In seiner Karriere wurde er schon oft unterschätzt. Als Anführer des Widerstands gegen die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Imamoglu aber wächst Özgür Özel über sich hinaus.
Vor einem Jahr hätte Özgür Özel beinahe seine Stimme verloren. Wegen einer Schädigung der Stimmbänder musste sich der Vorsitzende der grössten türkischen Oppositionspartei im April 2024 einer langen Operation unterziehen. Nun braucht er seine Stimme mehr denn je.
Seit der Festnahme des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoglu, spricht der Vorsitzende der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) jeden Tag über den «Putsch von oben». Heiser ist er dabei geworden, und bei der Grossdemonstration am vergangenen Samstag in Istanbul überschlug sich seine Stimme manchmal wie bei einem Jugendlichen im Stimmbruch. Versagt aber hat die Stimme nie.
Besetzung des Rathauses in Istanbul
Özel weiss, dass er es ist, der Recep Tayyip Erdogan die Stirn bieten muss, solange Imamoglu, der Präsidentschaftskandidat der CHP, im Gefängnis sitzt. Diese Aufgabe meistert der 50-jährige Apotheker aus dem Umland von Izmir, der erzsäkularen Millionenstadt an der Ägäisküste, bis jetzt mit Erfolg.
Noch am Tag von Imamoglus Festnahme besetzte Özel mit seinem Stab das Rathaus von Istanbul symbolisch. Vom Balkon aus rief er die Bevölkerung auf, den Protest auf die Strasse zu tragen. Jeden Abend versammelten sich darauf Zehntausende vor dem Gebäude im historischen Zentrum der Metropole am Bosporus. Die klare Botschaft an die Regierung lautete: Ihr könnt uns die Kontrolle über Istanbul nicht entreissen!
Tatsächlich ist Erdogan bisher davor zurückgeschreckt, einen Zwangsverwalter für die grösste und wichtigste Stadt des Landes einzusetzen. Die Amtsgeschäfte hat ein CHP-Mitglied übernommen. Nicht nur Özel führt diesen Erfolg auf die Massenproteste zurück.
Ein weiterer Beweis der Stärke der CHP folgte bei der parteiinternen Wahl Imamoglus zum Präsidentschaftskandidaten wenige Tage nach der Festnahme. Özel rief alle Bewohner der Türkei auf, aus Solidarität ihre Stimme abzugeben. Mehr als 15 Millionen Menschen folgten dem Ruf.
Überraschende Wahl an die Parteispitze
Erdogan hat unterschätzt, so ist man sich in der Türkei einig, wie gross der Ärger in der Bevölkerung über seinen dreisten Angriff auf die Demokratie ist. Und er hat Özgür Özels Fähigkeit unterschätzt, diesen Ärger politisch zu nutzen.
Unterschätzt zu werden, ist für Özel keine neue Erfahrung. Als er im November 2023 bei einer turbulenten Kampfabstimmung zum CHP-Vorsitzenden gewählt wurde, galt er nur als Steigbügelhalter Imamoglus. Die Stimmung in der Partei war damals schlecht. Trotz der katastrophalen Wirtschaftslage war es der CHP unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu nicht gelungen, Erdogan und dessen AKP in der nationalen Wahl zu schlagen.
Dennoch wollte der Amtsinhaber an seinem Posten festhalten. Imamoglu, der populäre Bürgermeister von Istanbul, trat nicht selber an, koordinierte aber im Hintergrund die Wahl Özels. Einmal an der Parteispitze, trat dieser rasch aus dem Schatten seines Mentors heraus.
«Ich gehe keinem Kampf aus dem Weg»
Mit seinem freundlichen Blick, dem biederen Scheitel und der Drahtbrille wirkte Özel immer etwas zu unscheinbar und zu ungefährlich für die harsche türkische Politik. Die Tätigkeit als Apotheker und die spätere Laufbahn im Verband der türkischen Pharmazeuten trugen das Ihre zum Eindruck bei. Özel galt als freundlicher, aber farbloser Funktionär und Familienvater; er ist verheiratet und hat eine Tochter.
Die Brille ist seit einer Augenoperation vor einem Jahr weg, und auch die Haare trägt Özel kürzer und dynamischer. Den Imagewandel verpasste er sich im Wahlkampf für die Lokalwahlen im Frühjahr 2024. Bei dem Urnengang fügte die CHP Präsident Erdogan die schwerste Niederlage seiner Karriere zu. Zum ersten Mal seit 47 Jahren wurden die Kemalisten zur wählerstärksten Partei.
«In dem Internat, das ich besuchte, wurde viel geprügelt», erzählte Özel kurz vor dem historischen Erfolg einer türkischen Journalistin. «Ich habe gelernt, keinem Kampf aus dem Weg zu gehen.» Wendigkeit und keine Angst vor Körperkontakt kamen ihm auch als Kreisläufer der universitären Handballmannschaft zugute, in der er einige Jahre spielte.
Dass er kämpfen kann, hatte Özel bereits früher unter Beweis gestellt. 2014 forderte er als Parlamentarier Erdogans Regierung auf, Untersuchungen zur Sicherheit im Bergbau anzustrengen. Die Regierung wischte die Eingabe vom Tisch. Nur zwei Monate später ereignete sich in der Nähe von Özels Geburtsstadt Manisa das grösste Minenunglück in der türkischen Geschichte; mehr als 300 Bergarbeiter verloren ihr Leben. Als Wortführer der riesigen Empörung wurde Özel landesweit bekannt.
Aus seiner Schulzeit spricht Özel leidlich deutsch. Zur Führungsebene der SPD, einer Schwesterpartei der CHP innerhalb der Sozialistischen Internationalen, pflegt er enge Kontakte.
Im Visier der Regierung
Mittlerweile nimmt ihn auch der Präsidentenpalast ernst. Die regierungsnahen Medien erwähnen die Proteste kaum. Özel wird aber auffällig oft ins Visier genommen, auch von Erdogans Kommunikationschef. Er jammere beim Ausland und ziehe die Türkei in den Schmutz, sagte dieser nach einer Reihe von Interviews, die Özel westlichen Medien gegeben hatte.
Insgesamt laufen fünf Prozesse gegen die CHP und ihre Führung. Im Fokus stehen dabei angebliche Unregelmässigkeiten bei Özels Wahl zum Parteivorsitzenden. Im Extremfall könnte die CHP unter Zwangsverwaltung gesetzt werden. Um dem zuvorzukommen, hat Özel auf den nächsten Sonntag kurzfristig einen ausserordentlichen Parteitag anberaumt, an dem die Wahl wiederholt werden soll. Wie mit der Zwangsverwaltung von Istanbul könnte er auch damit Erfolg haben.
Die grösste Herausforderung wird aber bleiben, die öffentliche Empörung und den Druck der Strasse aufrechtzuerhalten. Die Grossveranstaltung in Istanbul vom letzten Samstag war ein Auftakt. Nun soll es jede Woche in einer anderen türkischen Stadt eine Kundgebung geben. Ausserdem wurde eine landesweite Unterschriftenkampagne zur Freilassung Imamoglus lanciert.
Nur deswegen wird Erdogan aber kaum einknicken. Die Schraube der Repression kann der Präsident jederzeit weiter anziehen. Seit Beginn der Proteste wurden fast 2000 Personen festgenommen.
In einem Interview mit der Deutschen Welle erklärte Özel kürzlich, dass seine Partei eine andere Person aufstellen würde, falls Imamoglu bei den nächsten Wahlen tatsächlich nicht antreten dürfe. Der aussichtsreichste Kandidat dafür hiesse wohl Özgür Özel.