Der NHL-Stürmer hat in Winnipeg wider Erwarten eine zweite Heimat gefunden. Doch der Captain des Nationalteams fürchtet einen Statusverlust des hiesigen Eishockeys.
Nino Niederreiter hat gerade wenig Gründe dafür, unzufrieden zu sein mit sich und dem Leben. Soeben hat er seinen Vertrag bei den Winnipeg Jets vorzeitig um drei Jahre und zwölf Millionen Dollar verlängert. Winnipeg ist die fünfte NHL-Organisation in der Karriere des kräftigen Bündners. Und vielleicht die abseitigste. Niederreiter, 31, hätte nicht gedacht, dass er dort landet, in Manitoba, wo es im Winter bis zu minus 50 Grad kalt werden kann. Aber er hat klaglos akzeptiert, dass die Nashville Predators, das Team seines Spezis Roman Josi, ihn im Februar 2023 ohne Vorwarnung dorthin tauschten.
Niederreiter sagt, er sei ohne Vorurteile in die Stadt gekommen: «Bei einem Auswärtsspiel in der NHL sieht man meistens kaum etwas ausser dem Stadion und dem Hotel. Ich würde es mir nicht anmassen, mir in so kurzer Zeit eine Meinung zu bilden.» Und er fügt an, angenehm überrascht worden zu sein: «Die Stadt bietet alles. Klar ist es kalt, aber daran gewöhnt man sich. Ich habe hier viele Menschen liebgewonnen. Die Organisation kümmert sich erstklassig um die Spieler, das Catering beispielsweise ist das beste der Liga.» Auch Freizeitaktivitäten hat er für sich entdeckt: Manchmal geht er in der Prärie zur Elchjagd. Das Hobby ist Familientradition, den Jagdschein machte er einst als Zeitvertreib während einer Zwangspause bei seinem Engagement bei den Minnesota Wild. Er sagt: «Das Ding ist auf der ganzen Welt gültig. Ausser im Kanton Graubünden . . .»
Mit den Jets ist Niederreiter so etwas wie ein Geheimfavorit auf den Stanley-Cup-Sieg geworden; Winnipeg gehört zu den positiven Überraschungen der Saison. Und der Schweizer spielt dabei als Führungsspieler eine wichtige Rolle, auch wenn er offensiv weniger Verantwortung erhält als noch im Vorjahr; in 47 Spielen hat er 25 Skorerpunkte produziert. Der Trainer Rick Bowness sagt: «Ich liebe seine Vielseitigkeit und seinen Charakter.»
Die sieben kanadischen NHL-Teams warten seit 1993 auf einen Stanley-Cup-Triumph
Die Jets sind die einzige Major-League-Franchise in der 750 000-Einwohner-Stadt, von der Niederreiter sagt, dass man in ihr kaum zwei Schritte machen könne, ohne jemanden mit Jets-Devotionalien anzutreffen. Das Team war schon von 1976 bis 1999 in der NHL aktiv, ehe es nach Phoenix verkauft wurde. Erst 2011 kehrten die Jets zurück, sie übernahmen die Lizenz der Atlanta Thrashers. Die Saisonkarten waren Monate im Voraus ausverkauft, es gab eine lange Warteliste. Seit dem Comeback haben die Jets nur drei Play-off-Serien gewonnen, der Erfolgshunger ist gross; Winnipeg lauert darauf, das erste Team seit den Montreal Canadiens 1993 zu sein, das den Stanley-Cup nach Kanada bringt. Es ist etwas, das Niederreiter mit diesem Team verbindet. Denn auch er wartet in seiner 14. Saison in einer NHL-Organisation auf einen Titel.
Der Stanley-Cup ist das eine von Niederreiters zwei grossen verbleibenden Zielen in Nordamerika. Daneben will er die Marke von 1000 Spielen knacken, die bisher kein Schweizer erreicht hat. Bleibt er gesund, wird die Marke mit dem neuen Vertrag zur Formsache. Nur Josi hat mehr Spiele absolviert als Niederreiter mit seinen 857 Einsätzen. Die Nummer 3 ist der Pionier Mark Streit mit 786 NHL-Spielen. Streit, heute Mitbesitzer und Verwaltungsrat im SC Bern, beendete seine Karriere im Herbst 2017 in Montreal.
Niederreiter liebäugelt dagegen damit, seine famose Karriere dereinst in der National League zu beenden. Er sagt: «Natürlich will ich so lange wie möglich in der NHL bleiben. Aber ich und meine Freundin wollen irgendwann heiraten und eine Familie gründen. Es ist schon in meinem Kopf, zum Abschluss noch ein, zwei Jahre in der Schweiz zu spielen. Und einmal noch einen Spengler-Cup zu erleben.» Also ein Wechsel zum HCD, für den er einst mit 16 unter Arno Del Curto auf Profistufe debütierte? Niederreiter lacht und sagt: «Auf eine Destination würde ich mich heute nicht festlegen. Zürich, Davos, Lugano, Rapperswil, Chur . . . Wer weiss, wo es dann gerade passt.»
Chur, derzeit mit dem Trainer Reto von Arx souveräner Leader in der drittklassigen Myhockey-League, ist Niederreiters Heimatklub. Er ist seinen Wurzeln bis heute stark verbunden, sitzt seit einigen Jahren im Vorstand und verfolgt praktisch jede Partie per Live-Stream. Er hofft, dass Chur bald die finanziellen Mittel für einen Aufstieg in die Swiss League bereitstellen kann: «Das wäre ein Gewinn für das gesamte Schweizer Eishockey. Wir brauchen eine starke, schlagkräftige zweite Liga. Gerade für die jungen Spieler wäre das wichtig. Heute ist es fast unmöglich, den Sprung aus der U 20 direkt in die National League zu schaffen, der Niveauunterschied ist enorm.»
Es ist eine tiefe Sorge, was die Zukunft des Schweizer Eishockeys und nicht zuletzt auch die Nationalmannschaft betrifft, die da aus Niederreiter spricht. Er sagt: «Wir müssen aufpassen, dass wir nicht links und rechts überholt werden. Die Slowaken haben hervorragend gearbeitet, man sieht das an den Ergebnissen bei den Junioren-Weltmeisterschaften. Deutschland macht enorme Fortschritte. Ich habe das Gefühl, dass wir uns blenden lassen und gar nicht so gut sind, wie wir meinen. Die Erwartung ist inzwischen, dass wir an der WM jedes Jahr den Halbfinal erreichen. Aber wenn man sich die Kräfteverhältnisse anschaut, ist das nicht die Realität.» Die Schweiz belegt in der Weltrangliste derzeit Platz 7, vor Tschechien und der Slowakei. Aber der letzte Exploit an einem grossen Turnier liegt lange zurück: Seit der Silbermedaille von Kopenhagen 2018 hat die Schweiz nie mehr einen Viertelfinal überstanden.
Die Zahl der Schweizer NHL-Exporte ist auf nur noch zehn Spieler gesunken
Niederreiter sieht dafür viele Gründe, darunter die in jüngerer Zeit beständig dürren Schweizer Ergebnisse im NHL-Draft, zu denen er sagt: «Seit Nico Hischier 2017 die Nummer 1 war, kam nicht mehr viel.» Was stimmt: Der einzige Schweizer Erstrunden-Draft seit jenem Jahr war 2022 der Verteidiger Lian Bichsel (Nummer 18, Dallas Stars), auch in den späteren Runden wurden kaum noch Schweizer ausgewählt.
Was ein Problem ist, denn die Zahl der NHL-Exporte ist von bis zu 16 auf inzwischen 10 Spieler geschrumpft. Zum Vergleich: Finnland stellt 44, Tschechien 32. Und es ist nicht so, dass im Schweizer Nachwuchs Überflieger im Übermass in Sichtweite sind. Die heutigen Aushängeschilder wie der 33 Jahre alte Josi und Niederreiter werden das Nationalteam nicht ewig anführen können.
Niederreiter erkennt die Gründe für die stockende Entwicklung nicht zuletzt in der National League. Er sagt: «Es ist eine hochattraktive Liga, ein wunderbares, funktionierendes Produkt. Aber in meinen Augen lebt die National League nicht zuletzt von der Qualität der Ausländer, davon, dass die höchsten Löhne in Europa gezahlt und die besten Spieler geholt werden. Ich bin mir nicht sicher, wie stark die Schweizer von der National League profitieren. Vielleicht müsste man sich auch fragen, ob 14 Teams wirklich die richtige Liga-Grösse sind. Aber dafür sind wir wahrscheinlich zu stur; da denkt jeder zu fest in seinem Gärtchen, das ist ein typisch schweizerisches Problem.»
Niederreiter hat die Schweiz als Hockeyspieler 2009 verlassen, als er seine Lehre zum Heizungssanitär abbrach, um die grosse, weite Eishockeywelt zu erobern. Er ist der Heimat eng verbunden geblieben, fungiert als Nationalmannschafts-Captain sowie eine Art Vorzeigeschweizer, der Schwingfeste besucht. Die räumliche Distanz und die abgeschlossene Vermögensbildung – er hat in der NHL bis dato mehr als 40 Millionen Dollar verdient – erlauben es ihm, die Dinge unabhängig und mit unverstelltem Blick beim Namen zu nennen. Vermutlich lohnt es sich, seine Bedenken ernst zu nehmen.