Velos, Rollatoren, Kinderwagen, Einkäufe, ja halbe Wohnungsumzüge –das Tram nimmt alles mit. Doch der Raum in den schmalen Bahnen ist begrenzt. Eine Lösung: Multifunktionsbereiche und mehr Stehplätze. Doch so einfach ist es nicht.
Endlich fährt das Tram ein. Auf dem schmalen Perron warten Menschen mit Rucksäcken, ein junger Mann im Rollstuhl, zwei Kinderwagen, und dann sind da noch zwei voluminöse Rollkoffer samt älterem Paar. Diese Zufallsgemeinschaft verbindet der Wunsch, möglichst unbeschwert von A nach B, C oder D zu kommen. Das Tram ist – wie der ganze öffentliche Verkehr – ein Spiegelbild der Gesellschaft. Hier treffen Menschen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen, Erwartungen, Bedürfnissen und auch Einschränkungen zusammen.
Genau dies macht die Konzeption des Trams, vor allem seines Interieurs, zu einer komplexen, tendenziell unterschätzten Aufgabe. Und weil zu den Wünschen der Passagiere die wirtschaftlichen Vorgaben der Betreiber kommen, ist das Tram ein klassisches Kompromissprodukt.
«Wir nehmen alle mit», sagt Rolf Meyer von Bernmobil lächelnd, «es gab auch schon Umzüge mit unseren Trams.» Das dürfte zwar eher die Ausnahme sein, doch klar ist: Die Anforderungen an das Tram als Transport- und Verkehrsmittel sind enorm gewachsen. Früher war es für Menschen mit grossem Gepäck, mit Rollstuhl oder Kinderwagen schlichtweg unmöglich, in die Hochflurfahrzeuge einzusteigen. Erst Niederflurbahnen mit niveaugleichem Einstieg liessen diese Barriere verschwinden – für viele Menschen ein Mobilitätsgewinn ohnegleichen.
Damit sind aber auch andere Innenraumkonzepte gefragt: «Früher versuchten Verkehrsbetriebe, möglichst viele Sitzplätze in Trams unterzubringen, inzwischen liegt der Fokus darauf, genug Raum für Stehplätze, für Kinderwagen, Rollatoren und andere Mobilitätshilfen zu schaffen», sagt Judith Setz, Sprecherin der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ).
Bei den neuen Trams der Flexity-Reihe von Alstom habe man daher darauf geachtet, ausreichend Freibereiche zu schaffen, die von allen Passagieren nutzbar seien – auch für Gepäck und Einkäufe, die angesichts vieler autofreier Haushalte in den Trams transportiert würden. Das Flexity-Tram bietet auf seinen 43 Metern Länge insgesamt 91 Sitzplätze sowie 188 Stehplätze auf einer Fläche von 47 Quadratmetern.
Ein Beispiel aus Deutschland: Im ostdeutschen Jena fahren Tramlink-Bahnen von Stadler – mit gut erreichbaren, kombinierten Steh-Mehrzweckbereichen. «Das entspricht den Bedürfnissen unserer heterogenen Fahrgastgruppen», so die Stadtwerke Jena.
Velos sind in Jena nicht ausgeschlossen, genauso wenig in Bern. «Velos sind grundsätzlich erlaubt», sagt der Bernmobil-Sprecher Rolf Meyer, «solange wir Platz im Tram haben.» Doch gerade das Velo ist schwierig, denn es ist sperrig, es ist kaum zu fixieren und ist als E-Variante sehr schwer und damit nur mit viel Kraft rangierbar.
In manchen Trams können Velos am Vorderrad fixiert werden, so dass sie senkrecht stehen. Das reduziert zwar den Platzbedarf – aber wer möchte schon ein E-Bike in die Vertikale stemmen? Tricon Design aus dem schwäbischen Kirchentellinsfurt arbeitet an einer einfachen Lösung, bei der die Velos am Sattel über eine horizontale Stange gehängt werden – ähnlich wie bei Velowettbewerben.
Begrenzter Raum, immer mehr Anforderungen
Die Konkurrenz um Platz im Tram nimmt zu, denn die Fahrzeuge lassen sich nicht einfach vergrössern, schliesslich müssen sie in den Strassenraum passen und enge Kurvenradien meistern. Die neuen Berner Tramlinks, seit November 2023 unterwegs, haben als Ein- und Zweirichtungsfahrzeuge Platz für bis zu 260 Passagiere – dabei überwiegt das Angebot an Stehplätzen deutlich.
Die 20 Bahnen bieten jeweils 52 Sitz- und 208 Stehplätze. «Wir nutzen auf den innerstädtischen Linien stehplatzoptimierte Fahrzeuge», sagt Rolf Meyer von Bernmobil. Das hat nicht nur Kapazitätsgründe, sondern fusst auch auf der Beobachtung, dass kurze Strecken eher im Stehen zurückgelegt werden.
«Die Diskussion um Stehplätze ist eines der zentralen Themen, wenn es um die Ausstattung geht», sagt Peter Döllmann. Mit seinem Wiener Designbüro DDA Industrial Solutions passt er Strassenbahnen an die unterschiedlichen Wünsche der Betreiber an – auch das Berner Modell Tramlink wurde von seinem Büro gestaltet. «Die Anforderungen unterscheiden sich sehr deutlich, in Ballungszentren geht die Tendenz zu mehr Stehplätzen.»
Es tönt simpel, Möglichkeiten zum Stehen zu schaffen. Doch es ist erstaunlich komplex. Solange Sitzen das Normal in Trams war, kam dem Stehen wenig Aufmerksamkeit zu. Wer stand, stand im wahrsten Sinne anderen im Weg – entweder im Eingangsbereich oder in den Gängen, irgendwie dazwischengeklemmt, unkomfortabel, kippelig. «Klassische Sitzbereiche vertragen sich mit Stehen schlecht», sagt Döllmann und nennt einen wesentlichen Punkt: «Es entstehen unangenehme Sichtbezüge zwischen Stehenden und Sitzenden.» Gemeint sind der Blick der Stehenden hinab zu den Sitzenden und umgekehrt. Das gelte insbesondere für längs der Fahrtrichtung angeordnete Sitzreihen an den Aussenwänden. «Die sind psychologisch sehr unangenehm.»
Die Lösung: Zonierung
«Wir definieren Sitzbereiche mit eher schmalen Gängen und Multifunktionsbereiche mit viel Raum in der Nähe der Eingänge», so Döllmann. Wichtig ist dabei, dass der Bereich direkt vor den Türen leer bleibt, schliesslich soll das Ein- und Aussteigen schnell und reibungslos laufen. «Das Leerhalten ist eine Art Geheimwissenschaft unserer Profession», sagt der Designer lächelnd. «Weil die Anforderungen an Mehrzweckbereiche immer komplexer und vielfältiger werden, sind das wunderbare Gestaltungsaufgaben. Ich denke, dass wir da in den nächsten Jahren überraschende Konzepte sehen werden.»
Ob dann der Klappsitz eine Rolle spielen wird, ist umstritten. Während Döllmann den Klappsitz als zwingend erachtet, um die Mehrzweckbereiche möglichst flexibel zu halten, sieht man das in Bern und Basel ganz anders. In beiden Städten hat man sich bewusst und grundsätzlich gegen Klappsitze entschieden. So werden sie laut Rolf Meyer von Bernmobil «nicht freigegeben, wenn es notwendig wäre».
Und auch die BVB Basel sehen den Klappsitz grundsätzlich kritisch, weil er Nutzungskonflikte zwischen den Fahrgästen mit sich bringe. So wird die nächste Tram-Generation, die sich gerade in der Beschaffungsphase befindet, ohne die gar nicht so flexiblen Sitze auskommen. Döllmanns Büro arbeitet derweil zusammen mit einem Unternehmen an einem adaptiven Klappsitz. Braucht es eine hohe Kapazität, wird die Klappfunktion elektronisch blockiert, in Zeiten mit geringer Auslastung dann erneut freigeschaltet.
Flexibilität hat Grenzen
Mehr Konversionsoptionen wie beispielsweise verschiebbare Wände, versenkbare Radständer oder variable Sitzanordnungen tauchen zwar regelmässig in Designstudien auf, sind aber weit von der Realisierung entfernt. «Systemballast» nennt Jan Wielert vom Berliner Designbüro Staubach diese Elemente: Als Visionen würden sie zwar interessante Impulse senden, aber für den Alltag seien sie kaum tauglich. Gewicht, Handling und mangelnde Robustheit stünden dem entgegen, so Wielert.
Das Büro hat unter anderem die neue Wuppertaler Hochbahn entworfen, arbeitet intensiv für südkoreanische Kunden und seit 2018 für die Hochbahn Hamburg an der Konzeption der neuen Linie U 5, die 2029 in Betrieb gehen soll. Zwar handelt es sich dabei um eine geräumige, weil vom Strassenraum entkoppelte U-Bahn, aber auch hier geht es um die Verbindung einer kapazitätsoptimierten Raumaufteilung mit nutzerspezifischen Bedürfnissen. Insbesondere Passagiere mit Einschränkungen sollen sich in der neuen Bahn gut aufgehoben fühlen – und gut informiert. So werden die türnahen Rollstuhlbereiche mit tiefer positionierten Displays ausgestattet sein, die spezifische Informationen vermitteln.
Wer steht, hat den Überblick
Zurück zum Stehen und zu einem weiteren Aspekt, der gerne übersehen wird. Wer steht, folgt seinem Sicherheitsgefühl. Das Gefühl ist zwar subjektiv und individuell, aber Stehende haben ganz objektiv einen besseren Überblick über das Geschehen. Sie können also aufziehendem Ungemach schneller ausweichen.
Diesem psychologischen Faktor tragen vor allem die Transparenz sowie die Durchgängigkeit des Innenraumes bei – beides ist längst Standard bei Trams, Regional- oder U-Bahnen und Bussen. Besonders junge Frauen, so ergaben Befragungen von Tricon Design, präferieren Plätze, die vom Rücken her geschützt sind und nach vorne den freien Blick ermöglichen – meist sind dies Stehplätze, idealerweise solche mit Anlehnhilfen, die komfortabler als Haltestangen sind und nebenbei auch noch mehr Standsicherheit bieten.
«Der Nahverkehr ist ein komplexes Feld, mitunter auch widersprüchlich», so resümiert Christina Finger vom Büro Staubach. Etwa dann, wenn aus Gewichtsgründen – Stichworte Achslast, Gewichtsverteilung und Brückenfestigkeit – eine Art «Stehplatzvernichtung» erforderlich ist. Denn, so Christina Finger, «wo eigentlich nichts ist, also freie Fläche, ist im Vollbetrieb die Last am grössten, weil sich dort viele Menschen drängen.» Also würden mitunter an eigenartigen Stellen Sitzplätze geschaffen, um Dichte herauszunehmen, ergänzt Peter Döllmann.
Das Problem dürfte sich verstärken: Gerade die Benutzerzahlen in Trams dürften im Zuge der Verlagerung des Pendlerverkehrs auf öffentliche Verkehrsmittel immer weiter zunehmen.