Anders als die Schweiz hat Österreich verschiedene Optionen für ein drittes Geschlecht. Wie funktioniert das?
Fast drei Wochen ist es mittlerweile her, dass Nemo für die Schweiz den Eurovision Song Contest (ESC) gewonnen hat – und damit unmittelbar die Debatte wieder aufwärmte, ob nicht auch die Schweiz ein drittes Geschlecht brauche. Bekanntlich wollte Nemo nach seinem Triumph als Erstes den zuständigen Bundesrat Beat Jans anrufen, um in dieser Sache vorstellig zu werden. Für das Gespräch gibt es inzwischen auch einen Termin, allerdings erst Mitte Juni, wie der «Blick» berichtet.
Tatsächlich kann man in der Schweiz zwar seit anderthalb Jahren seinen Geschlechtseintrag unbürokratisch ändern. Aber man muss sich zwischen männlich und weiblich entscheiden. Eine dritte Option und damit die rechtliche Anerkennung nichtbinärer Menschen gibt es nicht. In anderen Ländern ist das bereits möglich, nicht nur in Nordamerika oder Europa. So kann man etwa in Kenya, Pakistan oder Nepal ein unbestimmtes Geschlecht eintragen lassen.
Die FPÖ wittert einen «Kniefall vor linker Ideologie»
Besonders weit geht mit Österreich aber ein Nachbarland der Schweiz: Ganze sechs Optionen stehen bei der behördlichen Meldung zur Verfügung. Neben «männlich» und «weiblich» sind dies die Bezeichnungen «divers», «inter», «offen» und «keine Angabe». Das gilt als weltweit einzigartige Lösung, wie Vertreter der LGBTQ-Gemeinde erklären. Sie wurde zudem in einem in gesellschaftspolitischen Fragen konservativen Land weitgehend geräuschlos beschlossen. Wie kann das sein?
Der Grund dafür ist wohl, dass die Geschlechtervielfalt schrittweise und letztlich nicht durch eine politische Entscheidung eingeführt wurde. 2018 entschied der Verfassungsgerichtshof über die Klage einer intergeschlechtlichen Person, deren Antrag auf Änderung ihres Geschlechtseintrags im Geburtenregister auf «inter», «anders» oder «X» vom Standesamt in Steyr und dann vom Landesverwaltungsgericht Oberösterreich abgelehnt worden war.
Das Höchstgericht kam indes gestützt auf das in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankerte Recht auf Privatsphäre und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu dem Schluss, dass ein «Recht auf individuelle Geschlechtsidentität» bestehe. Der Personenstand wirke identitätsstiftend, schreiben die Richter in ihrem Entscheid. Menschen müssten deshalb nur jene Geschlechtszuschreibung durch staatliche Regelungen akzeptieren, die ihrer Geschlechtsidentität entsprächen. Der vom Personenstandsgesetz verwendete Begriff des Geschlechts lasse sich «ohne Schwierigkeiten dahingehend verstehen», dass er auch alternative Geschlechtsidentitäten umfasse.
In der Schweiz gilt die EMRK ebenfalls, das Bundesgericht entschied vor einem Jahr in einem Fall aus dem Kanton Aargau aber anders: Die Richter lehnten es ab, die in Deutschland erfolgte Streichung des Geschlechtseintrags einer nonbinären Person anzuerkennen. Dafür sei eine Gesetzesänderung nötig, befanden die Richter und verwiesen insbesondere auf die parlamentarische Beratung zur unbürokratischen Änderung des eigenen Geschlechts. Die Mehrheit hatte damals zum Ausdruck gebracht, dass durch die Revision «keine Hintertür zur Einführung eines dritten Geschlechtes» geschaffen werden solle.
In Österreich gab dagegen das Verfassungsgericht zwingend vor, dass die bestehende Gesetzeslage neu auszulegen sei. Darauf folgte zwei Jahre später ein Erlass des Innenministeriums zum Umgang der Behörden mit dem Geschlechtseintrag in offiziellen Dokumenten. Im Herbst 2022 wurde schliesslich das Meldegesetz durch die nach wie vor regierende Koalition aus konservativer ÖVP und den Grünen entsprechend geändert.
Nur die rechtspopulistische FPÖ wandte sich dagegen. Ein Abgeordneter der Partei begrüsste in der Parlamentsdebatte dazu über zwei Minuten lang alle möglichen Arten der Geschlechtsidentität. Das Verfassungsgericht habe der Politik «ein Ei gelegt» und so eine ideologiegetriebene Gesetzgebung begründet. Eine andere Parlamentarierin warf der ÖVP einen Kniefall vor linker Ideologie vor. Für die sehr geringe Anzahl von intergeschlechtlichen Menschen gebe es das Feld «inter». Mit den anderen Bezeichnungen gehe es um eine Umschreibung der Biologie und damit sogar die Zerstörung der Gesellschaft. Bei einer künftigen Reform seien vielleicht schon 23 Geschlechter zu berücksichtigen.
Wehrpflicht nur für Männer, tieferes Pensionsalter für Frauen
Kaum problematisiert wurden dagegen die Konsequenzen für jene Regelungen, in denen die Gesetze nach wie vor Unterschiede für die Geschlechter vorsehen. Österreich kennt wie die Schweiz die Wehrpflicht, die das Gesetz ausdrücklich allen Staatsbürgern männlichen Geschlechts auferlegt. Personen mit einem anderen Eintrag sind davon folglich befreit.
Analog gilt nur für Frauen ein tieferes Pensionsalter, das bis Ende 2023 bei 60 Jahren lag und in den kommenden Jahren schrittweise auf 65 Jahre angehoben wird. Entscheidend ist das rechtliche Geschlecht am sogenannten Pensionsstichtag. Weil als drittes Geschlecht registrierte Personen rechtlich nicht als weiblich zählen, gilt für sie das reguläre Rentenalter von 65 Jahren, wie das Sozialministerium auf Anfrage mitteilt.
Voraussetzung für den Eintrag eines dritten Geschlechts ist, dass für Arzt oder Hebamme bei der Geburt eine eindeutige Bestimmung des Geschlechts nicht möglich ist. Später kann er nur erfolgen, wenn ein medizinisches Fachgutachten bestätigt, dass das Geschlecht einer Person aufgrund ihrer chromosomalen, anatomischen oder hormonellen Entwicklung weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden kann.
Das ist eine hohe Hürde, die sich auch in den Zahlen spiegelt. Laut Statistik Austria waren bei knapp 9,2 Millionen Einwohnern am 1. April dieses Jahres nur 32 Personen als «divers», 5 als «inter» und 7 als «offen» eingetragen. Für 80 Personen wurde gar kein Eintrag registriert. Einen ideologisch motivierten Ansturm auf die Standesämter haben die sechs möglichen Geschlechter also nicht ausgelöst.