In den letzten Wochen hat es Appelle gehagelt, in denen Regierungen zu härterem Vorgehen gegen Israel aufgefordert wurden. Solche Aufrufe sind nutzlos und dienen vor allem der Selbstdarstellung.
Jetzt kann nur noch der Papst helfen. «Höchst Heiliger Vater, bitte gehen Sie nach Gaza und bringen Sie den Kindern das Licht, bevor es zu spät ist», schrieb der Pop-Star Madonna letzte Woche auf X. Und weil sie immerhin genügend Realitätssinn besitzt, erwartet Madonna nicht, dass Papst Leo der Bitte Folge leistet. Darum fügt sie hinzu, dass sie zum 25. Geburtstag ihres Sohnes Rocco Geld an humanitäre Organisationen in Israel und Palästina überweisen werde. Ihre Fans bittet sie, es ihr gleichzutun, um die unschuldig im Kreuzfeuer gefangenen Kinder im Gazastreifen zu retten.
Etwas weniger Realitätssinn haben rund dreissig Schweizer Völkerrechtler bewiesen, die gleichentags – «besorgt über die Passivität der Schweiz» – einen offenen Brief an den Bundesrat geschickt haben. Sie erinnern die Landesregierung daran, dass sie verpflichtet sei, die Einhaltung der Genfer Konvention seitens Israel «aktiv durchzusetzen» und «Verbrechen gegen die Menschlichkeit und möglicherweise Völkermord» zu verhüten und zu ahnden. Ausserdem fordern sie, dass die Finanzierung des 1949 von der Uno gegründeten Palästinenserhilfswerks UNRWA fortgesetzt werde.
«Herr Cassis, handeln Sie endlich!»
Schon seit Wochen hagelt es von allen Seiten offene Briefe. Ehemalige deutsche Diplomaten schreiben an den Aussenminister Johann Wadephul, sie seien «entsetzt und verständnislos» angesichts der Lage im Gazastreifen. Und 55 Schweizer Ex-Diplomaten zeigen sich schockiert über «das Schweigen und die Passivität» der Schweiz und fordern von Bundesrat Ignazio Cassis ein schärferes Vorgehen gegen Israel. Ein Appell der SP verlangt: «Herr Aussenminister Cassis, im Namen der Menschlichkeit: Handeln Sie endlich!»
Die Grüne Partei der Schweiz schreibt, «die Tatenlosigkeit und das ohrenbetäubende Schweigen» müssten «ein Ende haben». Sie fordert ein «Engagement für einen sofortigen Waffenstillstand», die «sofortige Freigabe und massive Aufstockung der UNRWA-Gelder», einen Einsatz für Hilfslieferungen in den Gazastreifen, damit «die Notlage sofort beendet werden» könne.
Sogar der Unterverband des Personals privater Transportunternehmen schreibt dem Bundesrat: «Ihre Haltung ist eines Staates, der die Genfer Konvention unterzeichnet hat, unwürdig!»
Und in Deutschland haben sich über 350 Prominente aus dem Showbiz für einen Brief an Bundeskanzler Friedrich Merz zusammengetan, um ihm mitzuteilen: «Worte alleine retten keine Leben.» Mit «tiefster Dringlichkeit» ermahnen sie Merz: «Die israelische Regierung weiter so vollumfänglich zu unterstützen, während Gaza ausgehungert und Auffanglager für Hunderttausende Menschen geplant werden, hat mit deutscher Staatsräson rein gar nichts zu tun.»
Alle wollen mitreden
Daniel Thürer, emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich, gehört zu den Mitunterzeichnern des Aufrufs der Völkerrechtler von vergangener Woche an den Bundesrat. Im Gespräch bekräftigt er, dass die Schweizer Regierung zu passiv sei. Zugleich ist ihm klar, dass der offene Brief keine grosse Wirkung erzielen werde, er sei aber auch als Signal an die Öffentlichkeit zu verstehen. Er könne sich allerdings vorstellen, dass man in Bern sauer sei auf die Völkerrechtler. Sie könnten, sagt er, den Eindruck erwecken, man wolle dem Bundesrat eine Lektion erteilen.
Ganz unbegründet ist seine Sorge nicht. Bundesrat Ignazio Cassis wirkte schon etwas gereizt, als er nach den gescheiterten Zollverhandlungen mit der amerikanischen Regierung auf eine kritische Nachfrage eines Journalisten von Radio SRF antwortete: «Wir kennen unseren Job. Sie sind Journalist, wir sind Exekutivmitglieder, wir wissen, was notwendig ist.» Das komme ihm vor wie bei Fussballspielen der Nationalmannschaft, so Cassis weiter. Da hat man auch plötzlich 9 Millionen Experten, die alle wissen, wie man Tore schiesst.
So aber funktioniert Politik, das sollte man einem Magistraten nicht erklären müssen. Alle reden mit. Der Gaza-Krieg hat allerdings andere Dimensionen. Hier wollen zwar auch alle mitreden, doch nicht immer ist es hilfreich. Wer allerdings nur einen kleinen Rest an Herzensvernunft besitzt, kann nicht gleichgültig bleiben angesichts der Zerstörung und der Opfer unter der Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Man kann es umso weniger, wenn die israelische Regierung, wie sie angekündigt hat, demnächst die Stadt Gaza einnehmen will. Doch wer zugleich einen Rest an politischer Vernunft aufbringt, weiss auch, dass es in diesem Konflikt die einfachen Lösungen nicht gibt.
Offene Briefe kosten keinen Heller
Darin aber liegt der Selbstbetrug der zitierten offenen Briefe und treuherzigen Appelle: Sie tun so, als könnte der Krieg «sofort» enden, wenn nur Israel zur Raison gebracht würde. Und als würde es reichen, wenn die Schweizer oder die deutsche Regierung ihrer in der Genfer Konvention festgehaltenen Verpflichtung nachkämen. Mit ihrer Passivität würden sie sich mitverantwortlich machen dafür, dass möglicherweise ein Genozid im Gange ist und nicht verhindert worden ist.
Im vollen Wissen, dass die offenen Briefe das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind – denn sie kosten keinen der Unterzeichner auch nur einen Heller –, suggerieren diese dennoch, die Schweiz oder ein Bundeskanzler Merz habe die Durchsetzungsmacht, um Israel von einer militärischen Offensive abzuhalten, die potenziell den Tatbestand eines Völkermords erfüllen könnte.
Nicht zuletzt versuchen die offenen Briefe den Anschein zu erwecken, sie seien ein zweckmässiges Mittel, um eine Regierung dazu zu bewegen, ihre angeblichen völkerrechtlichen Versäumnisse zu korrigieren. Man kann das naiv nennen, doch es ist heuchlerisch. Denn das wohlfeile Vorgehen verschleiert geflissentlich das Wissen um die Nutzlosigkeit solcher Appelle. Mit den selbstgerechten und moralisch einwandfreien Aufrufen glaubt man, sich auf die richtige Seite der Geschichte retten zu können.
Nirgends ist der Selbstwiderspruch solcher Aufrufe deutlicher zu erkennen als in der wiederholten Mahnung, die Unterstützung der Uno-Agentur UNRWA müsse wiederaufgenommen werden. Das vor bald achtzig Jahren gegründete Hilfswerk ist gleichsam der Inbegriff des Scheiterns. Die UNRWA sollte das Flüchtlingselend beheben, trug aber stattdessen im Verbund mit arabischen Ländern dazu bei, dass die Flüchtlinge in dem Konflikt mit Israel zu einem unerlässlichen Unterpfand instrumentalisiert werden konnten.
Die offenen Briefe verschweigen vorsätzlich, dass die UNRWA längst ein Teil des Problems geworden ist. Sie ignorieren die Verstrickung von Mitarbeitern der UNRWA in den Pogrom vom 7. Oktober 2023. Ebenso unterschlagen sie die Tatsache, dass die Hamas ihre Stellungen teilweise im Schutz von Niederlassungen des Palästinenserhilfswerks errichtet hatte.
Andere Kriege werden ignoriert
Man kann Konflikte nicht gegeneinander ausspielen und Todesopfer oder das Leiden der Menschen nicht zueinander in Vergleich setzen. Dennoch müssen sich die Verfasser der offenen Briefe die Frage gefallen lassen, warum sie den Schweizer Bundesrat oder Bundeskanzler Merz ermahnen, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, und sie dazu auffordern, entschiedener gegen Israel vorzugehen.
Warum schauen die Absender offener Briefe dagegen stumm zu, wenn Putin das Völkerrecht bricht und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht? Warum schreiben sie keine Appelle an ihre Regierungen, wenn im Sudan seit über zwei Jahren wieder ein Krieg tobt und inzwischen 24 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht sind? Woher das «dröhnende Schweigen», da doch in diesem Konflikt fast 14 Millionen Menschen vertrieben wurden und in Darfur eine Stadt mit noch 300 000 Einwohnern seit über einem Jahr belagert wird und nicht mehr mit Hilfsgütern versorgt werden kann?
Es gibt darauf nur zwei mögliche Antworten. Und beide sind im gleichen Mass beschämend und deprimierend. Entweder gibt es Menschenleben, die weniger zählen und für die keiner offene Briefe verschickt. Oder, was wahrscheinlicher ist, man misst Israel und die Juden mit anderen Massstäben. Nicht die Kritik an Israel ist antisemitisch, aber diese Doppelmoral.
Was die Verfasser und Unterzeichner aller offenen Briefe gerne ausblenden: Ihre Unterschrift rettet kein Menschenleben, sie beschleunigt nicht die Vereinbarung eines Waffenstillstands, sie verhindert keine Hungersnot. Sie zahlt allein auf das eigene moralische Konto ein. Und sie besänftigt die Gewissensnot, da man hierzulande ungehindert das Leben geniesst, während andernorts Tod und Verderben herrschen.
Madonna weiss, was Appelle wert sind und dass sie nichts kosten. Sie macht sich nichts vor und überweist darum immerhin Geld an eine Hilfsorganisation. Das schreibt sie jedenfalls auf X.