Ein Podcast-Team machte sich auf die Suche nach dem untergetauchten Mitglied der dritten RAF-Generation. Kurz vor Schluss brachen sie ab – sie mussten auf Sendung.
«Most Wanted: Wo ist RAF-Terroristin Daniela Klette?»: Nach gängigen journalistischen Kriterien hätte der ARD-Podcast gar nicht online gestellt werden dürfen. Denn die Recherche führte ins Leere.
Das war auch den Machern des Podcasts bewusst. «Normalerweise würden wir euch diese Geschichte nicht erzählen», sagt der Host gleich zu Beginn des zweiteiligen Beitrags warnend, der kurz vor Weihnachten 2023 online ging. Am Schluss des Podcasts rechtfertigt sich der Host erneut für die Ausstrahlung und zieht Johann Wolfgang von Goethe zu Hilfe: «Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen.»
Die Reise hatte mit einem Hinweis aus der Hörerschaft begonnen. Der Hörer schrieb in einer E-Mail, vor einigen Jahren habe ihm an einer Party eine ältere Frau aus Köln erzählt, sie sei jene RAF-Terroristin, nach der auf Fahndungsplakaten gesucht werde: Daniela Klette. Er fragte das Podcast-Team, ob man das überprüfen könne.
Hat sich Klette an einer Party geoutet?
Der Jagdinstinkt der Investigativjournalisten war geweckt. Daniela Klette gehört zur sogenannten dritten Generation der Rote-Armee-Fraktion (RAF), nach der die Ermittlungsbehörden seit vielen Jahren erfolglos fahnden. Der RAF soll sich Daniela Klette 1989 angeschlossen haben und dann untergetaucht sein. Zusammen mit zwei weiterhin flüchtigen Komplizen wird sie für verschiedene Gewaltdelikte in der Endzeit der RAF verantwortlich gemacht.
Später sollen die drei «RAF-Senioren», wie sie in den Medien zuweilen genannt werden, eine Reihe von Raubüberfällen begangen haben, um sich den Lebensunterhalt im Untergrund zu finanzieren.
Hat sich Daniela Klette an einer Party tatsächlich einem Zufallsbekannten anvertraut und sich als ehemalige RAF-Terroristin geoutet?
Um das herauszufinden, kontaktierte das ARD-Podcast-Team den kanadischen Investigativjournalisten Michael Colborne. Er gehört dem Recherchenetzwerk Bellingcat an, das so etwas wie die Speerspitze des modernen Journalismus ist. Anhand von öffentlich zugänglichen Daten, sogenannter «open-source intelligence» (Osint), hat Bellingcat in den vergangenen Jahren mit seinen Rechercheergebnissen wiederholt für Furore gesorgt: etwa mit Recherchen zum Abschuss des Flugs MH 17 in der Ostukraine oder zuletzt im Zusammenhang mit der Vergiftung des kürzlich verstorbenen russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny.
Um die Anfrage des ARD-Podcast-Teams zu beantworten, wendete Colborne nach eigenen Angaben nicht mehr als eine halbe Stunde auf. Dazu benutzte er ein gängiges Tool, wie es im Internet für alle zugänglich ist. Er stellte ein Bild der Kölner Partygängerin, das der Podcast-Hörer zur Verfügung gestellt hatte, jenem von Daniela Klette auf dem Fahndungsplakat gegenüber. Das Resultat war eindeutig: «No match», die Partygängerin aus Köln ist nicht identisch mit der ehemaligen RAF-Terroristin.
Aus Neugier änderte Colborne anschliessend die Fragestellung: Jetzt sollte die Software nicht zwei Bilder miteinander abgleichen, sondern im Internet anhand einer vorgegebenen Foto – jener vom Fahndungsplakat – nach weiteren Bildern derselben Person suchen. In Berlin schlug die Suchanfrage gleich mehrfach an – in einem afrobrasilianischen Capoeira-Klub und auf einem Facebook-Account, der auf den Namen Claudia Ivone lautete.
Der Investigativjournalist ist sich sicher
Im fernen Kanada ist sich der Investigativjournalist sicher: Bei den Bildern im Umfeld des Berliner Capoeira-Klubs handelt es sich um dieselbe Person wie auf dem Fahndungsplakat: Daniela Klette. Nur eines kann Colborne kaum glauben: dass die untergetauchte RAF-Terroristin derart ungeniert in die Kamera lächelt und die Bilder sogar auf Facebook postet.
Der Account mit den Bildern von Daniela Klette alias Claudia Ivone ist weiterhin einsehbar. Man sieht sie im Kreise ihrer Kollegen und Kolleginnen, an Capoeira-Veranstaltungen oder einmal auch in den Ferien, vermutlich mit ihrem zeitweiligen Partner aus Brasilien. Aus heutiger Sicht fällt auf: Auch mit rund 60 Jahren gleicht sie frappant der Frau auf dem Fahndungsplakat.
Das ARD-Podcast-Team möchte das Ganze überprüfen. Hat sein kanadischer Kollege tatsächlich jene RAF-Terroristin ausfindig gemacht, nach der die deutschen Behörden seit vielen Jahren vergeblich fahnden? Verkehrt Daniela Klette etwa in einem Capoeira-Klub unweit der Redaktion?
So richtig daran glauben tun die Journalisten nicht. Nachdem die erste Spur zur Kölner Partygängerin in die Irre geführt hat, sind sie etwas verunsichert. Vielleicht handelt es sich ja um eine Schwester der Terroristin? Hat sie die Bild-Software mit ihr verwechselt?
Zwei Mitglieder des Podcast-Teams melden sich für einen Capoeira-Anfängerkurs an. An den Wänden des Klublokals hängen die Bilder, die sie bereits aus dem Internet kennen: Daniela Klette inmitten der afrobrasilianischen Community.
Doch real taucht die «most-wanted fugitive», die meistgesuchte Flüchtige, nicht auf. Man kennt sie zwar im Klublokal, viele Jahre sei sie hier Stammgast gewesen, aber seit einiger Zeit komme sie nicht mehr. Wo sie wohnt? Das weiss niemand.
«Daniela Klette haben wir nicht gefunden»
Der Termin für die geplante Podcast-Folge rückt bedrohlich nahe. Man will damit unbedingt noch vor Weihnachten online gehen. Als es so weit ist, räumt der Host an einer Stelle ein: «Das Ergebnis unserer Recherche scheint ziemlich ernüchternd – die RAF-Terroristin Daniela Klette haben wir nicht gefunden.»
Zwei Monate später, am vergangenen Dienstag, der Paukenschlag: Die mutmassliche RAF-Terroristin sei in ihrer Mietwohnung in Berlin-Kreuzberg verhaftet worden, verkündete die zuständige Staatsanwaltschaft an einer Medienkonferenz.
Der entscheidende Hinweis sei im vergangenen November eingegangen. Stammte er von den Podcast-Leuten, die im November im Capoeira-Lokal recherchierten?
Mit dieser Frage sehen sich die Verantwortlichen des ARD-Podcasts konfrontiert. In einer Spezialfolge, die sie aufgrund der jüngsten Ereignisse aufgenommen haben, stellen sie klar: Tipps oder Hinweise an Ermittlungsbehörden seien keine weitergegeben worden.
Anderseits sei es aber ihre journalistische Pflicht, Fakten zu checken. In diesem Kontext habe es tatsächlich einen Austausch mit den Ermittlungsbehörden gegeben. Man könne aber nicht mit Sicherheit sagen, ob irgendeine dieser E-Mails oder eines dieser Gespräche der entscheidende Hinweis war.
Die Staatsanwaltschaft äussert sich dazu nicht. Man habe dem Hinweisgeber Vertraulichkeit zugesichert.