Die App «Neumz» ist eine Mischung aus wissenschaftlichem Klangarchiv und mittelalterlichem Streamingdienst. Ein Ausgangspunkt des internationalen Projekts ist die älteste Notenhandschrift der Welt, die in St. Gallen bewahrt wird.
Zum Beispiel der 19. März 2025: Die Nonnen von Notre-Dame de Fidélité singen «Caelitum Ioseph», einen Hymnus auf den heiligen Joseph, den Stiefvater Jesu. Zuhören kann man ihnen dabei schon jetzt, indem man den entsprechenden Tag im Kalender der App ansteuert. Schliesslich singen die Nonnen diesen Hymnus jedes Jahr am Josephstag, jeweils in der Matutin um 5 Uhr 30, am 19. März 2018 ebenso wie, so Gott will, am 19. März 2038, von nun an bis in Ewigkeit. Diesen und zahllose weitere Gesänge entdeckt man mit wenigen Klicks in der ungewöhnlichen App «Neumz».
Mit dieser App sind die Benediktinerinnen aus dem südfranzösischen Kloster Teil des bisher umfangreichsten Aufnahmeprojekts in der Musikgeschichte geworden. Insgesamt etwa 9000 Stunden Gesang wurden in Notre-Dame de Fidélité, gelegen in Jouques nahe Aix-en-Provence, mitgeschnitten und online gestellt, aus der Messe und den sieben weiteren täglichen Gebetszeiten. Weitere 2200 Stunden wurden bei den Mönchen, ebenfalls Benediktiner, im benachbarten Le Barroux in der Abbaye Sainte-Madeleine aufgenommen und werden derzeit sukzessive in die App integriert. Jeweils versehen mit Übersetzungen der lateinischen Texte in die fünf gängigsten europäischen Sprachen und unterschiedlichen Notationsformen für die Melodien, die sich über den mitlaufenden Cursor verfolgen lassen.
Die App nutzt also neueste Formen der medialen Präsentation, um einen Bogen zurück bis zu den Anfängen der Musikgeschichte zu schlagen. Schliesslich ist es nicht irgendetwas, was die Nonnen da singen. Es ist der gregorianische Choral, der einstimmige, meistens unbegleitete Gesang der katholischen und, in Teilen, der protestantischen Kirche. Und damit die älteste noch immer regelmässig gepflegte Musik Europas.
Mitlesen, mitbeten, mitsingen
Die Wurzeln des gregorianischen Chorals liegen irgendwo im frühen Mittelalter. Mit anderen Worten: im Ungewissen. In der Wissenschaft gilt die Benennung nach Papst Gregor dem Grossen, gestorben 604, mittlerweile als fraglich. Deshalb wird bevorzugt der Begriff «plainchant» verwendet. Denn endgültig greifbar wird diese Musik erst ab dem Zeitpunkt, als sie niedergeschrieben wird, zum ersten Mal zwischen 922 und 926 in einer Handschrift, die in der Schweiz bewahrt wird: in der Bibliothek der Stiftskirche St. Gallen.
Sie findet sich dort in jener Notationsform, die auch der App ihren Namen gibt: in Neumen. Im Lauf der Kirchen- wie der Musikgeschichte wird der gregorianische Choral immer wieder verdrängt, zunächst durch die im Spätmittelalter aufkommende Mehrstimmigkeit, bei der erst eine, dann immer mehr Stimmen den «cantus planus» umspielen und begleiten. Doch zugleich verschwindet er nie vollständig aus dem kulturellen Gedächtnis. Die katholische Kirche weist ihm einen Ehrenprimat unter den geistlichen Musiken zu und verwendet einzelne Formeln bis heute in vielen Gottesdiensten.
Hinzu kommt, dass auch weltliche Komponisten seine Melodien immer wieder zitieren. Am häufigsten das «Dies irae» aus dem Requiem, der Totenmesse, das unter anderem Hector Berlioz in seiner «Symphonie fantastique» und Sergei Rachmaninow in etlichen seiner Werke verwendete. Zudem gibt es in der Gegenwart Bands, die mit elektronisch verfremdeten Bearbeitungen von Choralmelodien Konzertsäle füllen.
Die Bestände der gesamten Liturgie werden jedoch fast ausschliesslich in Benediktiner- und Zisterzienserklöstern gepflegt, in der täglichen Messe und zu den sieben zusätzlichen Gebetszeiten. Wer sich «Neumz» herunterlädt, kann erst einmal kostenlos zu den entsprechenden Tageszeiten mitbeten, mitlesen oder mitsingen. Die Bezahlversion dagegen funktioniert wie eine Mischung aus einem wissenschaftlichen Klangarchiv und einem mittelalterlichen Streamingdienst. So kann man einzelnen Gesängen über ihre «Cantus ID» zu den jeweiligen Quellen auf entsprechend spezialisierten Onlineportalen folgen, aber auch Favoriten speichern und sich sogar einen Wecker für die entsprechenden Gebetszeiten stellen.
Deep-Learning-Modelle
Trotz der Breite dieses Angebots ist «Neumz» strenggenommen nur ein Baustein innerhalb eines noch deutlich grösseren Forschungs- und Archivierungsprojekts, für das sich Universitäten und Institutionen aus acht europäischen Ländern zusammengeschlossen haben. Von der Europäischen Union wird das Projekt «Repertorium» mit drei Millionen Euro gefördert. Das Ziel des Forschungsverbunds ist nicht nur die Verbindung von Wissenschaft und religiöser Praxis, sondern auch die Aufbereitung der ältesten Musik Europas nach modernsten technischen Standards.
Hinter dem Ganzen steckt der Amerikaner John Anderson, ein ausgebildeter Pianist und Musikwissenschafter. Anderson hat bereits mit seinem eigenen Label «Odradek» ein neues Modell zur Auswahl von Musikern für den Klassik-CD-Markt entwickelt. Man dürfte den Plattenproduzenten, der passenderweise in Rom lebt, wohl getrost als «besessen» bezeichnen, wenn das in religiösem Kontext nicht einen leicht dämonischen Beigeschmack hätte.
So bereitet «Repertorium» momentan auch die riesigen Bestände aus dem Kloster Solesmes für die digitalisierte Welt auf, in dem gleichsam das Herz des gregorianischen Chorals schlägt. Bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts nämlich bereisten die Mönche des nordfranzösischen Klosters ganz Europa, um die vor Ort vorhandenen Handschriften zu sichten und zu sammeln. In der Klosterbibliothek hat sie Anderson nun von spezialisierten Wissenschaftern auswerten lassen. Die etwa zwei Millionen Varianten in insgesamt 2200 Manuskripten wurden inzwischen auf DIAMM, einem Portal der Universität Oxford für mittelalterliche Musik, online gestellt, um sie Wissenschaft und Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Parallel arbeitet Anderson noch an etwas deutlich Innovativerem: Gemeinsam mit mehreren spanischen Universitäten hat er zu den Neumen passende Codierungs- und Deep-Learning-Modelle entwickelt. Sie sollen die Handschriften künftig ohne menschliche Mithilfe auslesen und überdies Varianten automatisiert vergleichen können, um beispielsweise regionale Traditionen oder die jeweils älteste Variante zu identifizieren. Sollte das irgendwann fehlerfrei funktionieren, wäre es für die Musikwissenschaft ein Fortschritt weit über das Mittelalter hinaus.
Salomonische Lösungen
Der Anstoss für Andersons Riesenprojekt war ursprünglich ein biografischer: Als der junge John in Oxford studierte, verbrachte er die Ferien regelmässig in der Provence bei seiner Tante, die Nonne ist. In ebenjenem Kloster in Jouques, dessen Gesänge nun für «Neumz» aufgezeichnet wurden. Der persönliche Kontakt ermöglichte erst nach zähen Verhandlungen das akustische Eindringen in eine Welt, die an einer Selbstdarstellung im Internet von Haus aus wenig Interesse hat. Weil die Nonnen ihr tägliches Gebet keineswegs mit den Auftritten einer Gregorianik-Band verwechselt sehen wollten, wurden die Mikrofone unsichtbar unter dem Kirchendach aufgehängt.
Das minimalinvasive Vorgehen liess Vertrauen entstehen, schliesslich auch bei den Mönchen in Le Barroux, die, unter dem gemeinsamen Dach des Benediktinerordens, ein noch deutlich umfangreicheres Repertoire als die Nonnen pflegen. Sie tun dies freilich ebenfalls nicht aus purer Sangesfreude, sondern weil sie einem teilweise anderen Ritus folgen. Nämlich jenem, wie er in der katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil im 20. Jahrhundert üblich war. Um dessen Liturgiereform gibt es bis heute teilweise erbitterten Streit zwischen eher konservativen und eher progressiven Katholiken.
Benedikt XVI. hatte die Möglichkeit zum Gebrauch der «tridentinischen» Liturgie erweitert, Papst Franziskus hat sie inzwischen wieder beschränkt. Für Anderson ist das alles indes keine ideologische Frage, sondern eine der möglichst umfassenden Archivierung: Die Liturgiereform reduzierte vor allem Zahl und Umfang der Gesänge, indem sie die Gebetszeiten verkürzte und den Anteil der Landessprache im Gottesdienst erhöhte, zuungunsten des Lateinischen. So fiel etwa auch das «Dies irae» im Requiem weg, das von so vielen Komponisten zitiert wurde. Die App findet dafür eine Lösung, getragen von wenn nicht salomonischer, so doch technischer Weisheit: Per Mausklick können die Nutzer wählen, ob sie lieber dem «vetus ordo», dem alten Ritus der Mönche, oder dem «novus ordo» der Nonnen folgen wollen.
Dabei konnten sie in beiden Versionen bislang den Melodieverlauf in der jüngeren Quadratnotation mitlesen, die bereits der gegenwärtig gebräuchlichen Notenschrift ähnelt. Entscheidender aber für ein natürliches Musizieren sind die Neumen, wie sie etwa im Cantatorium von St. Gallen geschrieben wurden, ebenso in weiteren Handschriften, zum Beispiel im Kloster Einsiedeln. In ihrer Frühform halten diese zwar noch nicht den Tonhöhenverlauf fest, weil dieser noch im Gedächtnis tradiert wurde; sie enthalten aber sehr viele Informationen über die zeitliche Gestaltung der Musik, über ihre Rhythmik und Agogik.
Im Zuge einer Wiederbelebung des gregorianischen Chorals im 19. Jahrhundert entdeckte man vor allem im erwähnten Kloster Solesmes, wie sehr die Beachtung dieser Zeichen die Musik lebendig werden lässt. Die Benediktiner dürfen damit sogar als Vorläufer der historischen Aufführungspraxis im 20. Jahrhundert gelten, die ältere, auch weltliche Musik auf Basis eines intensiven Quellenstudiums wieder wie neu klingen lässt.
Tradition und Internet
Anfang Dezember, pünktlich zum Advent, hat John Anderson nun die Neumen in der App online gestellt, in gleich zwei Formen: in derjenigen aus St. Gallen und der sogenannten «Metzer Notation», wie sie um 930 im Messbuch der Kathedrale im nordfranzösischen Laon geschrieben wurde. Dazu mussten nicht nur hochspezialisierte Wissenschafter die Neumen für solche Gesänge ergänzen, bei denen sich kein entsprechendes Manuskript findet; vielmehr musste auch der Verlauf von Musik und Text in allen Gesängen koordiniert werden, was händisch kaum zu leisten gewesen wäre. Möglich machte es schliesslich ein von der Universität Jaén entwickelter Algorithmus, der die Neumen automatisiert den entsprechenden Textsilben im Gesang der Nonnen und Mönche zuordnet.
Was damit entsteht, ist ein klingendes Gedächtnis der ältesten Musik Europas, das in doppeltem Sinne zeitgenössisch ist: als umfassende digitale Quelle für Wissenschaft und Universitäten, wo etwa Studierende der Musikwissenschaften die Gesänge nachhören und mitlesen können. Es ist aber auch der Anschluss der weltweiten Internetöffentlichkeit an die lebendige Tradition der Klöster. Wenn die Nonnen im Kloster von Jouques singen, dann hört man manchmal die Vögel auf dem Dach der Kirche dazu zwitschern. Sie wollen mitsingen beim ewigen Gesang Europas. Und sind um 5 Uhr 30 morgens ja meist ohnehin schon wach.