40 Prozent der ukrainischen Schutzsuchenden sollen arbeiten, so lautet das Ziel des Bundesrates. Während in Appenzell Innerrhoden 65 Prozent einen Job haben, sind es im Tessin nicht einmal 15 Prozent.
Zweieinhalb Jahre nach dem russischen Angriff auf die Ukraine leben 66 000 Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz. Entgegen früheren Hoffnungen gelingt es trotz häufig guten Qualifikationen nicht, eine Mehrheit der Geflüchteten ins Erwerbsleben zu integrieren. Im März erklärte der Bundesrat, er wolle die Erwerbstätigenquote der Ukrainerinnen und Ukrainer 2024 auf 40 Prozent steigern. Zwei Monate vor Jahresende ist klar: Dieses Ziel bleibt eine Illusion.
Nur gerade Appenzell Innerrhoden, Glarus, Nid- und Obwalden bringen es derzeit auf über 40 Prozent. Der gesamtschweizerische Durchschnitt liegt bei 28,8 Prozent – und viele Kantone liegen deutlich darunter. Im Tessin beispielsweise haben nur gerade 13,8 Prozent der Personen im erwerbsfähigen Alter (18–64 Jahre) eine Stelle. Doch was sind die Gründe für die geringen Quoten? Und weshalb sind die Unterschiede von Kanton zu Kanton so gross?
Nachdem die Kantone lange Zeit im Nebel gestochert haben, wird das Lagebild inzwischen klarer. Es gebe dafür zahlreiche Gründe, erklärt Nicole Gysin, stellvertretende Leiterin Innenpolitik bei der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK).
1. Sprache: Im Beruf wird (Schweizer-)Deutsch gesprochen
Die Kenntnisse der Landessprache sind entscheidend: Das sagen praktisch alle Expertinnen und Experten, die die NZZ befragt hat. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer können zwar (etwas) Englisch, doch in der von KMU geprägten Berufswelt nützt das wenig. Hier sind Französisch, Italienisch oder Deutsch gefragt, besser noch: Schweizerdeutsch.
Die Verständnisschwierigkeiten erklären nicht die grossen Unterschiede zwischen den Kantonen, doch sie sind eine Ursache dafür, dass die Erwerbstätigenquote in der Schweiz generell tiefer ist als anderswo. So sind die Erwerbstätigenquoten in Ländern, in denen die Wohnbevölkerung bessere Englischkenntnisse hat, beispielsweise deutlich höher.
In den Niederlanden zum Beispiel betrug die Erwerbstätigenquote schon 2023 über 50 Prozent – zu einem Zeitpunkt, als diese in der Schweiz noch nicht einmal bei der Hälfte lag. In Dänemark liegt sie sogar bei über 70 Prozent. Auch in Polen hat die Mehrheit der Geflüchteten Arbeit: Sie kommen hier oft mit Russisch oder Ukrainisch durch.
2. Integration: Wer Potenziale der Flüchtenden gut erfasst, profitiert
Doch weshalb variiert die Erwerbstätigenquote innerhalb der Schweiz? Eine Ursache dafür sieht Nicole Gysin in der Intensität der Betreuung durch die Kantone. Manche Kantone hätten sich schon früh darum bemüht, die Geflüchteten zu kontaktieren und sie mithilfe bestehender Strukturen in den Arbeitsmarkt zu bringen. Das habe sich ausbezahlt.
Ein Beispiel dafür ist der Kanton Aargau, wo heute mit 37,6 Prozent überdurchschnittlich viele Ukrainerinnen und Ukrainer beschäftigt sind. Interessant: Schon im September 2022 lag die Quote im Aargau mit 18,5 Prozent fast 6 Prozent höher als der schweizerische Schnitt.
Im Aargau wurden Personen früh mit diversen Angeboten und Hilfestellungen befähigt, sich zu qualifizieren und einen Job zu finden, wie Sibel Karadas vom kantonalen Amt für Migration und Integration erklärt. Die Förderkonzepte wurden aufgrund des befristeten Schutzstatus und des besseren Bildungshintergrunds angepasst und mit individuellen Integrationsplänen umgesetzt. Dies, um die Bedürfnisse und Potenziale jeder Person gezielt zu erfassen. Viele Kantone verfügen inzwischen über ähnliche Konzepte.
3. Arbeitslosenquote: Wo alle einen Job suchen, ist es für Ukrainer besonders schwierig
Gewisse Faktoren lassen sich allerdings kaum beeinflussen. So zeigt sich, dass die Integration ins Berufsleben von der Situation auf dem Arbeitsmarkt beeinflusst wird. In Kantonen mit tiefer Arbeitslosenquote gibt es meist mehr erwerbstätige Ukrainer.
Die vier Kantone mit der höchsten Arbeitslosenquote sind Genf (4,4 Prozent), Jura (4,1 Prozent), Waadt (4 Prozent) und Neuenburg (3,9 Prozent). In drei dieser Kantone liegt die Erwerbstätigenquote bei Ukrainerinnen und Ukrainern deutlich unter 20 Prozent (Genf: 13,9 Prozent, Jura: 23,1 Prozent, Waadt: 15,1 Prozent, Neuenburg: 18,9 Prozent).
Es ist logisch, dass Personen mit Schutzstatus S in Kantonen mit tiefen Arbeitslosenzahlen leichter eine Stelle finden: Die drei Spitzenkantone bei der beruflichen Integration sind prompt auch jene mit der tiefsten Arbeitslosenquote.
4. Grenzgänger: Sie sind für viele Firmen attraktiver als Schutzsuchende
Eine ähnliche Korrelation gibt es zwischen der Anzahl der Grenzgänger und der Erwerbstätigenquote: Genf, das Tessin, die Waadt und Basel-Stadt haben den grössten Anteil der ausländischen Grenzgänger. Alle vier Kantone weisen eine unterdurchschnittliche Erwerbsquote bei den Ukrainern auf. Das Tessin liegt sogar am Schluss.
Auch hier ist eine Korrelation in umgekehrter Richtung ebenfalls feststellbar: Die fünf Kantone mit der tiefsten Grenzgängerquote belegen einen Spitzenplatz bei der Erwerbstätigkeit von Schutzstatus-S-Personen.
Für Nicole Gysin von der KdK ist auch dies keine Überraschung: Dort, wo der Arbeitsmarkt grenzüberschreitend funktioniert, rekrutieren viele Arbeitgeber im Zweifel lieber im benachbarten Ausland. Denn dort beherrschen die Berufstätigen die Landessprache besser, und die meisten sind mit den Bedingungen in der Schweiz besser vertraut.
5. Sozialhilfe: Die Höhe bestimmt, welche Anreize gesetzt werden
Im Kanton Basel-Stadt beträgt die Tagespauschale für den Grundbedarf für einen Einpersonenhaushalt bei Personen mit Schutzstatus S gemäss aktueller Unterstützungsrichtlinie 27 Franken 10. Im Kanton Schwyz wird gemäss Angaben des kantonalen Amtes für Migration im selben Fall nur gut halb so viel ausbezahlt, nämlich 14 Franken pro Tag.
Auf diese Weise werden unterschiedliche Anreize in Bezug auf die Bereitschaft zur Jobsuche gesetzt. Es existiert allerdings keine vollständige Übersicht über die Leistungen der einzelnen Kantone in der Sozialhilfe. 2022 nannte die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) eine Spannweite von 9 Franken 70 bis 26 Franken 80 pro Tag.
Unklar ist allerdings, wie gross die Effekte sind. Denn die Leistungen der Kantone lassen sich nicht eins zu eins vergleichen. Dort, wo tiefe Pauschalbeträge für den Grundbedarf ausbezahlt werden, werden häufig zusätzliche Leistungen entrichtet, beispielsweise für Kleider oder die Kinderbetreuung. Ausserdem sind die Lebenshaltungskosten nicht überall gleich hoch.
6. Kantonsgrösse: je kleiner, desto flexibler
Appenzell Innerrhoden, Nidwalden, Obwalden, Glarus oder Uri: Es ist auffällig, dass kleine und ländliche Kantone besonders hohe Erwerbstätigenquoten ausweisen können. Im Fall von Appenzell Innerrhoden beträgt sie sogar über 64 Prozent.
Fachleute führen dies auf zwei Gründe zurück: Einerseits haben einzelne Unternehmen in kleinen und dünnbesiedelten Kantonen statistisch gesehen eine viel grössere Hebelwirkung. Appenzell Innerrhoden kommt mit 52 erwerbstätigen Ukrainerinnen und Ukrainer auf eine Quote von 64 Prozent. Dabei sind rund 30 Personen bei einer einzigen Firma angestellt.
Vor allem sind in kleinen Kantonen die Wege kürzer: Man kennt sich, und man hilft sich – oft ohne grosse bürokratische Umwege, wie sie in grösseren Kantonen beinahe unumgänglich sind. Das ist entscheidend, weil die Unternehmen mitziehen müssen, wenn die berufliche Integration der Ukrainer gelingen soll.
7. Die geografische Lage: Agglomerationen profitieren von den Wirtschaftszentren
Für im Kanton Aargau wohnhafte Personen sind seit Einführung des Schutzstatus 897 Arbeitsbewilligungen in anderen Kantonen ausgestellt worden. Zwar gibt es auch die umgekehrten Fälle – dass der Aargau Bewilligungen für Ukrainer aus einem anderen Kanton ausstellt. Wie hoch diese Zahl ist, wird im Kanton Aargau nicht erfasst.
Der Kanton hat in diesem Zeitraum 2456 Bewilligungen für Personen mit Schutzstatus S erteilt, die teilweise mehrfach dieselbe Person betreffen. Wie viele an Personen gingen, die in einem anderen Kanton wohnen, wird nicht erfasst. Dennoch: Die Zahlen deuten darauf hin, dass der Aargau in Bezug auf die Erwerbstätigenquote von seiner geografischen Nähe zu Zürich oder Basel profitiert.
Für die Berechnung der Erwerbstätigenquote ist nämlich der Wohn- und nicht der Arbeitsort ausschlaggebend, wie das SEM auf Anfrage erklärt. Gerade die Kantone mit grossen Wirtschaftszentren erteilten etliche Bewilligungen für Personen, die anderswo wohnen.
8. Kinder: Ein breites Betreuungsangebot wirkt sich positiv aus
Eines der Hauptprobleme für viele Personen mit Schutzstatus S sei die Kinderbetreuung, erklärt Nicole Gysin von der KdK. Viele Ukrainerinnen sind mit teilweise kleinen Kindern in die Schweiz gekommen, die sie nicht alleine lassen können. Manche konnten die Stellensuche schon deshalb nicht in Angriff nehmen.
Inwiefern der Zugang zur Kinderbetreuung für die Unterschiede zwischen den Kantonen mitverantwortlich ist, lässt sich mangels Daten nicht beurteilen. Der Blick über die Grenze zeigt aber, dass ein gutes Angebot in diesem Bereich oft auch mit einer hohen Erwerbstätigenquote einhergeht.
So lag die Beschäftigungsquote in Dänemark laut internationalen Vergleichen schon 2023 bei deutlich über 70 Prozent. Neben den Englischkenntnissen in der Bevölkerung ist die Kinderbetreuung einer der Gründe dafür: Dänemark lancierte rasch ein breites Betreuungsangebot, als klarwurde, dass viele Ukrainerinnen mit Kindern kommen.
9. Die Lage in der Ukraine: Bomben drücken auf die Beschäftigungsquote in der Schweiz
Auch zwei Jahre nach Kriegsbeginn flüchten noch immer Ukrainerinnen und Ukrainer in die Schweiz. Im laufenden Jahr rechnet das SEM mit 15 000 bis 20 000 neuen Anträgen auf den Schutzstatus S. Das hat ganz direkt mit Putins Kriegsführung auch abseits der Frontlinien zu tun.
Weil sich die Wärme- und Stromversorgung infolge der Bombardierungen verschlechtert hat, erwartet beispielsweise der Kanton Aargau viele neue Schutzsuchende. Das bedeutet: Der Gesamtbestand wächst, und die Erwerbsquote entwickelt sich entsprechend nach unten.
Auch bei der Hilfe für die Menschen aus der Ukraine zeigt sich deshalb überdeutlich: Die westlichen Ländern profitieren, wenn sie die Ukraine unterstützen und dazu beitragen, dass nicht immer neue Menschen in der Schweiz und in anderen Ländern Schutz suchen müssen. Doch die Wahl Trumps in den USA macht die Entwicklung für Europa und die Schweiz unberechenbarer.