Brüssel will Bern keine einseitige Schutzklausel zugestehen, wie es beim EWR der Fall war. Politiker denken an einen Plan B, um die Zuwanderung notfalls trotzdem zu drosseln.
Die Erwartungen an die Schweizer Unterhändler sind gross. Einflussreiche Politiker wie der FDP-Präsident Thierry Burkart und der Mitte-Präsident Gerhard Pfister haben sich für eine Schutzklausel ausgesprochen, mit der Bern bei einer übermässig starken Zuwanderung die Personenfreizügigkeit beschränken könnte. Der frühere Staatssekretär Michael Ambühl hat bereits einen konkreten Vorschlag eingebracht: Er will ab einem gewissen Schwellenwert die Zuwanderung drosseln. Die EU hat jedoch vor kurzem signalisiert, dass eine Schutzklausel, die die Schweiz einseitig anrufen könnte, zu weit gehe.
Dabei wäre eine derartige Regelung keine Premiere. Die Schweiz hat eine solche sogar mitausgehandelt – im Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) von 1992. Dieses sieht vor, dass die Vertragsparteien (Norwegen, Liechtenstein, Island und die EU) einseitig geeignete Schutzmassnahmen ergreifen können, wenn «wirtschaftliche, gesellschaftliche oder ökologische Schwierigkeiten sektoraler oder regionaler Natur» auftreten. Die Partei, die Massnahmen ergreift, muss diese zeitlich und inhaltlich möglichst beschränken. Zudem muss sie den Gemischten Ausschuss mit der EU informieren. Dieses diplomatisch-technische Gremium soll eine Lösung suchen, die für alle Seiten akzeptabel ist.
Die Schutzklausel im EWR ist nicht spezifisch auf den freien Personenverkehr beschränkt, sondern gilt für alle Sektoren des Binnenmarkts. Sie geht jedoch weiter als jene, die das bilaterale Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU umfasst. Diese sieht vor, dass die beiden Parteien bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen zusammen im Gemischten Ausschuss Abhilfemassnahmen prüfen.
Die EU hat sich verändert
Die Schutzklausel im EWR ist nicht toter Buchstabe geblieben. Liechtenstein habe diese bei der Zuwanderung einmal angewandt, sagt Georges Baur, Forschungsleiter am Liechtenstein-Institut. Für das Fürstentum galt eine Einschränkung des Niederlassungsrechts über die Personenfreizügigkeit, die im Jahr 1999 auslief. Vaduz wendete die Schutzklausel an, um zu verhindern, dass die Einwanderung plötzlich stark zunahm. Parallel diskutierte die Regierung mit Brüssel über eine Nachfolgeregelung. «Die EU war gar nicht begeistert, machte aber nichts», sagt Baur. Sie sei grundsätzlich bereit gewesen, die Niederlassungsbeschränkung weiter zu akzeptieren. Es sei absehbar gewesen, dass die Schutzmassnahme nur befristet gelten würde.
Doch Liechtenstein ist nicht die Schweiz. Diese hat den Beitritt zum EWR im Jahr 1992 abgelehnt. Heute scheint die EU nicht mehr bereit, Bern eine vergleichbare Schutzklausel zuzugestehen. Die Europäische Union hat sich seit den Verhandlungen über den EWR Ende des letzten Jahrhunderts verändert. Namentlich die osteuropäischen Mitgliedstaaten, die ab dem Jahr 2004 beigetreten sind, haben eine neue Dynamik gebracht.
Die EU-Kommission verteidigt die Personenfreizügigkeit dogmatisch. Aus Brüsseler Sicht könnte eine Ausnahme für die wirtschaftlich prosperierende Schweiz das Prinzip auch unionsintern infrage stellen. Manch ein Mitgliedsstaat wäre wohl ebenfalls an einer Art Schutzklausel interessiert. So umfasst die Koalitionsvereinbarung der niederländischen Regierung eine Einschränkung der Personenfreizügigkeit. Die Niederlande gehören zu jenen EU-Staaten, die ähnlich wie die Schweiz von einer starken Nettomigration betroffen sind.
Nicht helfen dürfte der Schweiz zudem, dass ihr die EU in den Sondierungen über ein neues bilaterales Vertragspaket entgegengekommen ist. Brüssel hat ihr bei der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) Ausnahmen in Aussicht gestellt. Es geht etwa darum, die Einwanderung in den Sozialstaat zu verhindern. Die EWR-Staaten haben die UBRL dagegen weitgehend übernommen.
Doch die Diskussion über eine Schutzklausel ist nicht gelaufen. Im Verhandlungsmandat hat der Bundesrat den Unterhändlern den Auftrag erteilt, die bestehende Regelung im Freizügigkeitsabkommen (FZA) zu konkretisieren. Das lässt Spielraum. Denkbar wäre, dass die Schweiz und die EU zunächst versuchen müssen, im Gemischten Ausschuss einvernehmlich eine Lösung zu finden. Nur wenn dies nicht gelingt, könnte die Schweiz Massnahmen ergreifen. Eine solche Klausel läge irgendwo zwischen jener des EWR und der heutigen Regelung im FZA.
Die Schweiz und die EU dürften die schwierige Frage erst am Schluss klären. Der Stand der Verhandlungen war am Mittwoch auch im Bundesrat kurz ein Thema. Dieser werde regelmässig informiert, sagte der Regierungssprecher Andrea Arcidiacono vor den Medien. Die nächste Standortbestimmung sei im Herbst vorgesehen.
Innenpolitische Drohkulisse
Eine Schutzklausel würde die innenpolitischen Chancen eines neuen Vertragspakets erhöhen. Befürworter einer Einigung mit der EU wie der FDP-Nationalrat und Unternehmer Simon Michel bringen deshalb bereits einen Plan B ins Spiel. «Wir schreiben selber eine Schutzklausel in die Verfassung oder ins Ausländergesetz, mit der wir im Notfall die Zuwanderung eigenständig und befristet bremsen können», sagte er der «NZZ am Sonntag».
Michel will dies im Rahmen eines Gegenvorschlags zur SVP-Initiative gegen eine 10-Millionen-Schweiz regeln. Wenn die EU nicht einverstanden wäre, könnte sie den Streitbeilegungsmechanismus in Gang setzen, der mit dem neuen Vertragspaket geplant ist. Das Prozedere würde jahrelang dauern. Während dieser Zeit könnte die Schweiz die Zuwanderung kontrollieren.
Michel zielt damit in eine ähnliche Richtung wie Gerhard Pfister. Der Mitte-Präsident hatte in einem Interview mit der NZZ im August eine einseitige Schutzklausel vorgeschlagen. «Dass die EU uns am Verhandlungstisch entgegenkommen wird, halte ich für wenig realistisch», sagte der Zuger. Deshalb sehe er keine andere Option.
Für die Schweizer Unterhändler dürfte die innenpolitische Drohkulisse ein zweischneidiges Schwert sein. Sie liefert zwar ein starkes Argument dafür, dass Bern in diesem Bereich ein Zugeständnis der EU braucht. Die Schweiz signalisiert damit aber auch, dass sie sich notfalls um das Ergebnis foutiert, während die Verhandlungen noch laufen.
Deshalb äusserten sich die Freisinnigen kritisch zu Pfisters Vorschlag. Dieser sei unehrlich, sagte der FDP-Vizepräsident Andrea Caroni. Niemand unterschreibe einen Vertrag im Wissen, dass das Gegenüber diesen brechen wolle. Michels Wortmeldung zeigt nun aber, dass das letzte Wort in der FDP nicht gesprochen ist, wenn sich die EU kein Jota bewegt.
Es gelte das Resultat der Verhandlungen abzuwarten, sagt der Luzerner FDP-Ständerat und Aussenpolitiker Damian Müller. Erst dann lasse sich beurteilen, ob es notfalls auch unilaterale Massnahmen brauche. Eine Schutzklausel sei in der innenpolitischen Diskussion aber ein wichtiger Aspekt. «Die Schweizer Unterhändler wissen, dass es in diesem Bereich einen Lösungsansatz braucht.» Sonst werde das Vertragspaket einen sehr schweren Stand haben.