Er ist verbindlich, loyal und ohne Skandale: Christian Dürr übernimmt die deutschen Liberalen in ihrer schwersten Krise. Doch der neue Parteichef bleibt vage – und muss erst noch beweisen, dass er mehr ist als ein Mann für den Übergang.
Ein kühler Märzmorgen in Berlin. Christian Dürr tritt vor die Mikrofone, um den bislang wichtigsten Schritt seiner politischen Laufbahn anzukündigen. Die Strähnen des FDP-Politikers sind streng nach hinten gegelt, der dunkelblaue Anzug sitzt locker, die Ärmel werfen feine Falten. Dürr will Parteichef werden, will die deutschen Liberalen aus ihrer Krise führen. Seine Kandidatur ist mehr als ein innerparteiliches Ritual – sie soll einen Aufbruch markieren.
Doch kaum ist die erste Frage gestellt, gerät Dürr, zu diesem Zeitpunkt noch Fraktionschef der Liberalen im Deutschen Bundestag, ins Stolpern. Was ihn vom amtierenden Parteichef Christian Lindner unterscheide, fragt ein Journalist. Dürr lächelt, sucht nach Worten – und antwortet schliesslich: «Der Nachname.»
Ein launiger Scherz. Doch er wirkt wie ein unbeabsichtigter Kommentar zum Zustand der FDP: eine Partei auf der Suche nach einem neuen Gesicht, nach neuer Richtung – und am Ende vielleicht doch wieder nur ein anderer Name an derselben Tür.
Lob vom Vorgänger
Acht Wochen sind seit dieser Szene vergangen. Dass mit dem 48-Jährigen ein echter Neuanfang gelingen kann, davon sind in der Partei noch nicht alle überzeugt. Vielleicht auch deshalb nicht, weil Lindner selbst den Kandidaten aus Niedersachsen offen unterstützt.
Dürr bringe alles mit, «was es zur Führung der Partei braucht», sagte Lindner beim Parteitag am Wochenende. Er habe die Bundestagsfraktion in der vergangenen Wahlperiode «loyal» und «eigenständig» geführt.
Tatsächlich brachte sich Dürr nicht selbst ins Spiel. Die Initiative kam aus den Landesverbänden. Nach dem Wahl-Desaster im Februar – mit einem Stimmenanteil von 4,3 Prozent verpasste die FDP den Einzug ins nationale Parlament – und nach Lindners Rückzug vom Parteivorsitz einigten sich führende Vertreter in kleiner Runde Mitte März auf Dürr als gemeinsamen Kandidaten.
Ein Mann für den Übergang
Ein ranghoher FDP-Landespolitiker, der anonym bleiben will, wundert sich über diesen Prozess. Dürr sei als früherer Fraktionschef tief in die gescheiterte Koalition mit der SPD und den Grünen verstrickt gewesen. Warum Lindner für das Wahldebakel die Verantwortung trug – und sein treuer Vollstrecker Dürr nicht –, erschliesse sich ihm bis heute nicht.
Hinzu kommt: Die Nominierung war auch das Ergebnis mangelnder Alternativen. Der Parteivizepräsident Wolfgang Kubicki war mit 73 Jahren zu alt. Die Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann war wiederum vielen zu schrill und zu laut. Andere prominente Liberale zogen sich zurück oder wollten sich den Wiederaufbau der Partei nicht antun. Am Ende blieb nur einer übrig, der beruflich nie etwas anderes gemacht hat als Politik: Christian Dürr.
Öffentlich äussert kaum jemand Kritik an seiner Wahl. Doch hinter vorgehaltener Hand sagen selbst Unterstützer: Dürr sei bestenfalls ein Mann für den Übergang.
Kein Bindestrich-Liberaler
Christian Dürr ist kein Mann der grossen Gesten. Sein Bewerbungsauftritt auf dem Parteitag ist solide, sympathisch – und blass. Keine scharfen Angriffe auf die Konkurrenz, kein dramatischer Weckruf an die Partei. Stattdessen eine Rede, die wie eine freundliche Einladung zum Gespräch klingt.
Auch beim innerparteilichen Konflikt zwischen der eher wirtschaftsliberalen, konservativen Basis und dem nach wie vor dominanten sozialliberalen Flügel an der Spitze, der auf eine jüngere, progressive Wählerschaft zielt, bleibt er vage. «Wir sind keine Bindestrich-Liberalen», sagt er nur.
Und zitiert dann Theodor Heuss, den ersten deutschen Bundespräsidenten und grossen Politiker aus der Gründungszeit der FDP: Der Liberalismus lebe vom Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Das, so Dürr, sei «unsere Stärke, nicht unsere Schwäche».
So tickt er, der neue Mann an der FDP-Spitze: nicht so spitz wie Lindner, nicht so polemisch wie Kubicki – vielmehr moderat, vermittelnd, konsensorientiert.
Und ja: auch ein klitzekleines bisschen langweilig. Tatsächlich ist sein Lebenslauf makellos. Austauschjahr in Arizona, ein Diplom in Ökonomie an der Leibniz-Universität Hannover, mit 21 im niedersächsischen Landtag, später Fraktionschef in Berlin. Privat lebt er mit Frau und Kindern in der norddeutschen Kleinstadt Ganderkesee, ist Werder-Bremen-Fan – und soll im Schulchor engagiert gewesen sein, wie sein Musiklehrer berichtet. Kann so jemand den Überlebenskampf der FDP führen?
Verwalter, nicht Visionär
Unter den FDP-Delegierten jedenfalls gibt es noch Zweifler. Als Dürr auf dem Parteitag mit 82 Prozent zum Vorsitzenden gewählt wird, ist das zwar ein solides Ergebnis – ein Triumph aber ist es nicht. In seiner Rede gibt er sich entschlossen, doch viele Delegierte bleiben skeptisch. Denn bei zentralen Fragen wird Dürr nicht konkret.
Zwar kündigt er ein neues Grundsatzprogramm mit dem Titel «Freiheit konkret» an. Es soll den Liberalismus an den Alltag anschliessen. Doch wie, das lässt er offen. Dürr will zudem die FDP zur «modernsten Partei Deutschlands» machen – inhaltlich und organisatorisch. Das klingt nach Change-Management, nicht nach Attacke.
Schon klar, mit Dürr habe man keinen liberalen Visionär, keinen leidenschaftlichen Überzeugungstäter an die Spitze gewählt. Das sagt ein langjähriges Mitglied der Fraktionsführung. Aber möglicherweise sei Dürr gerade deshalb nun auch genau der richtige Mann für die Liberalen, die noch traumatisiert vom Rauswurf aus dem Parlament seien. Möglicherweise.
In Lindners Schatten
Und dann ist da noch die Nähe zu seinem Vorgänger. Elf Jahre lang hat Christian Lindner die Liberalen geprägt wie kein anderer. Er war ihr Lautsprecher, ihr Stratege, ihr Gesicht – und letztlich auch derjenige, der ihr Ausscheiden aus dem Bundestag zu verantworten hat. Dass er nun ausgerechnet von Dürr abgelöst wird, der ihm nie widersprochen, sich nie öffentlich widersetzt hat, ist symbolisch.
Lindner verabschiedet sich mit Dankbarkeit – aber ohne Analyse der Wahlniederlage. Dürr seinerseits drückt sich ebenfalls vor klaren Worten. Er kritisiert zwar die Regierung, warnt vor der wachsenden Staatsquote, fordert mehr Reformfreude. Doch zu den Ursachen des eigenen Niedergangs verliert auch er kaum ein Wort. Keine Selbstkritik, keine konkrete Analyse des Desasters, das zum Ausscheiden aus dem Bundestag geführt hat. Dabei hätten sich genau das manche in den Reihen der FDP erhofft.
Dürr ist kein Mann für den offenen Konflikt. Das macht ihn in einer zerrissenen Partei zunächst attraktiv. Aber gerade in Zeiten existenzieller Krise braucht es mehr als Integrationskraft. Es braucht Richtung, Haltung, Klarheit – und im Zweifel auch Konfrontation. Ob Dürr diesen Schritt gehen kann oder will, muss er erst noch beweisen. Für den Moment ist er vor allem eines: der Mann, der geblieben ist.