Zug will seine Wohnungsknappheit nicht mit staatlichem Wohnungsbau lösen, sondern mit Anreizen für Private. Bauherren sollen in gewissen Gebieten mehr Freiheiten bekommen, wenn sie viele bezahlbare Wohnungen bauen.
Man stelle sich vor: Eine Frau erbt ein altes Dreifamilienhaus im Aussenquartier einer Schweizer Stadt. Das Gebäude ist in die Jahre gekommen, die Wohnungen sind klein, schlecht isoliert und genügen modernen Ansprüchen nicht mehr.
Die Frau überlegt sich, das Haus zu sanieren. Sie würde auch gerne mehr Wohnraum schaffen, doch mehr als ein zusätzliches Stockwerk ist nicht erlaubt. Die Aussicht auf langwierige Baubewilligungsverfahren und mögliche Einsprachen von Anwohnern lassen sie zögern. Zudem rechnet sich der Umbau kaum, da nur eine einzige zusätzliche Wohnung entstehen würde.
Temporäre Sonderbauzonen
Doch plötzlich ändert sich die Situation. Die Gemeinde hat per Beschluss der Gemeindeversammlung eine weisse Zone eingerichtet. Das Grundstück der Frau liegt nun, wie rund hundert andere Parzellen, neu in dieser weissen Zone.
Eine weisse Zone ist eine temporäre Sonderbauzone, in der bestehende Bauvorschriften für eine begrenzte Zeit ausgesetzt werden, um eine rasche und substanzielle Vergrösserung des Wohnraumangebots zu ermöglichen. In diesen Gebieten dürfen Bauherren dichter und höher bauen, sofern sie einen Teil der neuen Wohnungen zu einer Kostenmiete für die ansässige Bevölkerung anbieten. Nach Erreichen einer festgelegten Anzahl neuer Wohneinheiten tritt die ursprüngliche Bauordnung wieder in Kraft.
Die Frau nutzt diese Chance und schliesst sich mit drei Nachbarn zusammen. Gemeinsam entwickeln sie über alle vier Grundstücke hinweg ein zwanzigstöckiges Wohnhochhaus mit 190 neuen Wohnungen. Einen komplizierten Bebauungsplan braucht die Gruppe nicht. Einsprachen kann sie verhindern, indem sie betroffene Nachbarn entschädigt. Dank der hohen Ausnützung wirft das Projekt genügend Geld dafür ab. Innert dreier Jahre stehen die 190 neuen Wohnungen.
Zug setzt auf private Initiativen
Noch ist die Idee von weissen Zonen eine Wunschvorstellung. Aber sie ist nicht aus der Luft gegriffen – in Zug werden solche Zonen derzeit geprüft.
Der Kanton Zug hat das «Problem», dass er wirtschaftlich sehr attraktiv ist und viele neue Unternehmen und Arbeitskräfte anzieht. Gleichzeitig stockt die Wohnbautätigkeit genauso wie im Rest der Schweiz. Seit Jahren weist Zug die tiefste Leerwohnungsziffer von allen Kantonen auf, während die Mieten schweizweit an der Spitze liegen. Über alle Wohnungsgrössen gesehen kostet eine Mietwohnung in Zug im Schnitt 1850 Franken – das sind 12 Prozent mehr als in Zürich und 31 Prozent mehr als im landesweiten Mittel. Dies führt dazu, dass viele Zugerinnen und Zuger aus dem Kanton vertrieben werden.
Der Regierungsrat will gegensteuern – nicht nur mit mehr Wohnungen, sondern auch mit preisgünstigem Wohnraum für die ansässige Bevölkerung. Anders als Zürich setzt Zug dabei nicht primär auf staatlichen Wohnungsbau, sondern auf bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen. Dazu gehören schnellere Bewilligungsverfahren, die generelle Zulassung von Aufstockungen und gelockerte Vorgaben für Hochhäuser.
Auch unkonventionelle Modelle werden geprüft, wie es in der «Wohnpolitischen Strategie 2030» des Regierungsrats heisst. Gemeint sind damit die weissen Zonen, in denen «mit stark vereinfachten Bauregeln dichter und schneller gebaut werden kann. Initiative Grundeigentümerinnen und Grundeigentümer erhalten für eine begrenzte Dauer grosse Anreize, um sich privatrechtlich zusammenzuschliessen und eine grosse Zahl von Wohneinheiten zu bauen.»
Die Idee stammt aus der Studie «Standortfaktor Wohnen Zug – ein planungsrechtliches und immobilienökonomisches Gedankenexperiment», die im Auftrag der Baudirektion erstellt wurde. Zu den Autoren zählen neben Thomas Held unter anderem der frühere Chef des Tech-Clusters Zug, Beat Weiss, der Immobilienökonom Stefan Fahrländer und der Architekt Peter Märkli.
Wettbewerb unter den Eigentümern
In einer weissen Zone sind höhere und dichtere Bauten erlaubt. Hochhäuser bis 100 Meter sind möglich. Gebäude können direkt nebeneinanderstehen. Die Regeln der Baukunst, das SIA-Normenwesen sowie Vorgaben zur Nachhaltigkeit bleiben in Kraft. Daneben ist das einzige regulierende Instrument ein Plan, der festlegt, wie Freiflächen, Infrastruktur und Gebäudehöhen innerhalb der Zone geordnet werden.
Für Grundeigentümer können diese Sonderregeln lukrativ sein. Die Studienautoren hoffen denn auch, dass unter den Eigentümern ein Wettbewerb darüber entsteht, wer am raschesten möglichst viele Wohnungen erstellen kann. Der Mehrwert kommt dabei nicht nur den Eigentümern zugute. Ein Teil davon muss weitergegeben werden: in Form von preisgebundenen Wohnungen für langjährige Bewohner der Gemeinde und in Form von Entschädigungen für die Nachbarn.
Der Chefökonom von Raiffeisen, Fredy Hasenmaile, hält die Idee für vielversprechend: «Die Vorschläge sind radikal, weil sie auch sehr grosse Bauten zulassen. Aber sie sind nicht zu radikal, weil die Sonderregeln ja nur temporär gelten, bis die vorgegebene Zahl an neuen Wohnungen erreicht ist.»
Laut Hasenmaile hat Zug ein akutes Problem mit Verdrängung. Daher sei es sinnvoll, ein solches Konzept zu testen, um herauszufinden, was funktioniere und wo Schwierigkeiten aufträten. Unklar sei etwa, ob sich private Grundeigentümer tatsächlich zusammenschlössen oder ob sie sich überfordert fühlten. Auch müsse sich erst weisen, ob die Neubauten überzeugten und ob es wirklich gelinge, betroffene Nachbarn so zu entschädigen, dass sie keine Einsprachen erhöben.
Testfall für mutige und radikale Lösungen
Ob und in welcher Form weisse Zonen umgesetzt werden, ist noch offen. Zahlreiche rechtliche Fragen sind ungeklärt – nicht zuletzt diejenige, wie man die ansässige Bevölkerung bevorzugen kann, ohne gegen die Verfassung oder internationale Verträge zu verstossen.
Der Regierungsrat hat die Baudirektion beauftragt, das Konzept im Rahmen der Revision des Planungs- und Baugesetzes (PGB) innerhalb der nächsten drei Jahre zu prüfen. Das neue PGB könnte die rechtliche Grundlage für weisse Zonen schaffen. Entscheidend wird jedoch sein, ob die Gemeinden von der Idee überzeugt werden. Die Kompetenz zur Einführung dieser Sonderzonen liegt am ehesten bei ihnen.
Angesichts der zunehmenden Wohnungsnot könnten weisse Zonen zu einem Testfall für mutige und radikale Lösungen werden. Denn eines ist klar: Die Wohnraumfrage bleibt bestehen – und sie erfordert neue Antworten.