Mit seiner Visualisierung der Fragilität von Gletschern macht Refik Anadol auf den Klimawandel aufmerksam. Zugleich demonstriert sein Werk, das dem Kunsthaus Zürich geschenkt wurde, die grenzenlosen Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz für die Gegenwartskunst.
Bilder sind Schlupflöcher aus der Gegenwart. Man tritt durch den Rahmen wie durch ein Tor und taucht ein in Claude Monets atmosphärische Themse-Ansicht im Sonnenuntergang – eine Flucht in das London von 1904 sozusagen. Das Gemälde hängt im Kunsthaus Zürich. Und nur ein paar Schritte weiter öffnet sich nun ein neues Tor. Es ist ziemlich gross und bietet Einlass in einen ganzen Kunstraum. Aber nicht in die Geschichte der Kunst entgleitet man hier. Refik Anadols digitales Kunstwerk ist ganz Gegenwartskunst. Und bietet eine Flucht nach vorn: in die Zukunft.
Denn wir haben es hier mit viel künstlicher Intelligenz zu tun. Der 1985 in Istanbul geborene, heute in Los Angeles lebende Künstler sieht in KI keine Bedrohung, sondern eine grosse Chance. Hinter seiner Kunst stehe immer der Mensch, versichert er im Gespräch: nämlich er selbst als Schöpfer seiner Werke. KI sei lediglich sein Werkzeug: ein digitaler Pinsel sozusagen, mit dem er seine Kunstwerke mache, nicht viel anders als Claude Monet seine impressionistischen Gemälde schuf. Nur dass Anadols Werke nicht mehr zweidimensional auf Leinwand an der Wand präsentiert werden, sondern in der dritten Dimension als immersiver Raum. Der Grund dafür: eine andere Zeit, nämlich unsere hoch digitalisierte Epoche.
In sein multisensorisches KI-Werk muss man sich nicht hineindenken wie bei Monets Ansicht der Themse bei Sonnenuntergang. Vielmehr wird man in Anadols Kunstraum geradezu hineingesogen. Man sucht erst einmal Halt, um nicht abzustürzen in dem Strudel von Bildern, denn unendlich öffnet sich unter den eigenen Füssen der Spiegelboden. Wobei das Bildmaterial wie ein Wasserfall auf allen vier Wänden des Raums um einen herum tost.
Neue Kunstform
Die visuelle Sogkraft von Anadols Bilderstrom ist gewaltig, denn für seine neue Arbeit «Glacier Dreams» hat der Künstler nicht weniger als hundert Millionen Bilder verwendet. Die Bilder stammen aus Online-Archiven und aus institutionellen Archivdateien. Hinzu kommt Anadols eigener Datensatz von weiteren zehn Millionen Bildern. Es sind Bilder von Gletschern aus Island, Grönland, der Antarktis – ja der ganzen Welt.
Die immersive Installation ist ein Paradebeispiel für neue Formen kulturellen Schaffens an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technologie. KI und Big Data sind die Megatrends der Gegenwart. Daher will das Kunsthaus Zürich mit diesem neuen Werk in seiner permanenten Sammlung die digitale Transformation als eine der grössten Entwicklungen unserer Zeit speziell auch auf dem Gebiet der bildenden Kunst berücksichtigen. «Glacier Dreams» wurde dem Kunsthaus von der Bank Julius Bär geschenkt, die im Rahmen ihrer Kulturförderung neue Technologien unterstützt.
Refik Anadol gehört zu den Pionieren der auf KI-Technologien basierenden Kunst. Eines seiner wichtigsten Werke befindet sich in der Sammlung des Museum of Modern Art in New York. Dass Anadol nicht lediglich ein Virtuose auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz ist, nicht bloss mit gewaltigen Datensätzen zu jonglieren versteht, macht seine jüngste Arbeit im Kunsthaus deutlich. Der Künstler ist kein Aktivist, aber er betreibt auch nicht L’art pour l’art. Er hat eine Message: «Glacier Dreams» zelebriert mit ergreifenden Bildern auf sehr poetische Weise die Schönheit und Erhabenheit von Eismassen und will auf die Fragilität von Gletschern aufmerksam machen.
Anadol vereint in diesem Meisterwerk auf spektakuläre Weise Kunst und Technologie mit der Klimathematik. Dabei bezieht das Werk seine Betrachter auf sämtlichen Wahrnehmungsebenen mit ein. Angesprochen werden nicht nur die Sinne Sehen, Hören, Fühlen und Denken. Sogar der Riechnerv wird in Beschlag genommen: Zum Einsatz kommt ein speziell für diese Arbeit entwickeltes Parfum, das den Duft von gefrorenem Wasser verströmt. Der Kubus funktioniert überdies als eine Art moderne Skulptur. Er wurde ortsspezifisch für das Kunsthaus Zürich geschaffen und kann jederzeit demontiert und zusammengepackt werden, um andernorts als Leihgabe zum Einsatz zu kommen.
Im permanenten Fluss
Nicht zuletzt bezieht sich Refik Anadol mit dieser Arbeit auf die Sammlung des Kunsthauses, insbesondere deren Werke der französischen Impressionisten wie etwa Claude Monet. Für den Künstler sind auch Monets riesige, weltberühmte Seerosenbilder in gewisser Weise immersive Bildräume. In Anadols Augen hat Monet mit seiner impressionistischen Maltechnik mittels Farbtupfern die digitale Pixel-Kunst von heute vorweggenommen.
Augenzwinkernd bezeichnet Anadol seine «Malerei» als «data painting». Der Unterschied zu Monet bestehe lediglich darin, dass sein jüngster Wurf sozusagen ein Gemälde sei, dessen Farben nicht mehr trocknen müssten. Wo allerdings Farben flüssig bleiben und nicht zu starren Bildern aushärten, kann alles immer wieder neue Gestalt annehmen. So gesehen stellt Refik Anadols supertechnoide Installation «Glacier Dreams» mit ihrem konstanten Flow von sich immer wieder neu formierenden Bildkonstellationen die Abgeschlossenheit von Kunstwerken infrage.