Der gefeierte Pianist widmet sich einer wenig bekannten Seite Franz Liszts. Im Zentrum steht «Via crucis», ein ebenso karges wie intensives Gebet in Tönen. Für Leif Ove Andsnes hat dieses Spätwerk viel mit seinem eigenen Werdegang als Künstler zu tun.
An den Felshängen brechen sich die Wellen, in der Ferne ragen steinerne Grabhügel in die Luft, ein paar Wikingerhütten warten auf Besucher. Wer pulsierende Hochkultur sucht, ist auf der norwegischen Insel Karmöy fehl am Platz – stattdessen bestimmt hier die Natur das Leben. Vor 55 Jahren kam an diesem urtümlichen Ort Leif Ove Andsnes auf die Welt: heute der bekannteste klassische Künstler Norwegens, international gefeiert für seine sensiblen Interpretationen am Klavier.
Zur Musik hat der Philosoph auf den Tasten trotz der Abgeschiedenheit früh gefunden: Sein Vater spielte Euphonium und leitete in der Freizeit eine Band, schon als Kind sang Andsnes im Chor. Und bald entdeckte er auch das Klavier für sich, indem er oft stundenlang Taste um Taste drückte und das Instrument auf diese Weise eroberte. «Ich habe sehr früh gespürt, dass ich hier selbst etwas gestalten kann und die Musik am Klavier meine Sprache ist», erzählt er. Gleichwohl sei er nie auf die Idee gekommen, dass das Klavier einmal Mittelpunkt seines Lebens werden könne. «Ich habe lange überhaupt nicht gewusst, dass es auch Menschen gibt, die Musik als Beruf haben», sagt Andsnes. Das sollte sich alsbald ändern.
«Eine absolut nackte Komposition»
Als Sechzehnjähriger begann er 1986 ein Studium am Musikkonservatorium in Bergen, wo er bis heute lebt. Und schon damals hat sich Andsnes intensiv mit Franz Liszt beschäftigt – was zu der Zeit noch keineswegs üblich war. Denn vielen galt Liszt auch hundert Jahre nach seinem Tod in erster Linie als effekthascherischer Tastenlöwe und Vielschreiber. «Wir wollen Leute immer gern in eine Schublade stecken», bemerkt Andsnes. Bei Liszt werde aber oft vergessen, wie stark sich sein Komponieren im Lauf seines Lebens verändert habe. Besonders haben es Andsnes von jeher Liszts Spätwerke angetan. Liszt schrieb sie nach seinem Rückzug vom modischen Virtuosentum der Epoche, nachdem er sich auf den katholischen Glauben besonnen und 1865 sogar die niederen Weihen erhalten hatte.
«In den Spätwerken öffnet sich eine aussergewöhnlich intime, einsame und oft auch abstrakte Welt», sagt Andsnes. Das vielleicht kühnste Stück aus dieser experimentellen Schaffensphase hat er nun ins Zentrum seines neuen Albums gestellt: «Via crucis», einen Zyklus für Chor, Solisten und Klavier, in dem Liszt die vierzehn Stationen des Kreuzwegs Jesu musikalisch ausdeutet. «Dieses Werk hat mich eigenartig stark angezogen», erklärt Andsnes; im selben Moment habe es ihn aber auch verwirrt und geängstigt. «‹Via crucis› ist eine absolut nackte Komposition, und ich habe mich lange gefragt, wie dieses Stück funktionieren soll, weil da oft nur so wenige Noten geschrieben sind.»
Umso mehr müsse man als Interpret darauf vertrauen, dass die Musik ihre Kraft aus der Konzentriertheit entfalte. «Es braucht Raum und Zeit für dieses Werk», meint Andsnes, in manchen Momenten herrsche eine «schier unglaubliche Stille in der Musik». Etwa dann, wenn Jesus seine Mutter erblickt: «In diesem Augenblick ist eine heilige und reine Form von Liebe spürbar.» Der einzige Moment, in dem sich eine fliessende Bewegung im Klavierpart entwickle, sei die Erlösung Jesu am Schluss. «Da kommt auf einmal Licht herein in die Musik, und am Ende bleibt ein sehr ruhiges Gefühl.» An anderen Stellen offenbart sich für ihn dagegen viel Schmerz und Verzweiflung. Man spüre, wie stark Liszt mit seinem Glauben gerungen habe und wie präsent für ihn wohl auch Ahnungen des eigenen Lebensendes gewesen seien.
Obwohl sich Andsnes nicht als Christ bezeichnet, ist ihm die religiöse Tradition nahe. «Ich bin mit dieser Prägung und Kultur aufgewachsen, und sie ist definitiv ein Teil von mir und bedeutet mir viel.» Nach der Aufnahme des Stückes sei er wie erschlagen gewesen. «Das war wirklich erstaunlich: Da war so eine grosse Spannung und extreme mentale Anstrengung spürbar, dass ich komplett erschöpft war, obwohl ich doch nur einzelne Noten gespielt hatte.»
Konzentration und Verinnerlichung
Auch mit den weiteren Stücken auf seinem Album widmet sich Andsnes der nachdenklichen und spirituellen Seite Liszts. Diese hallt etwa in den oft frühimpressionistisch getönten «Consolations» wider, ausgesprochen zarten und sanglichen Stücken. «Man bekommt hier eine Ahnung davon, wie Liszt improvisiert hat», ihm erschienen diese Stücke wie Zwiegespräche zweier Menschen, sagt Andsnes. Mit zwei Sätzen aus den «Harmonies poétiques et religieuses», die durch Gedichte Alphonse de Lamartines inspiriert wurden, beschliesst er dann seinen Blick auf den nach innen gewandten Liszt. Auf das «Andante lagrimoso», ein «Werk voller Kummer», lässt er die Hommage «Miserere, d’après Palestrina» folgen, in der sich die Musik vollgriffig und virtuos schliesslich nach aussen öffnet.
So vertraut diese aus dem orchestralen Klavierklang schöpfende Seite von Liszt auch erscheint, so verändert nimmt man sie als Hörer nach den vorangegangenen Gebeten wahr. «Liszt hat eine absolut aussergewöhnliche Entwicklung in seinem Leben durchlaufen, aber gleichzeitig denke ich, dass diese sehr intime Seite schon immer da war bei ihm», sagt Andsnes. Mit den Jahren sei sie schliesslich immer mehr hervorgetreten, «destilliert bis zu einem extremen Grad».
Leif Ove Andsnes ist dieses Höchstmass an Konzentration und Verinnerlichung offensichtlich tief vertraut. Begegnet man dem Pianisten im Gespräch, erlebt man einen introvertierten und feinsinnigen Künstler, der seine Worte mit Bedacht wählt und oft lange nachdenkt, bevor er antwortet. «Die Musik ist bis heute meine Sprache», sagt er, und ein Leben ohne diese Ausdrucksform sei für ihn nicht mehr vorstellbar.
Dass er einst auf Karmöy ohne grosse Ablenkung, Druck und Einflüsse von aussen zum Klavier finden konnte, ist für ihn im Rückblick ein Geschenk. «Ich bin sehr glücklich, dass ich in diesem Umfeld gross werden durfte. Ich war dadurch absolut frei und konnte in Ruhe meinen eigenen Weg gehen und meine Stimme finden.» Vielleicht ist Andsnes auch deshalb gerade jener Liszt so nahe, der in seinen späten Jahren um jeden einzelnen Ton gerungen hat.
Franz Liszt: «Via crucis» (Fassung für Chor, Soli und Klavier), «Consolations» Nr. 1–6, «Harmonies poétiques et religieuses» Nr. 8 und 9. Leif Ove Andsnes (Klavier); Det Norske Solistkor, Grete Pedersen (Leitung). Sony Classical, 1 CD.