau sicherstellen kann, nachdem sie der EU bei diesem Thema Konzessionen machen musste. Politisch geht es um die Mehrheitsfähigkeit des gesamten Pakets in der abschliessenden Volksabstimmung – und hier sitzen die Gewerkschaften mutmasslich am längeren Hebel. Ohne geeinte Unterstützung des linken Lagers werden die neuen Abkommen wohl chancenlos sein, zumal sie von rechts, vor allem von der SVP, ohnehin scharf bekämpft werden.
Seco-Chefin zu Besuch
Die grosse Frage ist also: Ist das EU-Paket der Wirtschaft so wichtig, dass sie bereit ist, die Forderungen der Gewerkschaften ganz oder teilweise zu erfüllen? Und falls nicht: Wird die Linke das Paket dann tatsächlich bekämpfen? Die Antworten stehen noch aus, aber seit Freitag ist zumindest klar, welchen Preis die Gewerkschaften verlangen.
In einer konzertierten Aktion haben der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und Travailsuisse ihre Positionen für die anstehenden Gespräche festgelegt. Im grossen Ganzen war die Stimmungslage an der Delegiertenversammlung des SGB entspannter als auch schon. Hatte der SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard früher gelegentlich den Eindruck hinterlassen, dass er die neuen Abkommen am liebsten abschiessen möchte, trat er am Freitag konzilianter auf.
Als Zeichen des besseren Einvernehmens mit dem Bund darf auch gelesen werden, dass die Chefin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), Helene Budliger Artieda, als Gast an den Treffen der Gewerkschafter teilgenommen hat. In der Sache aber blieb der SGB-Präsident Maillard hart: Wenn die Resultate für die Angestellten schlecht seien, werde man die Verträge bekämpfen.
Die Gewerkschaften ziehen ein eindeutig negatives Fazit: Ohne Gegenmassnahmen werde das geplante Paket den Lohnschutz untergraben und den Marktzugang für zwielichtige Firmen vereinfachen. SGB und Travailsuisse präsentieren eine lange Liste von Forderungen, doch nicht alle Punkte sind umstritten.
Weder Kinderzulagen noch Kündigungsschutz
Einige der spektakulärsten Wünsche, die in den vergangenen Monaten die Runde gemacht haben, sind kein Thema mehr. Weder verlangen die Gewerkschaften einen nationalen Mindestlohn noch einen generellen Ausbau des Kündigungsschutzes, auch eine Erhöhung der Kinderzulagen figuriert nicht auf dem Forderungskatalog.
Mit schwierigen Gesprächen ist trotzdem zu rechnen, vor allem beim Thema Gesamtarbeitsverträge (GAV). Die Gewerkschaften verlangen, dass GAV leichter allgemeinverbindlich erklärt werden können. Für die Wirtschaft ist dies ein Reizthema, weil damit die in den GAV definierten Löhne oder Arbeitszeiten für alle Firmen einer Branche gelten – auch für jene, die den GAV ablehnen. Arbeitgeber sehen darin eine Bedrohung des liberalen Arbeitsmarkts, Gewerkschafter hingegen einen besseren Schutz gegen Lohndumping.
Im Fokus der Gewerkschaften ist das «Arbeitgeberquorum»: Heute muss zwingend die Hälfte der Unternehmen einer Branche hinter einem GAV stehen, damit der Bund ihn als obligatorisch erklären kann. Davon wollen die Gewerkschaften abrücken. Die Arbeitgeber lehnen das ab, zumal es in den Branchen, in denen viele Firmen aus der EU tätig sind, bereits heute allgemeinverbindliche GAV gebe.
Allerdings ist der Widerstand nicht ganz so kategorisch, wie es lange schien: Die Arbeitgeber sind bei dieser Frage teilweise kompromissbereit, wenn es darum geht, bestehende GAV beizubehalten, die bereits allgemeinverbindlich sind. Hier kann es Probleme geben, wenn in einer Branche die Zahl kleiner Firmen so stark zunimmt, dass das Quorum nicht mehr erfüllt ist.
Obergrenze für Temporärarbeit
Ein anderes Streitthema betrifft die Temporärarbeit. Der SGB verlangt in diesem Bereich nicht nur bessere Anstellungsbedingungen wie einen höheren Kündigungsschutz, sondern auch eine Beschränkung der temporär Angestellten pro Firma. Auch davon wollen die Arbeitgeber nichts wissen, aus ihrer Sicht hat dieses Thema nichts mit den neuen Verträgen mit der EU zu tun. Travailsuisse hat diese Forderung nicht aufgenommen.
Und noch ein drittes Konfliktthema ist in Sicht: Der SGB verlangt zwar nicht einen generellen Ausbau des Kündigungsschutzes, aber einen gezielten zugunsten von Gewerkschaftern und anderen Personalvertretern. Dies ist schon seit vielen Jahren ein Thema, auch der Bundesrat wollte bereits eine solche Reform aufgleisen, was bisher aber nicht gelungen ist.
Bei anderen Forderungen der Gewerkschaften sollte eine Einigung mit den Arbeitgebern gelingen. Die Palette reicht von Verbesserungen am System der Lohnkontrollen über einen Zahlungsstopp bei Missbräuchen bis zu einem Ausbau der Haftung bei Verstössen durch Subunternehmen.
Einig ist man sich auch, dass die umstrittene Spesenregelung der EU in der Schweiz nicht umgesetzt und schon gar nicht angewandt werden soll. Die Gewerkschaften verlangen hier «wasserdichte Garantien». Der SGB seinerseits fordert beim Thema Spesen sogar Nachverhandlungen mit der EU, was jedoch offensichtlich unrealistisch ist. Noch in anderen Punkten zeigen sich Differenzen zwischen den zwei Dachverbänden. So spricht sich der SGB vehement gegen das geplante Stromabkommen mit der EU aus, was für Travailsuisse kein Thema ist.
Parmelin muss entscheiden
Geht es nach dem Bundesrat, sollen die Verhandlungen der Sozialpartner bereits Ende Februar beendet sein. Danach ist der Bundesrat selbst am Zug. Er muss entscheiden, ob die vereinbarten Massnahmen genügen oder ob er in eigener Kompetenz weitere Elemente in das Paket integrieren will.
Potenziell ungemütlich ist die Sache für den zuständigen Wirtschaftsminister, den SVP-Bundesrat Guy Parmelin. Wenn er eine tragfähige Lösung aufgleist, wie es seine Aufgabe ist, erhöht er die Wahrscheinlichkeit, dass die neuen Abkommen, die seine Partei bis zum Äussersten bekämpft, angenommen werden.
Voraussichtlich im Juni will der Bundesrat das ganze Paket in die Vernehmlassung schicken. Über den genauen Umfang der Massnahmen beim Lohnschutz wird das Parlament entscheiden. Erst dann wird sich zeigen, wie wichtig sichere bilaterale Beziehungen mit der EU nicht nur der Wirtschaft sind, sondern auch den Gewerkschaften.