Am Wochenende drohen erneut Strassenschlachten zwischen eritreischen Gruppen. Das hat mehr mit der Politik in der Schweiz zu tun, als auf den ersten Blick erkennbar ist.
Der 24. Mai ist für Eritreerinnen und Eritreer ein wichtiges Datum: An diesem Tag vor genau 33 Jahren marschiert Isaias Afewerki, der heutige Präsident, an der Spitze einer Guerilla-Armee in die Hauptstadt Asmara ein. Auf den Tag genau zwei Jahre später erreicht das Land seine Unabhängigkeit von Äthiopien. Und am 24. Mai 1997 sollte die demokratische Verfassung Eritreas von Afewerki unterzeichnet werden und in Kraft treten – was nie geschieht. Stattdessen beginnt Afewerki damit, sein Land in eine Militärdiktatur umzubauen. Bis heute gilt der 24. Mai als Nationalfeiertag.
In ganz Europa werden an diesem symbolträchtigen Datum Ausschreitungen zwischen verfeindeten eritreischen Gruppierungen befürchtet. Davor hat die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) kürzlich alle Gemeinden gewarnt.
Es sei damit zu rechnen, «dass es um dieses Datum herum im Umfeld von Feierlichkeiten zu weiteren Ausschreitungen und Massenschlägereien kommen wird». In den vergangenen zwei Jahren ist es in mehreren Ländern zu teilweise brutalen Strassenschlachten gekommen. In der Schweiz musste die Polizei zuletzt Ende März zu einem Grosseinsatz in Gerlafingen ausrücken. In Deutschland ist es in Giessen und Stuttgart zu schweren Ausschreitungen gekommen.
Ein Mittel, um Aufmerksamkeit und Druck zu schaffen
Doch was sind die Gründe dafür, dass die Lage seit rund zwei Jahren eskaliert? Nach verbreiteter Lesart handelt es sich dabei um eine rein innereritreische Rivalität zwischen Anhängern und Gegnern Afewerkis. Für den deutschen Afrika-Wissenschafter Wolbert Smidt, der selber jahrelang in Äthiopien und Eritrea gelebt hat, greift diese Sicht allerdings zu kurz.
«Was jetzt in der Diaspora geschieht, hat nicht zuletzt mit dem Umgang westlicher Länder mit dem eritreischen Regime während der letzten Jahrzehnte zu tun», sagt er. Die Konflikte seien auch ein Mittel von eritreischen Aktivisten, um in der Schweiz und anderen Ländern Aufmerksamkeit und Druck zu generieren.
Nach seiner Machtübernahme und der Befreiung Eritreas von Äthiopien gilt Isaias Afewerki im Westen der 1990er Jahre zunächst als Reformer und Hoffnungsträger. Tatsächlich investiert er in die Infrastruktur, baut Schulen, Spitäler und Strassen. Auch die offizielle Schweiz ist beeindruckt.
«Isaias macht mir einen vorzüglichen Eindruck», meldet der Schweizer Botschafter in Äthiopien Anfang der 1990er Jahre nach Bern, wie die «NZZ am Sonntag» recherchiert hat. Die Eritreer, die während des Befreiungskrieges vor allem in den 1980er Jahren in die Schweiz gekommen sind, bejubeln den Rebellenführer erst recht. Doch schon bald zeigt sich, dass Afewerki zum Diktator wird. Er beherrscht sein Land mit teilweise brutalen Methoden, beispielsweise einem unbefristeten Militärdienst.
Eritreischer Staat treibt in der Schweiz Geld ein
Die Schweiz und andere Länder hätten lange nicht realisiert, wie sich diese Diktatur auf die Diaspora und ihre Strukturen auswirkten, sagt Wolbert Smidt: «Niemand hat sich ernsthaft für die Konflikte am Horn von Afrika interessiert.»
Dieses Gespür fehle bis heute, sagt Smidt. So erhielt der Präsident von Äthiopien, Abiy Ahmed, 2019 den Friedensnobelpreis für die scheinbare Aussöhnung mit Eritrea. Dabei war diese für Abiy vor allem ein Vorwand, um sich die Unterstützung eritreischer Truppen bei der blutigen Niederschlagung des sich ihm widersetzenden Regionalstaates Tigray zu sichern. Inzwischen ist der Konflikt zum Nachbarland wieder aufgebrochen, und auch Abiy Ahmed entwickelt sich zum brutalen Diktator.
Smidt kritisiert die europäische Politik für solche Fehleinschätzungen und deren Folgen scharf: Sie habe es beispielsweise zugelassen, dass eritreische Konsulate zu Filialen zum Geldeintreiben geworden seien. Jeder Eritreer im Exil ist verpflichtet, zwei Prozent des Einkommens abzugeben. Tatsächlich gab es in der Schweiz schon vor über zehn Jahren Hinweise, wonach die eritreische Regierung hierzulande Geld eintreibt.
Doch nichts geschah. Mitte des letzten Jahrzehntes kam es deswegen sogar zu Ermittlungen gegen das eritreische Generalkonsulat in Genf. Das Fedpol reichte Strafanzeige ein, doch die Bundesanwaltschaft verzichtete auf ein Verfahren. Die von Eritrea erhobene Diaspora-Steuer sei legal, argumentierte sie. Inzwischen wird immer deutlicher, mit welch brutalen Mitteln Afewerkis Helfer in der Schweiz sicherstellen, dass Geld in die Heimat fliesst.
Und nicht nur das: Es gibt Hinweise darauf, dass das eritreische Regime die Community im Ausland durch gezielt eingeschleuste Spitzel kontrolliert und ausspioniert. Laut einem Artikel der CH-Media-Zeitungen vom letzten August soll Eritrea Informanten installiert haben, die als Dolmetscher für die Befragung durch das Staatssekretariat für Migration (SEM) arbeiten. Auf Anfrage der NZZ erklärt das SEM, solche Vorwürfe hätten sich bis jetzt nicht bestätigt.
Junge, oft traumatisierte Eritreer
Bekannt ist zudem, dass das Afewerki-Regime die Papierbeschaffung, wie sie zum Beispiel für die Eheschliessung notwendig ist, zur Geld- und Informationsbeschaffung nutzt. «Damit liefern die europäischen Demokratien der eritreischen Diktatur Zwangsmittel in die Hand, die die Regierung nach Gutdünken ausnutzen kann», sagt Smidt. Indem die Schweiz von Eritreern und Eritreerinnen Ausweispapiere verlange, kollaboriere sie mit Afewerkis Diktatur, werfen auch junge Flüchtlinge den Schweizer Behörden vor.
Dass Isaias Afewerkis Einfluss bis nach Europa unterschätzt wurde, blieb lange Zeit weitgehend folgenlos. Doch mit der fortschreitenden Militarisierung kamen ab etwa 2010 immer mehr Menschen nach Europa und in die Schweiz. Die sklavenähnliche Zwangsrekrutierung ist einer der Haupttreiber für die Flüchtlingswellen aus Eritrea. In der Schweiz realisieren junge, oft traumatisierte Eritreer, wie weit Afewerkis langer Arm reicht.
Hier treffen sie auf eine Community, deren Flucht Jahrzehnte zurückliegt – in einer Zeit, als die Menschen von den Machthabern Äthiopiens unterdrückt und verfolgt wurden. Bis heute verehren sie Isaias Afewerki als Befreier. In zahlreichen Vereinen sind sie gut organisiert. Auf Bildern und Videos auf Social Media ist zu sehen, wie Afewerkis Anhänger in der Schweiz feiern, zum Beispiel bei der Veranstaltung am 31. März in Gerlafingen.
Videos von Regimekritikern aus aller Welt
Überall sind eritreische Flaggen zu sehen, die Menschen tragen gelbe T-Shirts und bekennen ihre Verbundenheit zum offiziellen Eritrea. Es sind auch jüngere Anhängerinnen und Anhänger mit dabei: Die Kinder der Flüchtlinge der ersten Generation. Auch sie, in der Schweiz geboren und oft mit Schweizer Pass, stehen häufig hinter Afewerki.
Die Asylsuchenden, die vor Isaias Afewerki geflüchtet sind, empfinden solche Veranstaltungen als reine Propaganda und Provokation. Man müsse sie verbieten, meinen sie. Niemals würde die Schweiz solche Feiern zu Ehren Putins akzeptieren, ärgerte sich ein Vertreter des der Opposition nahestehenden «Eritreischen Medienbundes» kürzlich gegenüber SRF.
Der Basler Anwalt Hans-Ulrich Stauffer, der die Entwicklung Eritreas seit Jahren verfolgt und Verbindungen in die Community pflegt, beobachtet, dass sich unter den Regimekritikern im Ausland seit einigen Jahren vermehrt Strukturen bilden, nicht zuletzt, um Anlässe der Regimetreuen zu stören. Unter dem Hashtag #brigadenhamedu oder #bluerevolution finden sich auf Tiktok Hunderte von Videos von Regimekritikern aus aller Welt.
Stauffer vermutet, dass ein Teil von ihnen bereits hoch politisiert in die Schweiz kommt. Es gebe sogar Gerüchte, wonach die frühere äthiopische Regierung auf diese Weise die Opposition stärken wollte, um Afewerki zu destabilisieren. Viele eritreische Asylsuchende kommen via Tigray nach Europa.
Aus Sicht von Smidt gibt es neben dem Zustrom von Regimegegnern aber noch einen anderen Grund, weshalb vermehrt Konflikte im Ausland aufflammen. Isaias Afewerki ist 78 Jahre alt, und das Ende seiner Herrschaft ist absehbar. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Diktator die Übergabe der Macht an seinen ältesten Sohn Abraham Isaias Afewerki bereits vorbereitet.
Ein Appell von Bundesrat Jans
Für die Opposition wäre die Schwächung oder der Tod von Isaias Afewerki die wohl seit Jahren beste Gelegenheit für einen Machtwechsel. Laut Smidt sind die Ausschreitungen im Ausland möglicherweise Vorboten der Erschütterungen, die auf Eritrea nach dem Ende der Amtszeit Isaias Afewerkis drohen: Die Regimegegner positionieren sich.
Das trägt zur Erklärung der Dynamik bei den Ausschreitungen von Ende März in Gerlafingen bei. Zwischen 100 und 200 Eritreer und Eritreerinnen aus der ganzen Schweiz reisen an diesem Tag in die Solothurner Gemeinde, um gegen den Anlass der Regimetreuen zu demonstrieren. Sie markieren damit Präsenz und ziehen die Aufmerksamkeit auf sich.
Teilweise mit Eisenstangen und Steinen bewaffnet, gehen die Gruppierungen schliesslich aufeinander los. Die Polizei muss mit Wasserwerfern eingreifen. Prompt dominiert das Thema am andern Tag die Medienberichterstattung. Auch Bundesrat Beat Jans meldet sich zu Wort und appelliert: «Hört auf, eure politischen Konflikte in der Schweiz auszutragen.»
Nach den Ausschreitungen in Gerlafingen am 31. März meldet sich auch Bundesrat Beat Jans zu Wort. «Hört auf, eure politischen Konflikte in der Schweiz auszutragen», appelliert er an die eritreische Gemeinschaft. Ein öffentlicher Appell des Schweizer Justizministers zu den Verwerfungen innerhalb der eritreischen Gemeinschaft – aus Sicht Wolbert Smidts ist dies ein kleiner Erfolg für Isaias Afewerkis Gegnerinnen und Gegner in der Schweiz.
Er glaubt allerdings nicht, dass sich das Problem rasch lösen lässt: «Es hat Jahre gedauert, bis es zu diesen Konflikten gekommen ist. Es wird wohl auch Jahre dauern, bis sie wieder verschwinden.»