Der Rückzug von Schwab soll laut dem «Wall Street Journal» von einem anonymen Brief an den Stiftungsrat beschleunigt worden sein. Darin würden ihm und seiner Ehefrau schwere Vorhaltungen gemacht.
Vor einem Jahr hörte sich das alles noch anders an: Klaus Schwab wollte seinen Posten beim World Economic Forum (WEF) erst dann aufgeben, wenn eine geeignete Person zur Verfügung stehe. Nun ist der 87-jährige Gründer der Organisation jedoch über Ostern per sofort zurückgetreten, ohne dass ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin angekündigt wurde.
Zudem liess Schwab verlauten, der Gründer solle nicht seine eigene Nachfolge bestimmen. Dies solle der Stiftungsrat in einem sauberen Prozess machen. Zum Interimspräsidenten wurde der ehemalige Nestlé-Chef Peter Brabeck ernannt.
Neue Vorwürfe gegen Schwab
Das Image der Organisation hat in jüngster Zeit Kratzer bekommen, nachdem ehemalige Mitarbeitende vor einigen Monaten Diskriminierungsvorwürfe gegen das WEF und Schwab selbst erhoben hatten. Er bezeichnete diese wiederholt als haltlos. Doch nun tauchen neue Vorwürfe gegen den WEF-Gründer auf.
Das «Wall Street Journal» hat am Dienstagabend berichtet, dass der abrupte Abgang von Schwab auf neue Vorhaltungen gegen den Gründer zurückzuführen ist. Das Gremium soll vergangene Woche einen anonymen Brief von Whistleblowern erhalten und deshalb am Sonntag eine Untersuchung eingeleitet haben.
Der Stiftungsrat bestätigte gegenüber der Zeitung die Eröffnung einer Untersuchung: «Diese Entscheidung wurde nach Rücksprache mit externen Rechtsberatern und im Einklang mit der treuhänderischen Verantwortung des Forums getroffen», hiess es im Statement.
Das WEF erklärte weiter, dass es die neuen Anschuldigungen zwar ernst nehme, aber dass sie nicht bewiesen seien, und dass man das Ergebnis der Untersuchung abwarten werde, bevor man sich weiter zur Angelegenheit äussere. Eine Anfrage der NZZ an das Forum blieb am Mittwoch vorerst unbeantwortet.
Im nun aufgetauchten Whistleblower-Brief wird Schwab und seiner Frau laut «Journal» vorgeworfen, Mittel des Forums für persönliche Zwecke verwendet zu haben.
Dem «Wall Street Journal» teilten die Schwabs über einen Sprecher mit, dass man sämtliche im Brief geäusserten Vorwürfe bestreite. Klaus Schwab wolle gegen die Autoren des Briefs juristisch ebenso vorgehen wie gegen die Verbreitung der seiner Aussage nach falschen Vorwürfe.
Nestlé und Schwabs Theorien
Die Ausgangslage für den Übergangspräsidenten Brabeck ist vor dem Hintergrund der neuen Vorwürfe noch anspruchsvoller geworden.
Der ehemalige Nestlé-Lenker ist seit 1998 beim WEF engagiert, seit 2014 als Vizepräsident. Er kennt die Organisation länger als viele WEF-Mitarbeiter. Die Bühne am Jahrestreffen in Davos hat der Chef des weltgrössten Nahrungsmittelkonzerns regelmässig genutzt, um Themen zu lancieren – etwa um auf die schwindenden Wasservorräte hinzuweisen («Es gibt kein Menschenrecht auf Wasser für den Swimmingpool»).
Brabeck hat sich zudem in seiner Nestlé-Zeit auf die von Klaus Schwab propagierten Theorien abgestützt, wonach ein Unternehmen Werte nicht nur für die Aktionäre generieren soll, sondern auch für andere «Stakeholder» wie etwa die Mitarbeiter, Lieferanten oder die Umwelt. So war bei dem Lebensmittelkonzern oft vom Konzept der «gemeinsamen Wertschöpfung» die Rede.
Brabeck hat sich also mit dem Gedankengut Schwabs identifiziert. Er gilt aber auch als jemand, der sich für einen Umbau der WEF-Organisation und ein ordnungsgemässes Verfahren eingesetzt hat, um einen Nachfolger für Schwab zu finden. Zusammen mit Schwab hat er eine Reorganisation angestossen.
Denn das WEF muss auch ohne den lange quasi allmächtigen Gründer bestehen können. Deshalb wurden im Zuge der Reorganisation Kompetenzen vom Stiftungsratspräsidenten Schwab zum Geschäftsführer des WEF verschoben. Gegenwärtig ist das der ehemalige norwegische Wirtschaftsminister Börge Brende.
Wer kann Schwab ersetzen?
Doch für die Schwab-Nachfolge müssen Brabeck und die Findungskommission trotzdem eine Figur finden, die international bekannt und vernetzt ist. Am besten jemanden wie Schwab, der auch einen persönlichen Draht zu Staatschefs und hohen Politikern hat.
Das träfe zumindest ein Stück weit auf Brabeck selber zu. Zumal er seit seinem Rücktritt bei Nestlé im Jahr 2017 noch in verschiedenen Gremien tätig war und ist – etwa als Präsident von Gesda, einer Stiftung, die sich für Genf als Standort für internationale Organisationen einsetzt und Trends in der Wissenschaft analysiert. Doch der 80-jährige Österreicher kommt aufgrund seines Alters kaum infrage.
Regelmässig als Nachfolgerin gehandelt wird Christine Lagarde, die heute schon im Stiftungsrat sitzt. Ihr Mandat als EZB-Präsidentin läuft allerdings noch bis 2027. Da müsste Brabeck sein Interregnum noch eine Weile wahrnehmen.
Möglicherweise ist es für die Suche nach einer neuen WEF-Spitze einfacher, wenn der Übervater Schwab nicht mehr im Hintergrund präsent ist – und wenn der oder die Neue nicht als vom Gründer auserwählt gilt.
Schon jetzt ist klar: Schwabs Kinder werden ihn nicht ablösen. Dass sein Nachwuchs bei seiner Nachfolge eine Rolle spielen könnte, hat Schwab schon früher ausgeschlossen. Während die Tochter Nicole bereits nicht mehr für das WEF arbeitet, wird auch der Sohn Olivier aus dem Unternehmen ausscheiden. Er leitete einst das WEF in China und sitzt momentan noch in der Geschäftsleitung.
Aufarbeiten der Vorwürfe
Was die Klage einer ehemaligen Angestellten wegen Diskriminierung anbelangt, so hat sich diese Angelegenheit erledigt, wie es beim WEF auf Anfrage heisst. Laut der «Financial Times» hat sich das WEF mit der Klägerin aussergerichtlich mit einem Vergleich geeinigt.
Noch nicht abgeschlossen sind jedoch die internen Veränderungen beim WEF, welche sich die Organisation im Zuge der Affäre selber auferlegt hat. Diese sind die Folge einer Untersuchung, die der Stiftungsrat bei einer amerikanischen und einer Schweizer Kanzlei in Auftrag gegeben hatte. So wolle man die «festgestellten Führungs- und Managementprobleme» angehen, heisst es seitens des WEF. Dazu zählten Schulungen zur Firmenkultur und zum Verhalten für alle Mitarbeiter, aber auch eine Überprüfung der Aufgabenbereiche und der Rollen der Geschäftsleitungsmitglieder.
Somit wird dem Interimspräsidenten die Arbeit auch neben der Suche nach einem Schwab-Nachfolger so rasch nicht ausgehen.
Peter Brabeck wollte sich auf Anfrage der NZZ nicht zu seiner neuen Aufgabe äussern.