Seit dem Überfall auf die Ukraine beteuert Wien, die Abhängigkeit von russischem Gas beenden zu wollen. Nach der Niederlage in einem Rechtsstreit will Gazprom nun nicht mehr liefern. Für Österreich ist das die Chance zum Ausstieg.
Früher als erwartet muss Österreich ohne russisches Erdgas auskommen. Am Freitagabend informierte der teilstaatliche Energieversorger OMV in einer «urgent market message», dass Gazprom die Energielieferung ab Samstagmorgen um 6 Uhr einstellen werde. Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer bestätigte dies in einer kurzfristig angekündigten Stellungnahme. Er versicherte dabei, die Regierung habe sich auf diesen Fall vorbereitet. «Niemand wird in Österreich frieren und keine Wohnung wird kalt bleiben», versprach Nehammer.
Es ist das eingetreten, worauf wir uns seit Kriegsausbruch in der Ukraine vorbereitet haben. Ich wurde am Nachmittag informiert, dass die Gazprom die Lieferungen an die OMV morgen früh einstellt.
Ich kann versprechen: Niemand wird im Winter frieren, keine Wohnung wird kalt… pic.twitter.com/bsHFl0lbBY
— Karl Nehammer (@karlnehammer) November 15, 2024
Noch ist unklar, ob der Gasfluss schon gestoppt ist. Laut der österreichischen Energie-Regulierungsbehörde der E-Control kam am Samstagmorgen immer noch Gas in Österreich an, wenn auch reduziert.
Hintergrund des Lieferstopps ist ein juristischer Erfolg der OMV: Ein Schiedsgericht verurteilte Gazprom kürzlich zu einer Schadenersatzzahlung in der Höhe von 230 Millionen Euro plus Zinsen an den österreichischen Energieriesen. Die OMV hatte das Verfahren angestrengt, weil es im September 2022 seitens Gazproms zu Unterbrüchen bei den Gaslieferungen an Deutschland gekommen war. Sie hatte am Mittwoch angekündigt, die Summe mit ihren Zahlungspflichten zu verrechnen – also vorerst für das russische Gas nicht mehr zu bezahlen.
Der Konzern rechnete in seiner Mitteilung bereits damit, dass diese Durchsetzung der Schadenersatzzahlung zu «negativen Auswirkung auf die vertraglichen Beziehungen unter dem österreichischen Liefervertrag» bis hin zu einer Einstellung der Gaslieferungen führen könnte. Das ist nun eingetreten.
Eine Zäsur für Österreich
Für Österreich ist das eine Zäsur. Die damals noch staatliche Österreichische Mineralöl-Verarbeitungsgesellschaft (die heutige OMV) schloss bereits 1968 den ersten Gasliefervertrag eines westlichen Landes mit der Sowjetunion ab. Er befeuerte den Wirtschaftsboom in Österreich und machte das Land zu einem Knotenpunkt in Europas Erdgasverbund. Seither wurde das Abkommen immer wieder verlängert – letztmals 2018 zum 50-Jahre-Jubiläum vorzeitig bis 2040. Die Unterzeichnung von der österreichischen Politik in Anwesenheit Wladimir Putins noch pompös gefeiert.
Seit dem Grossangriff auf die Ukraine ist bei der Regierung indes ein Sinneswandel eingetreten. Wien hat sich gemeinsam mit der EU verpflichtet, bis 2027 ganz aus dem russischen Gas auszusteigen. Allerdings wurde Österreich immer wieder vorgeworfen, diesen Weg nur halbherzig zu beschreiten: Auch zweieinhalb Jahre nach Kriegsausbruch bezieht das Land weit über 80 Prozent seiner Gasimporte aus Russland und überwies damit indirekt über 10 Milliarden Euro an die Kriegskasse des Kremls. Andere EU-Länder haben ihre russischen Importe längst deutlich gesenkt.
2022 hätte ein sofortiger Ausstieg Österreichs Wirtschaft noch in eine schwere Krise gestürzt. Seit Monaten erklären aber sowohl die OMV als auch die für die Strom- und Gaswirtschaft zuständige Regulierungsbehörde E-Control, man käme ohne russisches Gas aus. Dass man dennoch an den Importen festhielt, liegt am Vertrag mit Gazprom: Er enthält eine sogenannte Take-or-pay-Klausel, wonach die OMV die vereinbarten Mengen auch dann bezahlen muss, wenn sie das Gas nicht entgegennimmt. Als «Knebelvertrag» bezeichnete die grüne Energieministerin Leonore Gewessler das Abkommen deshalb, aus dem man auszusteigen versuche.
Der Moment dafür wäre vermutlich Ende Jahr ohnehin gekommen: Dann läuft der Transitvertrag zwischen Russland und der Ukraine aus, der diese dazu verpflichtet, russisches Gas über ihr Staatsgebiet nach Europa zu leiten. Eine Erneuerung des Abkommens hat Kiew ausgeschlossen. Hätte Gazprom deshalb nicht mehr wie vereinbart bis zum österreichischen Knotenpunkt Baumgarten liefern können, erfüllte sie den Vertrag nicht mehr und böte der OMV Anlass zur Auflösung. Nun scheint dieser Moment schon anderthalb Monate früher gekommen zu sein.
«Wir lassen uns von Putin nicht in die Knie zwingen»
Vor unmittelbare Probleme dürfte es Österreich allerdings nicht stellen. Während vor zwei Jahren noch die Angst vor einer Gasmangellage mit ungeheizten Wohnungen und stillstehenden Fabriken umging, sei das Land nun vorbereitet, wie Bundeskanzler Nehammer erklärte. Die Gasspeicher seien derzeit mit 94,5 Terrawattstunden (TWh) Erdgas fast vollständig gefüllt – diese Menge entspricht deutlich mehr als dem gesamten Verbrauch des vergangenen Jahres von 75,6 TWh.
Österreich hat zum Ausgleich einer allfälligen Mangellage auch eine strategische Reserve von 20 TWh angelegt. «Wir lassen uns von Putin nicht in die Knie zwingen», so der Regierungschef. Man habe die Hausaufgaben gemacht.
Auch die OMV betont seit Monaten, ihre Kunden vollständig ohne russisches Gas beliefern zu können. Eine eigene Produktionsanlage in Norwegen sowie via Deutschland und Italien bezogenes Flüssiggas garantierten die Versorgung, heisst es seitens des Konzerns. Fachleute bestätigen, dass kein Engpass zu befürchten ist. Die Zeitung «Der Standard» nannte den Lieferstopp in einem Kommentar sogar einen Befreiungsschlag. Zur vollständigen Emanzipation von Russland müssten nun die Lieferverträge aufgekündigt werden, schreibt sie.
Allerdings könnten die Kosten vorübergehend steigen. Am Freitag reagierte der Gaspreis auf die Nachricht aus Österreich, allerdings nur vorübergehend.
Preise am #ttf Gashub in den Niederlanden springen in Reaktion auf die Veröffentlichung der OMV zum Gazprom-Vertrag um 1 €/MWh, inzw liegen sie wieder am vorherigen Niveau. pic.twitter.com/mEBHWDd6pm
— Leo Lehr (@LeoLehr) November 15, 2024