Immer mehr Kantone und Parteien wollen in den Klassenzimmern wieder mehr Leistung – und Ruhe. Die integrative Schule und das Frühfranzösisch stehen zur Diskussion.
Was passiert da gerade in der Schweizer Bildungslandschaft? Nach Jahrzehnten mit vielen Reformen, die zur Stärkung des Bildungssystems als alternativlos angesehen wurden – und deshalb ziemlich geräuschlos implementiert werden konnten. Nun wächst nicht nur der Widerstand, Änderungen sind tatsächlich wieder denkbar.
Es wächst die Einsicht, dass nicht jede Neuerung den erhofften Erfolg gebracht hat – auch wenn es stets gut gedacht gewesen ist. Kompakt zusammengefasst waren die Anliegen immer ähnlich: Für die Schüler sollte das System gerechter gemacht werden, damit jeder einzelne bestmögliche Chancen erhält.
Herausgekommen ist das Gegenteil, wie der Bildungsforscher Stefan Wolter im Interview mit der NZZ erläutert hat. Obschon die Schweiz so viel Geld in die Bildung investiere wie nie zuvor, seien die Kompetenzen im Land in diesem Jahrtausend nicht gestiegen. Das müsste aber zwingend der Fall sein. Wolter sagt: «Höhere Bildung sorgt für bessere Resultate. Das heisst nichts anderes als: De facto sind wir in der Schweiz alle schlechter geworden.»
Alle stehlen sich aus der Verantwortung
Was Wolter besonders kritisiert: dass das zu wenig interessiere. «Die Schweiz hat eine Aversion gegen das Testen.» Das sei für viele ein Vorteil, weil man behaupten könne, was man wolle. «Es gibt bei uns Reformen, die gross angekündigt und mit schönen Worten beschrieben werden – aber nie wird die Abmachung getroffen, welches Ziel damit eigentlich erreicht werden soll, und noch viel wichtiger: wie man die Zielsetzung einmal auch überprüfen will.» So könnten sich alle aus der Verantwortung stehlen.
Man kann sich die Fragen stellen: Was sind die Errungenschaften der integrativen Schule, wo sind zusätzliche Probleme entstanden? Gibt es wirklich einen Fortschritt (und bessere Kenntnisse), wenn Kinder ab der dritten Klasse in Französisch unterrichtet werden?
Dass die Probleme, die die Reformen mit sich gebracht haben, nun wieder diskutiert werden und mit Blick auf geplante Änderungen eine wichtige Rolle spielen: Das zeigt sich zunächst im Kleinen. Ende Februar hat der Bund angekündigt, dass er in der Berufsbildung nun doch an der (schriftlichen) Abschlussprüfung festhalten wolle. Die Idee, nur noch auf Erfahrungsnoten und eine Abschlussarbeit zu setzen, wurde verworfen. Nun soll zum Ende der Ausbildung weiterhin Wissen abgefragt werden: Die Kantone können neu zwischen einer schriftlichen und mündlichen Prüfung wählen.
Nun muss man festhalten: Die Berufsbildung ist in der Schweiz immer noch ein Königsweg, zwei Drittel machen nach der Schule eine Lehre. Ein weltweit bewundertes System. Daran hätte sich kaum etwas geändert, selbst wenn der Bund an seiner Idee festgehalten und die Abschlussprüfung abgeschafft hätte. Dafür ist die Wirtschaft zu sehr in die Berufsbildung involviert.
Der (politische) Zweifel am Plan war in der Rückbesinnung wohl eher eine Kompensation für frühere Versäumnisse: Zu lange wurde zugeschaut, obschon sich Reformen nicht so ausgewirkt hatten wie erhofft.
Neue Bündnisse
Das hat sich geändert. Besonders im Fokus steht das grösste Projekt: die integrative Schule. Anfang März hat sich der Zürcher Kantonsrat für eine Abkehr von ebendieser ausgesprochen. Nicht nur die SVP und die FDP waren dafür, sondern auch die GLP. Christoph Ziegler, grünliberaler Parlamentarier und Lehrer, sagte der NZZ: «Als Sekundarlehrer muss ich einfach sagen: Das System funktioniert so nicht mehr.» Dass nicht nur bürgerliche Parteien diese Kehrtwende vollziehen, ist neu. Auch darum werden der im letzten Jahr eingereichten Förderklasseninitiative intakte Chancen eingeräumt. Das Anliegen fordert die Rückkehr zum separativen Unterricht.
Die gleiche Forderung hätte wohl auch in Basel-Stadt eine Mehrheit erlangt. Die Regierung machte deswegen einen Gegenvorschlag, der Förderklassen ermöglicht, wo sie nötig sind. Ab kommendem Schuljahr sollen die ersten separativen Klassen wieder eingeführt werden. Das kann nicht überraschen. Eine Umfrage mit knapp 800 Lehrern hatte zuvor ergeben, dass 90 Prozent der Meinung sind, «dass die integrative Schule, wie sie heute durchgeführt wird, überdacht und korrigiert werden muss».
Über die Zukunftsfähigkeit dieses Konzepts wird auch in anderen Kantonen neuerdings lebhaft diskutiert. Auch der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid sagte kürzlich in der NZZ: «Das integrative Schulmodell ist in der aktuellen Form gescheitert. Die integrative Schule verliert ihren Sinn, wenn das Niveau und die Qualität der Regelklasse wegen der Integration sinken.» Das mag noch wenig erstaunen, gehört Schmid doch der SVP an, die schon immer gegen die integrative Schule war.
Aber die Volkspartei ist nicht mehr allein. In Luzern stellte auch die kantonale SP kritische Fragen – und verlangte von der Regierung, dass das System überprüft werden sollte. Und auch im Kanton Aargau wächst der Widerstand. Dort ist es die kantonale FDP, die wieder mehr auf Separation setzen möchte.
Musterbeispiel FDP
Der Freisinn ist ohnehin das Musterbeispiel für das veränderte Klima in Bildungsfragen. Lange nicht im Fokus, legt die Partei unter Präsident Thierry Burkart einen Schwerpunkt auf dieses Thema. Burkart machte es zur Chefsache. Er war es, der in einer vorher ungekannten Klarheit sagte, dass die integrative Schule gescheitert sei. Dabei lässt es die FDP nicht bewenden. Sie wählt in der offiziellen Kommunikation markige Worte: Die Volksschule sei «demontiert», man müsse sie «retten» vor linken Bürokraten und Politikern, die sie mit «konsequenter Aushöhlung der Grundkompetenzen» an den Anschlag gebracht hätten.
Das gilt nicht nur für die integrative Schule, sondern beispielsweise auch für Fremdsprachen ab der dritten Klasse, die die FDP ebenfalls beerdigen will. Anders als bei der inklusiven Schule ist die Kritik am Frühfranzösisch (und dem Frühenglisch) so alt wie die Idee selbst. Es gibt Kantone, die Frühfranzösisch gar nie eingeführt haben (Uri, Appenzell Innerrhoden), es wird dort erst in der Sekundarstufe unterrichtet. Andere beginnen zuerst mit Englisch und erst ab der fünften Klasse mit Französisch.
Neuerdings gibt es allerdings in mehreren Kantonen die Absicht, dass das Frühfranzösisch ganz gekippt und in die Oberstufe verlagert werden soll. Es handelt sich nicht mehr um chancenlose Vorstösse, sondern um mehrheitsfähige Allianzen. Zum Beispiel in Zürich, Bern, Luzern, St. Gallen, Graubünden, Thurgau und Basel-Stadt.
Viele Lehrer wollen nicht mehr jedes Experiment mitmachen (Farben statt Noten, zum Beispiel) – und sie haben nun in der Politik auch wieder Mitstreiter gefunden, die die Missstände angehen wollen. Noch sind das keine fixen Mehrheiten. Am Anfang jeder Veränderung steht die Einsicht. Und die heisst: Ein Viertel der 15-Jährigen kann nicht richtig lesen, schreiben, rechnen. Obschon der Personalbedarf pro Schüler laut Bundesamt für Statistik knapp 15 000 Franken im Schnitt betrug – 50 Prozent mehr als am Anfang dieses Jahrtausends.