Mit der SVP-Initiative zur 10-Millionen-Schweiz ist das Vertragspaket Schweiz – EU infrage gestellt. Ein Parlamentsvorstoss verlangt eine neue Studie zum Wert dieser Verträge. Doch lässt sich der überhaupt zuverlässig einschätzen?
Die Freunde einer engen Vertragsbeziehung der Schweiz zur EU haben ein chronisches Problem: Niemand kann genau sagen, was die bestehenden Verträge und die geplante Vertiefung wert sind. Die FDP-Fraktion im Nationalrat verlangt vom Bundesrat in einem Postulat eine neue Studie über die Auswirkungen eines Wegfalls der bestehenden Verträge. Zudem soll der Bundesrat Chancen und Risiken der geplanten Weiterentwicklung der Vertragsbeziehung aufzeigen.
Mit den bestehenden Verträgen ist hier das Paket der Bilateralen I gemeint. Dazu gehören die Abkommen über Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen, Luftverkehr, Landverkehr und Landwirtschaft. Hinzu kommt die Frage der Schweizer Beteiligung am EU-Forschungsprogramm.
Der SVP stösst der Parlamentsvorstoss sauer auf – obwohl es «nur» um eine Studie geht. Der Vorstoss ist für die nächste Sessionswoche des Parlaments traktandiert, und als offizieller Bekämpfer wird der Luzerner SVP-Nationalrat Franz Grüter auftreten. Der Vorstoss zum Wert der Bilateralen I ist laut Grüter unglaubwürdig, weil dessen Urheber mit den laufenden Verhandlungen eine neue Beziehung zur EU anstrebten. Und es gebe schon genügend Studien, weshalb eine neue Untersuchung «nutzlos» wäre.
Es läppert sich zusammen
Die SVP bekämpft nicht nur die geplante Vertiefung der Beziehung Schweiz – EU, sondern stellt mit ihrer Volksinitiative zur 10-Millionen-Schweiz auch das bestehende Vertragspaket der Bilateralen I infrage. Diverse Studien haben schon versucht, den Wert dieses Vertragspakets für die Schweiz zu schätzen. Dazu zählen etwa die vom Bund bestellten Analysen des Berner Instituts Ecoplan (2015) und des Basler Instituts BAK (2015; aufdatiert 2020) sowie eine Studie der ETH Zürich von 2015.
Diese drei Analysen liessen alle mutmassen, dass das Vertragspaket nicht nur das absolute Wirtschaftswachstum in der Schweiz erhöht, sondern auch die Wachstumsrate pro Einwohner. Die geschätzten Zusatzimpulse lagen bei etwa 0,1 bis 0,2 Prozentpunkten pro Einwohner und Jahr; zum Teil standen die Schätzungen auf statistisch wackligen Füssen.
Die genannte Grössenordnung ist nicht die Welt. Doch klein scheinende Differenzen läppern sich mit der Zeit zusammen. So führt ein Zusatzwachstum von nur schon 0,1 Prozentpunkt pro Jahr innert 20 Jahren zu einer Erhöhung des Wohlstands pro Einwohner von kumuliert etwa 15 000 bis 20 000 Franken.
Methodisch wacklig
Es ist nicht möglich, zwei alternative Universen zu schaffen (einmal mit den Bilateralen I, einmal ohne) und dann die Differenz zu betrachten. Auch der Vergleich der Wirtschaftsentwicklung der Schweiz vor und nach Inkrafttreten der Bilateralen I von 2002 ist wenig schlüssig, weil viele andere Faktoren die Schweizer Wirtschaft beeinflussen – wie etwa der Frankenkurs, Finanzkrisen, die Demografie und die Entwicklung des Welthandels. Daran krankte die von SVP-nahen Kreisen bestellte Studie eines britischen Instituts von 2020. Gemäss diesem Papier, das von Schweizer Ökonomen stark kritisiert wurde, senke das Vertragspaket Schweiz – EU wegen der Personenfreizügigkeit das Pro-Kopf-Einkommen in der Schweiz.
Aus ökonomischer Sicht ist zu erwarten, dass der Abbau von Handelshürden gegenüber dem wichtigsten Handelspartner einen Wohlstandsgewinn bringt. Denn Handel ist im Prinzip kein Nullsummenspiel, sondern ein Gewinn für beide Seiten.
Auf Basis von Schätzungen über den Zusammenhang zwischen Handelshemmnissen, Handelsvolumen und Wirtschaftsentwicklung mögen Ökonomen zum Beispiel Schätzungen über die Wirkungen des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse ableiten. Dieses Abkommen brachte die gegenseitige Anerkennung von Produktezertifizierungen und senkte damit Kosten für die betroffenen Firmen. Auch das Abkommen zur Landwirtschaft senkte Handelsbarrieren wie etwa Zölle.
Das Luftverkehrsabkommen ermöglichte mehr Direktverbindungen. Eine verwendete Methode zur Einschätzung des Werts solcher Verbindungen beruht auf Befragungen zur Zahlungsbereitschaft der Kunden. Zu den wirtschaftlichen Auswirkungen des EU-Forschungsprogramms Horizon 2020 gibt es derweil EU-Modellschätzungen, die für die Periode der grössten Wirkung eine Erhöhung der jährlichen Wirtschaftsleistung um 0,1 bis 0,25 Prozentpunkte zeigen.
Der Elefant im Raum
Das bedeutendste Abkommen im Paket der Bilateralen I betrifft die Personenfreizügigkeit. Es ist innenpolitisch am meisten umstritten, bringt aber laut Schweizer Studien mit Abstand den grössten wirtschaftlichen Nutzen.
Die Einwanderung in den hiesigen Arbeitsmarkt nützt zunächst vor allem den Einwanderern selbst und ihren Arbeitgebern. Doch die angestammten Arbeitskräfte gehören nicht zwingend zu den Verlierern. Einwanderer können die Innovation fördern, das Wachstum und die Produktivität von Firmen erhöhen und damit auch Gewinne für angestammte Arbeitskräfte bringen. Durch ihre Nachfrage als Konsumenten erhöhen die Einwanderer ferner auch den Bedarf nach Arbeitskräften. Die Personenfreizügigkeit kann zudem ein bedeutender Treiber für Investitionen sein.
Im schlechtesten Szenario verdrängen die Einwanderer angestammte Arbeitskräfte und erhöhen damit die inländische Arbeitslosigkeit. Als breites Phänomen ist dieses Szenario indes bisher nicht sichtbar geworden.
Dichte mit Kosten und Nutzen
Viel diskutiert ist der zunehmende «Dichtestress» durch Einwanderung. Eine höhere Bevölkerungsdichte bringt zum Beispiel mehr Lärm, mehr Stau und weniger Platz. Doch sie bringt auch Vorteile – wie etwa eine stärkere Wirtschaftsentwicklung dank höherer Innovationskraft sowie die Aufteilung von Fixkosten auf mehr Einwohner (die Armee muss für eine 10-Millionen-Schweiz nicht doppelt so teuer sein wie für eine 5-Millionen-Schweiz). Ein Überblick von 2019 über die internationale Forschungsliteratur zeigt ein durchzogenes Bild, wertet aber die Dichte per saldo eher als Plus denn als Minus.
Doch es geht hier nicht um Physik. Neue Schätzungen zum Wert der Bilateralen I werden dem Vernehmen nach kommen – ob mit oder ohne Parlamentsbefehl. Aber auch mit noch so ausgeklügelten Methoden ist höchstens eine grobe Annäherung an die Realität möglich. Das liegt nicht nur an den grossen methodischen Problemen. Zudem ist auch unklar, welche Alternative bei einer Kündigung des bestehenden Vertragspakets käme und was für Nadelstiche aus Brüssel zu erwarten wären. Ebenso gross ist die Unsicherheit bei der Abwägung von Nutzen und Kosten des geplanten Vertrags zur Vertiefung der Beziehung. Kommt ein solcher Vertrag nicht zustande, erschwert dies auch die Aufdatierung der bestehenden Verträge.
Einigermassen gesichert scheint: Bei einem Bruch der Schweiz mit ihrem wichtigsten Wirtschaftspartner besteht ein erhebliches Risiko eines spürbaren Schadens. Und wenn ein solcher Schaden nur klein wäre, wie Kritiker der Bilateralen sagen, würde auch der Einwanderungs-Sog aus der Wirtschaft nur wenig schwächer werden.