Der Druck aus der eigenen Partei wächst von Tag zu Tag, doch Joe Biden klammert sich noch an die Macht. Sollte er seinen Kampf aufgeben, verspricht die Wahl eines neuen Kandidaten viel Spannung.
Präsident Joe Biden kämpft seit seinem katastrophalen Auftritt an der TV-Debatte mit dem republikanischen Herausforderer Donald Trump Ende Juni um seine politische Zukunft. Eine grosse Mehrheit der Bevölkerung ist laut Umfragen überzeugt, dass dem 81-jährigen Biden die Kraft für eine weitere Amtsperiode im Weissen Haus fehlt. Die Demokraten befürchten laut internen Prognosen ein Debakel am Wahltag im November. Die Zahl der demokratischen Politiker, die offen den Rückzug Bidens fordern, wächst täglich.
Doch Biden ignoriert bis jetzt stur die Realitäten des Alterns und den Druck seiner Partei. Er beharrt auf seiner Überzeugung, der beste Kandidat zu sein, um Trump zu schlagen. Sollte er doch dem Druck seiner Partei nachgeben und auf seine Kandidatur verzichten, beginnt für die Demokraten eine neue Herausforderung: Sie müssen sich rasch auf eine neue Kandidatin oder einen Kandidaten einigen.
Dabei müssen sie nicht nur sicherstellen, dass diese Person für das Amt geeignet und für die Wähler attraktiv ist, sondern dass sie auch alle rechtlichen und finanziellen Hürden überspringt, die sich bei so einem kurzfristigen Kandidatenwechsel ergeben. Sie müssen in Rekordzeit den Wahlkampf auf die neue Person zuschneiden: Am 19. August beginnt der nationale Parteitag in Chicago, an dem die Nomination definitiv erfolgen muss. Bis zum Wahltag bleibt noch etwas mehr als ein Vierteljahr.
Diese Fragen stellen sich den Demokraten, wenn sie einen neuen Präsidentschaftskandidaten bestimmen:
Wie wird eine Ersatzkandidatur bestimmt?
Joe Biden könnte die Delegiertenstimmen, die er in den Vorwahlen gewonnen hat, freigeben und einen Wunschkandidaten empfehlen, zum Beispiel seine Vizepräsidentin. Das wäre der einfachste Weg.
Reguläre neue Vorwahlen durchzuführen ist keine Option, dafür fehlt die Zeit. Es kursiert allerdings die Idee, nach einem möglichen Rückzug Bidens sogenannte Mini-Primaries durchzuführen. Mögliche neue Kandidaten könnten sich dabei am Parteitag den Delegierten zur Wahl stellen.
Ein bitterer interner Streit um die Frage eines neuen Kandidaten würde den Demokraten schaden. Sie haben in dieser Notsituation ein zentrales Interesse daran, Einigkeit zu demonstrieren und nicht Raum für wüste Flügelkämpfe zu schaffen. In der öffentlichen Gunst liegen sie – soweit die Umfragen zum Rennen Trump – Biden noch aussagekräftig sind – deutlich zurück.
Hat Kamala Harris genügend Chancen?
Vizepräsidentin Kamala Harris wird innerhalb der Partei als Problem angesehen, weil sie ähnlich schlechte Umfragewerte wie Biden hat. Sie konnte sich während ihrer Amtszeit wenig profilieren. Das Weisse Haus hat es verpasst oder darauf verzichtet, Harris als Nachfolgerin aufzubauen, was angesichts des hohen Alters des Präsidenten als schwerer Fehler kritisiert wird.
Trotzdem hätte Harris wohl die besten Chancen auf die Präsidentschaftsnomination. Erstens kann die Politikerin darauf verweisen, dass sie 2020 mit einem soliden Volksmehr zur Vizepräsidentin gewählt wurde. Zweitens wäre es riskant, die erste Vizepräsidentin mit afroamerikanischen und asiatischen Wurzeln zu übergehen. Wichtige demokratische Wählergruppen könnten damit vergrault werden.
In den amerikanischen linksliberalen Medien wird Harris als Kandidatin derzeit aufgebaut: Ihr werden Qualitäten attestiert, die sie für eine Präsidentschaft befähigen, wie ihre Vergangenheit als harte, aber faire Generalstaatsanwältin von Kalifornien und ihre Fähigkeit, in Debatten stark aufzutreten. Aktuelle Umfragen geben ihr immerhin ähnliche Chancen im Kampf gegen Donald Trump wie Joe Biden.
Was ist mit anderen möglichen Kandidaten?
In den Medien gibt es Spekulationen über drei demokratische Gouverneure: Gavin Newsom (Kalifornien), Gretchen Whitmer (Michigan) und Joe Shapiro (Pennsylvania). Es fehlt jedoch jeglicher Hinweis, dass sie tatsächlich antreten möchten. Whitmer hat bereits erklärt, dass sie kein Interesse habe, ins Weisse Haus zu ziehen.
In den Teilstaaten gibt es zu den Erfolgschancen der drei potenziellen Kandidaturen keine Erhebungen. In einer nationalen Umfrage von Reuters/Ipsos schneiden alle potenziellen Anwärter schlechter ab als Biden und Harris – ausser Michelle Obama, die kein Interesse an einer Kandidatur zeigt. Zu bedenken ist, dass die Gouverneure national eher unbekannt sind; ob ein kalifornischer Gouverneur die Latinos in Arizona und die weissen Arbeiter in Wisconsin begeistern kann, müsste sich noch erweisen.
Was geschieht mit der Wahlkampfkasse Joe Bidens?
Das ist ein kritischer Punkt. Die Wahlkampfkasse von Joe Biden und Kamala Harris kann nicht einfach geplündert werden. Deren Kampagne hat bisher rund 230 Millionen Dollar gesammelt. Mehr als die Hälfte des Geldes ist bereits an die Partei und demokratische Organisationen verteilt worden. Ende Mai befanden sich noch rund 91 Millionen auf dem Konto der Biden/Harris-Kampagne. Rechtliche und finanzielle Gründe begünstigen deshalb die Option Kamala Harris als neue Spitzenkandidatin.
Könnte Biden zum Rückzug gezwungen werden?
Das würde kompliziert. Laut den Regeln der Demokratischen Partei müssen die nach den Vorwahlen Biden zugeteilten Delegierten für dessen Nominierung stimmen. «Die Delegierten müssen nach bestem Wissen und Gewissen die Meinung derjenigen widerspiegeln, die sie gewählt haben», heisst es da. Diese vage Formulierung der Regel lässt den Demokraten ein Schlupfloch offen, um notfalls «treulos» zu werden.
747 der 4696 Parteitagsdelegierten sind sogenannte Superdelegierte, die ihre Stimmen frei vergeben können, allerdings erst ab einem allfälligen zweiten Wahlgang. Diese privilegierte Gruppe setzt sich aus Amtsträgern und hohen Parteifunktionären zusammen.
Ein sogenannter «wilder» Parteitag, an dem kurzfristig eine neue Kandidatur ausgehandelt wird, ist also durchaus denkbar. Ein Kandidat braucht mindestens 300 Unterschriften, um am Parteitag im August auftreten zu können, auch wenn er sich zuvor nicht an den Primaries beteiligt hat. Dies wäre eine «wilde» Bewerbung; die Kandidaten würden an Ort um die Stimmen der rund 4000 Delegierten buhlen. Zuletzt käme es zur Nomination eines neuen «Tickets» aus Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidat.
Gibt es historische Beispiele für einen «wilden» Parteitag?
Eigentlich waren alle Parteitage vor 1970 «wild»: die Nominierungen wurden direkt durch die Parteidelegierten vorgenommen und nicht wie heute in Vorwahlen demokratisch bestimmt. Die Vorwahlen waren damals vor allem ein Schaufenster für die Kandidaten, um sich innerhalb der Partei zu profilieren.
Doch am Parteitag von 1968 in Chicago eskalierte die Lage: Der damals amtierende Präsident Lyndon B. Johnson stieg im März unerwartet aus dem Rennen für seine Wiederwahl, und im Juni dieses «annus horribilis» wurde der populäre Gegenkandidat Bobby Kennedy ermordet. Am Parteitag brachen offene Flügelkämpfe aus, während sich auf der Strasse die Gegner des Vietnamkriegs und die Polizei Strassenschlachten lieferten. Am Ende unterlag der demokratische Kandidat Hubert Humphrey dem Republikaner Richard Nixon.
Chicago 1968 dient den Demokraten heute als abschreckendes Beispiel.