Als der amerikanische Supreme Court auf nationaler Ebene das Recht auf Abtreibung kippte, sahen Kritiker auch die künstliche Befruchtung in Gefahr. In Alabama ist diese Angst nun real geworden, nachdem das Oberste Gericht gefrorene Embryos mit Kindern gleichstellte.
Rund 2 Prozent der Kinder in den USA erblicken das Licht der Welt dank einer Fruchtbarkeitsbehandlung. Das sind doppelt so viele wie vor einem Jahrzehnt. Im konservativen Alabama könnte die künstliche Befruchtung für viele Paare mit unerfülltem Kinderwunsch jedoch bald nicht mehr verfügbar sein. Denn das Oberste Gericht des Südstaats urteilte am Freitag, dass gefrorene Embryos die gleichen Rechte wie Kinder haben. Wer sie demnach gewollt oder ungewollt zerstört, begeht eine Tötung.
Das Urteil fiel mit acht zu einer Stimme deutlich aus. Wobei sich die Richter hauptsächlich auf die gliedstaatliche Verfassung und ein Gesetz aus dem Jahr 1872 stützten. Letzteres erlaubt es Eltern, den widerrechtlichen Tod eines minderjährigen Kindes einzuklagen. Auch ungeborene Kinder seien Kinder, heisst es in dem Urteil, unabhängig von ihrer «physischen Lage». Das Gesetz gelte deshalb auch für ungeborenes Leben ausserhalb der Gebärmutter.
Darf man eine Person einfrieren?
Der Vorsitzende Richter Tom Parker argumentierte seinerseits mit biblischen Schriften. Alabamas Verfassung schütze «die Heiligkeit des Lebens» explizit und ersuche in ihrer Präambel den Allmächtigen um seine Anleitung, schrieb Parker. «Selbst vor der Geburt sind alle Menschen ein Abbild Gottes, und ihre Leben können nicht zerstört werden, ohne seine Herrlichkeit auszulöschen.»
Das Urteil verbietet die künstliche Befruchtung von Eizellen nicht direkt. Aber der einzige Richter, der gegen das Urteil stimmte, schrieb in seiner Begründung, dass es «beinahe mit Sicherheit die Herstellung von gefrorenen Embryos durch künstliche Befruchtung in Alabama beendet».
Diese Befürchtung teilen auch viele Ärzte und ihre Interessengruppen. Das Ziel bei einer künstlichen Befruchtung sei es, möglichst viele Embryos zu erzeugen, erklärte Barbara Collura, Präsidentin des Nationalen Verbandes für Unfruchtbarkeit, gegenüber dem Fernsehsender CNN. «Dadurch erhält man die grössten Chancen für eine Schwangerschaft.»
Embryos, die übrig blieben, würden für eine spätere Verwendung eingefroren. Wenn eine Familie keine weiteren Kinder wolle, könne sie die Embryos entsorgen lassen, anderen Paaren spenden oder der Wissenschaft zur Forschung zur Verfügung stellen, sagte Collura. Das Urteil in Alabama stelle dies nun aber alles infrage. Es sei nun nicht einmal klar, ob man Embryos noch einfrieren dürfe. «Werden Leute nun strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen, weil man ‹eine Person› nicht einfrieren darf?»
AshLeigh Meyer Dunham, eine auf Reproduktionsmedizin spezialisierte Anwältin, sieht noch ein anderes Problem. Oft würden die Embryos genetisch getestet, um die besten Chancen auf eine erfolgreiche Schwangerschaft zu haben und Erbkrankheiten zu erkennen, sagte sie der «Washington Post». Solche Tests würden nun womöglich nicht mehr durchgeführt, weil sie den Embryos schaden könnten.
Andere Gliedstaaten könnten dem Beispiel folgen
Paula Amato, die Präsidentin der Gesellschaft für reproduktive Medizin, kritisierte das Urteil als unwissenschaftlich. Auch in der natürlichen Fortpflanzung würden mehrere Eizellen befruchtet, bevor sich eine davon erfolgreich in der Gebärmutter einniste, meinte Amato gegenüber der «New York Times». Sie geht davon aus, dass die Reproduktionsmedizin in Alabama vor dem Aus steht, weil viele Ärzte das Risiko nicht eingehen wollen, für den Umgang mit Embryos strafrechtlich belangt zu werden.
Paradoxerweise geht das Urteil in Alabama auf die Klagen von drei Elternpaaren zurück, die selbst Kinder mittels künstlicher Befruchtung gezeugt haben. Die übrig gebliebenen Embryos lagerten sie dabei in einer Klinik der Hafenstadt Mobile im Süden Alabamas ein. Doch 2020 betrat ein Patient unbefugt den Raum, in dem die befruchteten Eizellen aufbewahrt wurden. Er entnahm mehrere von ihnen, wobei er sich an der Hand eine Kälteverbrennung zuzog und die Embryos zu Boden fielen. Die Eltern können den Patienten nun wegen widerrechtlicher Tötung anklagen.
Noch unklar sind die Folgen des Urteils über Alabama hinaus. Die Entscheidung führe «genau zu jenem Chaos», welches die Regierung erwartet habe, nachdem der Supreme Court in Washington vor zwei Jahren das Recht auf Abtreibung gekippt habe, erklärte die Pressesprecherin des Weissen Hauses, Karine Jean-Pierre, am Dienstag. Damals im Juni 2022 änderte das Oberste Gericht des Landes nach rund fünfzig Jahren die Interpretation der amerikanischen Verfassung. Aus dem Grundgesetz lasse sich kein Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch ableiten, urteilte die konservative Richtermehrheit. Es handle sich um eine politische Frage, die von den Wählern und ihren Abgeordneten zu entscheiden sei.
Als Folge verhängten 16 Gliedstaaten weitgehende Abtreibungsverbote, 5 weitere schränkten das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch auf eine Frist von 12 bis 15 Wochen ein. Alabama kennt eines der strengsten Verbote, das selbst im Falle einer Vergewaltigung oder bei Inzest keine Ausnahmen macht. Der Justizminister in Montgomery möchte gar Frauen strafrechtlich verfolgen, die für eine Abreibung in einen liberalen Gliedstaat reisen.
Mit dem Urteil von vergangener Woche geht Alabama nun auch in der Frage des ungeborenen Lebens voran. Kritiker befürchten, dass andere konservative Gliedstaaten diesem Beispiel folgen könnten. So kommentierte etwa Dana Sussman von der Interessengruppe Pregnancy Justice das Urteil gegenüber CNN mit den Worten: «Das ist Teil eines langfristigen und strategischen Plans, um die Ideologie des fötalen Personseins durchzusetzen.»