Österreich bekannte sich erst spät zur eigenen Verantwortung am Holocaust, und immer wieder wurden in der Politik antisemitische Ressentiments geschürt. Wie das Land in den letzten Jahren zu einem der engsten Verbündeten Israels geworden ist.
Der Urenkel von Sigmund Freud ist Österreicher, aber dieser Tage zum ersten Mal in Wien. «Alles sieht aus wie eine reich verzierte Torte», schildert Alex Boyt seine ersten Eindrücke über die Stadt, in der sein Urgrossvater die Psychoanalyse begründete. «Und ich mag Schnitzel.» Doch nicht touristische oder kulinarische Gründe bewogen Boyt dazu, die österreichische Staatsbürgerschaft anzunehmen, sondern die Folgen des Brexits. Der Londoner wollte wieder Europäer sein.
Möglich machte den Schritt eine 2019 vom österreichischen Parlament verabschiedete Gesetzesreform, wonach Nachkommen von Verfolgten des Nazi-Regimes die Staatsbürgerschaft erleichtert erhalten können. Sigmund Freud, der fast 80 Jahre lang in Wien gelebt, praktiziert und gelehrt hatte, musste 1938 kurz nach dem «Anschluss» Österreichs an Hitler-Deutschland nach London fliehen. Seinen vier Schwestern gelang die Ausreise dagegen nicht rechtzeitig, sie wurden alle in Konzentrationslagern ermordet.
Österreich sah sich jahrzehntelang als «erstes Opfer»
Boyts gut dokumentierte Familiengeschichte machte das Verfahren für ihn einfacher, glaubt er. Als er den Pass erhielt, habe es sich wie ein Sieg angefühlt. Rund 26 000 Nachkommen von NS-Vertriebenen taten es ihm in den vergangenen Jahren gleich und wurden Österreicher, was das Aussenministerium diese Woche mit einem Empfang feierte. Aussenminister Alexander Schallenberg sprach dabei von einem Akt des Vertrauens der neuen Staatsbürger gegenüber Österreich. Man habe damit einen Schritt gemacht, um der historischen Verantwortung nachzukommen – auch wenn er spät erfolgt sei.
Die Staatsbürgerschaft für Nachkommen von NS-Opfern war eine Reform der schwarz-blauen Regierung von Bundeskanzler Sebastian Kurz. Ausgerechnet seine mit der rechtspopulistischen FPÖ gebildete Koalition nahm so einen konkreten Akt der Wiedergutmachung vor. Viel zu lange habe sich die österreichische Gesellschaft selbst belogen, sagte Aussenminister Schallenberg dazu und spielte damit darauf an, dass das Land sich jahrzehntelang als «erstes Opfer» Hitlers gesehen hatte. Erst mit der Waldheim-Affäre Ende der achtziger Jahre begann eine echte Auseinandersetzung mit den eigenen Verbrechen.
Dieses Versäumnis ist ein Grund dafür, dass sich Österreich nun umso klarer an die Seite Israels stellt. Das zeigt sich in der Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober. In seiner Rede am Empfang für die eingebürgerten Angehörigen von NS-Opfern sprach Schallenberg von einem mittelalterlichen Pogrom und einem Zivilisationsbruch, gegenüber dem es keine Äquidistanz geben könne. Israels Sicherheit sei Staatsräson Österreichs. Als Symbol der Verbundenheit liess die Regierung am 7. Oktober die israelische Flagge auf dem Kanzleramt hissen.
Österreich stimmte Ende Oktober auch gegen eine Resolution der Uno-Generalversammlung, die eine Waffenruhe und eine Verbesserung der humanitären Lage im Gazastreifen forderte. Weil die Hamas im Text nicht verurteilt wird, kritisierten Israel und die USA den Beschluss. Dennoch votierten aus der EU neben Österreich nur Tschechien, Ungarn und Kroatien dagegen. Deutschland enthielt sich, die Schweiz stimmte zu. Im Dezember waren Österreich und Tschechien sogar die einzigen EU-Länder, die eine ähnliche Resolution ablehnten.
Eine Resolution, in der die Terrororganisation Hamas nicht beim Namen genannt wird, in der die Gräuel der Hamas vom 7. Oktober nicht verurteilt werden und in der Israels völkerrechtlich verankertes Recht auf Selbstverteidigung nicht festgehalten wird – eine solche Resolution kann… https://t.co/wC1oroY12b
— Karl Nehammer (@karlnehammer) October 28, 2023
Dass Österreich sich proisraelischer positioniert als Deutschland, ist bemerkenswert, blieb doch die Beziehung der beiden Länder auch nach dem Krieg jahrzehntelang belastet. Das lag nicht nur an der mangelnden Anerkennung der eigenen Verbrechen im Holocaust, für die sich erst 1993 Bundeskanzler Franz Vranitzky bei einer Israel-Reise entschuldigte.
Sein jüdischer Amtsvorgänger Bruno Kreisky hatte mit seinen engen Beziehungen zu arabischen Politikern Israel gegen sich aufgebracht, 1979 empfing er als erster westlicher Staatsmann den Palästinenserführer Yasir Arafat. Immer wieder wurden von der Politik antisemitische Ressentiments geschürt – nicht nur, aber vor allem von der FPÖ. Als der konservative Bundeskanzler Wolfgang Schüssel mit dieser im Jahr 2000 ein Regierungsbündnis einging, berief Israel seinen Botschafter zurück.
Kurz wollte auch Kritik an seiner Koalition abwehren
Die jetzige Nähe geht auf Kurz zurück, der Israel 2018 trotz der Koalition mit der FPÖ nur wenige Monate nach seiner Vereidigung als Bundeskanzler besuchte. Schüssel war eine Einladung noch verwehrt geblieben. Kurz verwendete da erstmals für Österreich den Begriff der Staatsräson, den Angela Merkel zehn Jahre zuvor für Deutschlands Verhältnis zu Israel geprägt hatte.
Kurz gehört einer Generation an, die mit dem Wissen um Österreichs unrühmliche Rolle im Holocaust aufgewachsen ist. Er pflegt auch jetzt nach dem Ausscheiden aus der Politik noch sehr enge Verbindungen nach Israel und in den Nahen Osten. Sein Kurs war aber auch taktisch motiviert: Beziehungen zur immer wieder mit antisemitischen Anspielungen ihrer Funktionäre auffallenden FPÖ lehnt Israel nach wie vor kategorisch ab. Kurz reiste damals auch ohne seine parteilose, aber von der FPÖ nominierte Aussenministerin Karin Kneissl nach Jerusalem. Mit einer besonders israelfreundlichen Politik und seinem Engagement gegen Antisemitismus konnte der Kanzler Vorwürfe vermeiden.
Kurz liess bereits im Mai 2021 anlässlich einer Eskalation des Nahostkonflikts mit Raketenangriffen aus dem Gazastreifen die israelische Flagge auf dem Kanzleramt hissen. Damals erntete die Regierung Kritik von Experten und der Opposition, die an Österreichs Neutralität erinnerten. Im Oktober war das nicht der Fall. Die Vorsitzenden aller Parlamentsparteien drückten sogar in einer gemeinsamen Erklärung ihre Solidarität mit Israel aus – eine Seltenheit im polarisierten innenpolitischen Klima.
Allerdings hat die Einigkeit inzwischen zu bröckeln begonnen. Der SPÖ-Chef Andreas Babler bezeichnete die Ablehnung der Uno-Resolutionen kürzlich als Fehler, die Regierung handle unausgewogen. Ähnlich äusserte sich der FPÖ-Chef Kickl. Eine Enthaltung wäre mit der Neutralität besser vereinbar gewesen, fand er. Offen ist, was ein Sieg seiner Partei bei den Wahlen im Herbst für das Verhältnis zu Israel bedeuten würde. Der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde erklärte im Oktober, man dürfe der FPÖ nicht die Tür aufmachen. Es gebe nach wie vor viele Kellernazis in der Partei.