Der Musiktheaterabend «Sancta» von Florentina Holzinger verstört an der Stuttgarter Staatsoper Teile des Publikums. Das Haus will trotzdem an der zuvor schon in Schwerin und Wien gefeierten Produktion festhalten.
Die Besucher hätten gewarnt sein können. Die Stuttgarter Staatsoper hatte ihre geplanten sieben Aufführungen der Opernperformance «Sancta» von Florentina Holzinger bereits im Vorfeld mit einer Altersfreigabe ab 18 Jahren versehen und entsprechend deutliche Hinweise angebracht. Die bei dieser Produktion zum Einsatz kommenden Theatermittel einer Live-Performance seien «kein Fake», es seien unter anderem «echtes Blut sowie Kunstblut, Piercingvorgänge und das Zufügen einer Wunde zu sehen». Auf der Bühne fänden zudem «sexuelle Handlungen» statt.
Die Wirkung einiger Passagen der Aufführung hat nun trotz der Warnung während der ersten beiden Vorstellungen in Stuttgart zu Unwohlsein bei insgesamt achtzehn Zuschauerinnen und Zuschauern geführt. Bei der Premiere am vergangenen Samstag habe sich der Besucherservice der Staatsoper um acht, am Sonntag um zehn Personen kümmern müssen, bestätigte der Sprecher des Hauses den «Stuttgarter Nachrichten» und der «Stuttgarter Zeitung», die zuerst über die Vorfälle berichtet hatten. In drei Fällen war der Zustand der Betroffenen so beeinträchtigt, dass ein Arzt gerufen werden musste.
«Ich bin schön!»
Die knapp dreistündige Produktion der 38 Jahre alten Choreografin aus Österreich, die mit ihren drastischen, teilweise extremen Körpereinsatz fordernden Performances bekannt geworden ist, thematisiert unter anderem das Spannungsverhältnis zwischen Spiritualität und Sexualität. Holzinger verbindet ihre Religionskritik mit einem kritischen Blick auf die Geschichte sexueller und institutioneller Gewalt gegen den weiblichen Körper. Als Ausgangspunkt dient ihr dafür die frühe Oper «Sancta Susanna» von Paul Hindemith.
Der deutsche Komponist schrieb diesen Einakter Anfang 1921 nach einem Text des Expressionisten August Stramm aus dem Jahr 1914. Er schildert eine Art Erweckungs- oder Befreiungserlebnis der titelgebenden Nonne. Durch Berichte über eine Ordensschwester, die nackt das Kreuz in der Kirche emporgestiegen sei und die Figur des Heilands umarmt habe, gerät Susanna selbst derart in Ekstase, dass sie ihre Kleidung ablegt, sich ihren Mitschwestern präsentiert und verkündet: «Ich bin schön!»
Die seinerzeit in Stuttgart geplante Uraufführung musste nach Protesten gegen den als blasphemisch kritisierten Text 1922 nach Frankfurt verlegt werden. Dort wie auch drei Jahre später in Hamburg kam es zu Skandalen, kirchliche Kreise und rechte Parteien strengten eine Absetzung des Stückes an. Hindemith selbst zog das Werk 1934 zunächst vorsichtshalber, 1958 dauerhaft zurück. Es kehrt erst seit den 1980er Jahren gelegentlich in die Spielpläne zurück, unter anderem in Kombination mit Puccinis Klosterdrama «Suor Angelica».
Lustvolle Überschreitung
Florentina Holzinger lässt der nur 20 Minuten langen Oper bei der verspäteten Erstaufführung in Stuttgart nun einen deutlich längeren zweiten Teil mit einer eigenen Performance folgen, der die Unterdrückung der Frau anprangern und «Glaube, Sexualität und Schmerz, Scham und Befreiung» zum Thema machen soll. Die Performerinnen rund um Holzinger treten dabei überwiegend nackt auf, es gibt lesbische Liebesszenen und eine weibliche Christus-Figur.
Ungeachtet der Irritationen bei einigen Besuchern wird der Abend vom Publikum gefeiert, wie schon zuvor bei der Uraufführungsserie in Schwerin und bei einem Gastspiel an den Wiener Festwochen. Die kommenden fünf Aufführungen in Stuttgart – allesamt ausverkauft – sollen unverändert stattfinden. Die Staatsoper verweist aber mit Nachdruck auf die immer schon bestehende Altersbeschränkung und auf ihre eingangs zitierten Warnhinweise. Viktor Schoner, der Intendant des Hauses, hatte die Produktion, wohl vorausschauend, mit dem Satz kommentiert: «Grenzen auszuloten und lustvoll zu überschreiten, war von jeher eine zentrale Aufgabe der Kunst.»