Der Literaturstar zeigt die USA als ein Land von Fast-Food-Lokal-Mitarbeitern, Opioid-Süchtigen und Eingewanderten. Der American Dream ist für sie unerreichbar. Stattdessen bleibt ihnen die Solidarität unter Verlierern
Ohne Tabletten geht hier gar nichts. Nicht nur der Romanheld Hai, auch fast alle anderen Figuren werfen sich das eine oder andere ein, meistens opioidhaltige Schmerzmittel. Sobald die Wirkung der Pillen in ihn einsickert, fühlt sich Hai, «als schlüpfte er endlich nackt in ein warmes, trockenes Bett mit dicken Wolldecken, nachdem er tagelang bis auf die Knochen durchnässt im Regen herumgelaufen war».
Gegen die Magie der Pillen kommt auch ein Entzug nicht an. Kaum ist Hai aus der Klinik entlassen, irrt er wieder allein und verzweifelt durch die kalte Nacht New Englands. Verzweifelt auch deswegen, weil der zwanzigjährige Antiheld sein Leben bisher ziemlich «verbockt» hat: das Studium abgebrochen, hohe Schulden gemacht und seine Mutter angelogen. Ohne das warme Bett des Opiats scheinen Hai alle Wege der Welt zugesperrt. Also klettert er auf die Eisenbahnbrücke. Dreissig Meter unter ihm zieht das Wasser in grauen Wirbeln vorbei.
Diese Szene auf der Brücke bildet den dramatischen Auftakt zum zweiten Roman von Ocean Vuong. Aber Hai springt nicht. Eine alte Frau, die am Flussufer wohnt, bringt ihn dazu, wieder von der Brücke herunterzuklettern. Mit diesem Akt der Menschlichkeit ist der Weg frei für eine Geschichte, die einen über 500 Seiten lang einnimmt: eine Erzählung von einem, der umherirrt, sich aufrappelt, wieder den Tabletten verfällt (diesmal ist es Dilaudid) und trotzdem weiterkämpft. Der pompöse Titel «Der Kaiser der Freude» kontrastiert mit dem Kampf, den Hai und die anderen Figuren führen: ein Kampf ums nackte Überleben, aber auch ein Kampf mit dem Leben, mit sich selbst.
Knochenarbeit
Schauplatz des Kampfes sind Orte, an denen sich niemand freiwillig aufhält und die doch sehr amerikanisch sind: ein ödes Kaff in der Provinz von New England oder ein Fast-Food-Lokal namens Home Market. Dort findet Hai mit der Hilfe seines Cousins Sony einen Job und verkauft tagtäglich ein Stück Heimat: traditionelle Gerichte wie Pumpkin-Pie oder Cornbread, scheinbar frisch zubereitet, tatsächlich aber industriell im Labor hergestellt. «Home Market war weniger ein Restaurant als vielmehr eine gigantische Mikrowelle.» Hai wärmt dort Konserven auf, schrubbt die Industrieküche sauber. Und wird Teil eines Teams von Menschen, die alle keine besseren Optionen hatten und dennoch an einem kleinen Zipfel den amerikanischen Traum festhalten.
Die Chefin BJ ist Amateur-Wrestlerin, der Cousin Sony träumt von der US-Marine und weiss alles über die Schlachten des Bürgerkriegs, und Maureen hat stets einen trockenen Spruch oder ein Bibelzitat auf Lager. Sie und die anderen Teammitglieder bilden einen Reigen eigenwilliger Charaktere. Dank ihnen gelingt es Vuong, den monotonen Alltag erstaunlich konfliktreich und humorvoll zu beschreiben. Fast-Food-Ketten sind der Inbegriff Amerikas, sie sind Klischee und Realität zugleich. Dahinter steckt schlecht bezahlte Knochenarbeit. Vuong erfasst sie realistisch.
Er hat einen Blick für einzelne Handgriffe, für die Hartnäckigkeit von Fett und tropfenden Saucen – aber auch Sinn für die Würde von Arbeit. «Wir sind Magier!», ruft BJ ihrem Team gerne zu. «Wir verwandeln Essen in ein Gefühl, Leute. Kapiert?» Am Grill und an der Theke erweisen sich Vuongs Antihelden als wahre Helden. Sie sind es, die das Land zusammenhalten, die Lastwagenfahrer, Prostituierte und Alleinerziehende ernähren. Sogar dann, wenn sie ihre Hände in Blut tauchen und bei einer illegalen Schweineschlachtung mitarbeiten, um ihren Lohn aufzubessern.
«Freundlichkeit ohne Hoffnung»
Bevor Vuong zum Literaturstar wurde, arbeitete er selbst in Fast-Food-Lokalen. Er verdiente 7 Dollar 15 in der Stunde. Er kenne die Frustration, die ein solcher Job verursache, sagte er der «New York Times». Aber er kenne auch die Freundlichkeit, die familiäre Nähe, die aus solcher Zusammenarbeit entstehe. «Freundlichkeit ohne Hoffnung» nennt er sie.
Mit seinem Helden teilt Vuong nicht nur die Arbeitserfahrung, sondern auch die vietnamesische Herkunft und die Jugend in Armut. Vuongs Mutter und Grossmutter flohen mit ihm in die USA, als er ein Kleinkind war. Die Mutter war Analphabetin und arbeitete in einem Nagelstudio – wie die Mutter von Hai. Im Roman scheint immer wieder die liebevolle Fürsorge von Mutter und Grossmutter auf, die alles dafür tun, dass es ihr Sohn und Enkel einmal besser hat als sie. Umso desaströser, wenn der Sohn dann scheitert.
Ocean Vuong ist heute ein gefeierter, weltweit übersetzter Schriftsteller. Auch er war einst von der Universität geflogen und obdachlos geworden, wie er der «New York Times» erzählte. Durch die Vermittlung seines Partners konnte er bei dessen Grossmutter einziehen. Sie hiess Grazina, wie jene Frau, die Hai im Roman daran hindert, von der Brücke zu springen. Die Lebensretterin holt Hai in ihr düster-verwunschenes Haus, das man durchaus mit dem Hexenhaus aus einem Märchen assoziieren kann, und nötigt ihn zu bleiben.
Erleuchtung im Müll
Die alte Frau sammelt Eulen in allen Grössen und leidet an Demenz. Aber sie hat Humor. «Du willst Schriftsteller werden, und du willst von einer Brücke springen? Das ist so ziemlich das Gleiche, oder?», sagt sie zu Hai. Grazina lässt Hai kostenlos bei sich wohnen, sofern er ihr ihre «Vitamine» verabreicht. Diese bestehen aus dreizehn verschiedenen Medikamenten – pillensüchtig ist auch sie. Klingt die Wirkung der Tabletten ab, verfällt sie in Wahnzustände. Dann kehrt Grazina in die Vergangenheit zurück und erlebt nochmals den Einmarsch der Russen in Litauen. Zwischen ihr und Hai entwickelt sich ein Zusammenleben, das zwischen traurigen und bizarr-komischen Momenten irrlichtert.
Ocean Vuong hat die Gabe, die Tristesse leuchten zu lassen. Er zeigt, dass es in der amerikanischen Provinz, inmitten von Sucht und Sorgen, Mühsal und Perspektivenlosigkeit noch etwas anderes gibt als die Depression, und seien es nur kurze, leuchtende Momente, sei es nur Freundschaft. Es mag sein, dass er die Freundlichkeit seiner Protagonisten manchmal mit Pathos beschwört. Aber wie könnte man unpathetisch auf die Frage antworten: Was macht Amerika aus? Vuongs Antwort ist eine erfrischend andere als diejenige, die man von den gegenwärtig Regierenden hört.
Der Buddhist Ocean Vuong blickt nach ganz unten. Aus dem Bodensatz des amerikanischen Traums fischt er Wundersames.
«Der Kaiser der Freude» ist konventioneller erzählt als das Romandebüt «Auf Erden sind wir kurz grandios», mit dem Vuong berühmt wurde. Während dort in einem Brief an die Mutter verschiedene literarische Formen zusammentreffen, zeichnet er nun ein breiteres Panorama. Obschon sprachlich weniger fein gearbeitet als das Debüt, überzeugt der neue Roman durch sprühende Dialoge und ungewohnte erzählerische Linien, die sich konventionellen Schemata wie der Heldenreise verweigern, aber dennoch mitreissen. Der Autor zeichnet seine problembeladenen Figuren mit so viel Wärme, dass sie einem ans Herz wachsen.
Als Hai am Schluss in einer Mülltonne landet, wird dies gar zum Moment der Erleuchtung. Der Buddhist Ocean Vuong blickt nach ganz unten. Und aus dem Bodensatz des amerikanischen Traums fischt er Wundersames.
Ocean Vuong: Der Kaiser der Freude. Übersetzt von A.-K. Mittag und N. Stingl. Hanser 2025, 520 Seiten.