Von der Rechtschreibung bis zum AHV-Alter, von der Pandemie bis zum Atomkrieg – die Welt folgt Regeln. Im Lauf der Geschichte hat sich nicht nur ihr Inhalt verändert: Es gebe immer mehr Regeln ohne Ausnahmen, sagt die Historikerin Lorraine Daston.
Wer kann sich eine Welt vorstellen, in der zwei plus zwei nicht vier ergibt, sondern fünf? Oder eine, in der Einhörner kompatibel mit den Naturgesetzen sind? Lorraine Daston, vielfach ausgezeichnete amerikanisch-deutsche Historikerin, ist Expertin für die Geschichte des Wissens und der Wissenschaft, und sie tut, was Historiker im gewinnbringendsten aller Fälle tun: Sie zeigt, dass die Welt nicht zwangsläufig werden musste, was sie heute ist. «Ein Nutzen der Geschichte liegt in der Erschütterung heutiger Gewissheiten», denn damit weite sich «unser Sinn für das Denkbare», schreibt Daston in ihrem neuen Buch. Es handelt von den Regeln, an die wir glauben – im Alltag und in der Politik, aber auch in der Natur.
«NZZ Geschichte»: Wer Regeln hört, denkt an Schiedsrichter. Oder an Hausmeister. Was brachte Sie als Historikerin aufs Thema?
Lorraine Daston: Vor etwa zehn Jahren habe ich zusammen mit Kolleginnen und Kollegen ein Buch über die «Rationalität des Kalten Kriegs» geschrieben. Das klingt vielleicht wie ein Widerspruch in sich, man denkt beim Kalten Krieg eher an Irrationalität. Aber uns ist aufgefallen, wie unheimlich wichtig Regeln in jener Ära waren. In einer Situation, in der eine Interkontinentalrakete Washington oder Moskau innert dreissig Minuten erreichen konnte, gab es überhaupt keine Zeit für Diskussionen oder Verhandlungen. Die üblichen politischen Prozesse zwischen Staaten waren ausser Kraft, denn wenn eine solche Rakete einmal unterwegs war, konnte weder der Präsident der Vereinigten Staaten noch der sowjetische Premierminister etwas daran ändern. Umso entscheidender war es, dass beide Seiten die Spielregeln kannten und dass diese Regeln strikt und glasklar waren.
Das Schicksal der Welt hing davon ab.
Die Tatsache, dass es die Welt immer noch gibt, ist vielleicht ein Beweis dafür, dass diese Regeln funktionierten. Wer daran dachte, die Sowjetunion anzugreifen, der wusste, dass die sofortige automatische Antwort die Vernichtung der USA sein würde – und umgekehrt. Das war fast wie ein Naturgesetz, man konnte daran so wenig ändern wie an der Schwerkraft, jedenfalls im Prinzip. Man sprach vom Gleichgewicht des Schreckens, von der «Mutually Assured Destruction», der gegenseitig zugesicherten Zerstörung. Die Abkürzung dafür war MAD, und nicht von ungefähr wurde diese Doktrin in Filmen wie Stanley Kubricks «Dr. Strangelove» persifliert. Aber in der Extremsituation eines drohenden atomaren Weltkriegs hat sich die Strategie maximaler Rigidität bewährt. Diese Regel war ein Programm, ein Algorithmus, der keinen Spielraum und keine Ausnahme zuliess.
Zur Person
Lorraine Daston
Geboren 1951 in Lansing (Michigan, USA), lehrte an den Universitäten Harvard, Princeton, Brandeis, Göttingen und Chicago. Von 1995 bis 2019 leitete sie das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Heute lebt und arbeitet sie in Chicago und Berlin. Auf Deutsch sind von ihr erschienen: «Wunder und die Ordnung der Natur» (mit Katharine Park, Eichborn 2002), «Objektivität» (mit Peter Galison, Suhrkamp 2007), «Gegen die Natur» (Matthes & Seitz 2018) sowie zuletzt «Regeln. Eine kurze Geschichte» (Suhrkamp 2023).
Müsste jede Regel so beschaffen sein, damit sie funktioniert?
Vielleicht meinen wir das heute. Und auch in der Zeit des Kalten Kriegs dachte man sich, dass Regeln wie Automaten funktionieren müssten, nicht nur im militärisch-strategischen Bereich, sondern überall, wo es um Entscheidungen und Steuerung ging, in der Wirtschaftstheorie, in der Psychologie oder in den Sozialwissenschaften. Sieht man sich aber an, was man vor dem 20. Jahrhundert unter einer Regel verstand, dann war das etwas ganz anderes. Das brachte mich dazu, ein Buch über die Geschichte der Regeln zu schreiben.
In Ihrem Buch geht es um Kochrezepte und mathematische Verfahren, um Anleitungen für den Festungsbau und die Zehn Gebote, um Rechtschreibung und Modelle politischer Herrschaft. Für alles im Leben scheint es Regeln zu geben.
Ich würde sogar sagen: Kulturen bestehen aus Regeln. Manchmal wünschen wir uns eine Welt ohne Regeln, aber das ist nur eine Phantasie: Ohne Regeln gibt es keine Kultur. Ich wäre sehr überrascht, wenn man irgendwo in der Vergangenheit oder in irgendeiner Ecke der Welt eine Kultur entdecken würde, in der es keine Regeln gab oder gibt.
Und was ist mit Robinson Crusoe, dem schiffbrüchigen Einsiedler auf seiner Insel?
Das Erste, was Robinson Crusoe macht: Er gibt sich Regeln, um seine Tage zu strukturieren, denn er weiss, dass ihn ein Alltag ohne geregelten Ablauf zerstören würde. Das war auch die Erfahrung, die viele Leute während der Covid-Pandemie gemacht haben: Sie mussten neue Strukturen für ihren Alltag finden. Das war nicht einfach.
Ist das die Funktion von Regeln: Sie schaffen Strukturen?
Ich würde sagen: Sie schaffen Vorhersehbarkeit. Stellen Sie sich vor, wir könnten uns nicht darauf verlassen, dass die Sonne jeden Morgen wieder aufgeht – in einer solchen Welt wäre kein menschliches Leben möglich. Die Regeln, die wir uns geben, sind gewissermassen die Fortsetzung dieser natürlichen Regelmässigkeiten. Wir können nicht im Chaos existieren. Wir sind soziale Wesen, und Regeln ermöglichen soziale Interaktion, indem sie das Verhalten der anderen in einem bestimmten Mass vorhersehbar machen.
Der Fall der atomaren Abschreckung zeigt das drastisch. Doch wie wichtig ist die Vorhersehbarkeit, die Regeln schaffen, im normalen Alltag?
Sie ist auch hier entscheidend. Man kann das gut beobachten, wenn Kinder in die Gesellschaft hineinwachsen. Wann gibt es Essen? Wer ist wofür verantwortlich? Was ist verboten, was ist erlaubt? Familien regeln zahllose Dinge, implizit oder explizit. Und jeder, der jemals mit kleinen Kindern zu tun gehabt hat, weiss, wie schnell sie darin sind, aus allem eine Regel zu machen. Versuchen Sie einmal, ein zweijähriges Kind davon zu überzeugen, dass bei einer Regel eine Ausnahme gelten soll – das ist eine ziemlich strapaziöse Angelegenheit. Kinder achten penibel darauf, dass man sich an die Regeln hält.
Wieso tun sie das?
Für sie ist das Leben denkbar unsicher. Erwachsene haben die Regeln verinnerlicht, Kinder müssen diese Orientierungspunkte erst noch finden. Zugleich lernen sie schon mit zwei, spätestens drei Jahren, dass für unterschiedliche Bereiche unterschiedliche Regeln gelten können. Womöglich sind die Regeln der Mutter nicht genau die gleichen wie die des Vaters, und die Kinder wissen, dass man solche Lücken im System für die eigenen Zwecke nutzen kann. Die Spielräume, die die Regeln offen lassen, sind so wichtig wie die Regeln selber.
«Vorbilder werden nicht mehr zu den Regeln gezählt. Natürlich gibt es noch Vorbilder, aber sie sind das Gegenteil dessen geworden, was als Regel gilt.»
Sie unterscheiden in der Geschichte drei Gattungen von Regeln: Algorithmen, Gesetze und Vorbilder. Warum zählen Sie Vorbilder zu den Regeln?
Ich bin Spezialistin für die Frühe Neuzeit, ich habe hauptsächlich mit dem 16., dem 17. und dem 18. Jahrhundert zu tun, und ich habe mir die Frage genau umgekehrt gestellt: Warum werden Vorbilder heute nicht mehr zu den Regeln gezählt? Natürlich gibt es noch immer Vorbilder, aber ein Vorbild ist das Gegenteil dessen geworden, was als Regel gilt. Dabei verstand man in der westlichen Kultur bis um etwa 1800 unter einer Regel hauptsächlich dies: ein Vorbild, ein Modell, ein Paradigma. Diese Bedeutung von Regel ist aus unserem Bewusstsein und aus unseren Wörterbüchern fast völlig verschwunden. Das hat mich in meiner ganzen Arbeit am Thema am meisten überrascht.
Vorbilder als Regeln – was muss man sich darunter vorstellen?
Eines meiner Lieblingsbeispiele ist die Benediktinerregel. Das sind die Vorschriften, die Benedikt von Nursia im sechsten Jahrhundert nach Christus für den Orden formulierte, den er in Italien gründete. Die «Regula Benedicti» besteht aus 73 Kapiteln, und die bestimmen das Leben im Kloster in jedem Detail: wann die Mönche morgens aufstehen müssen, welche Arbeit sie zu leisten haben, welche Bekleidung und welches Bettzeug sie bekommen, welches Essen, wie viel und zu welcher Zeit. Doch bei jeder Bestimmung folgt schon im nächsten Satz eine Ausnahme. So darf zum Beispiel während der Mahlzeit niemand sprechen, die einzige Stimme ist die des Mönchs, der aus der Bibel liest – ausser ein Gast besucht das Kloster, und der Abt will ihn als Gesprächspartner am Tisch. Oder: Jeder Mönch erhält nur einen Viertelliter Wein pro Tag – ausser er hat vormittags unter einer heissen Sommersonne gearbeitet, dann darf der Abt mehr bewilligen. So gibt es immer besondere Umstände, die eine Ausnahme erfordern. Und allmählich versteht man, dass die «Regula Benedicti» im Grunde nicht aus den 73 Kapiteln besteht, sondern aus dem Abt: Weil er die Regel interpretiert, ist er das Exempel, das Vorbild.
Regeln machen die Welt vorhersehbar. Wie ist Vorhersehbarkeit möglich, wenn es jemanden gibt, der jederzeit eine Ausnahme beschliessen kann?
Das muss kein Widerspruch sein. Die Ausnahmen liegen im Ermessen des Abts, und Ermessen ist nicht das Gleiche wie Willkür. Nicht umsonst ist der Ablauf des Lebens in einem Benediktinerkloster ziemlich vorhersehbar, und das seit vielen Jahrhunderten. Zudem hat sich die Regel weit über die Benediktiner hinaus in Gemeinschaften auf der ganzen Welt etabliert. Diese scheinbar strenge Ordnung hat Spielräume. Sie ist elastisch, darum kann sie sich unerwarteten Umständen anpassen. Ich denke, wir haben heute ein Ideal von Regeln, das jenem von Naturgesetzen gleicht. Aber wenn die Benediktinerregel so strikt und lückenlos wäre, wie wir es heute von einer Regel erwarten, dann gäbe es keine Benediktinerregel und auch keine Benediktinerkloster mehr. Diese Regel ist für eine Welt gemacht, in der man mit Veränderungen und Überraschungen rechnen muss. Es ist wie bei den Vorbildern im Handwerk: Ein Schreiner, der einen Tisch baut, folgt allgemeinen Regeln für den Bau von Tischen. Aber er braucht Ermessen und Urteilskraft, um zu wissen, dass man einen Tisch aus Nussbaumholz anders baut als einen Tisch aus Esche. Dazu braucht er die Regeln nicht aufzugeben. Es genügt, dass er sie justiert.
Wo aber liegt der Unterschied zwischen Ermessen und Willkür?
Wenn wir das ein für alle Mal wissen könnten, hätten wir eine Art Über-Regel, die entscheidet, ob die Verletzung einer Regel vernünftig, unvernünftig oder eben willkürlich war. In der Theorie ist das ein unlösbares Problem, doch in der Praxis ist es selten unlösbar. Die meisten Leute sind durchaus in der Lage, eine vernünftige Anwendung der Urteilskraft von Willkür zu unterscheiden.
«Ein Schreiner folgt Regeln für den Bau von Tischen. Aber er weiss auch, dass man einen Tisch aus Nussbaumholz anders baut als einen aus Esche.»
Sie haben die Naturgesetze erwähnt, die heute das Ideal einer Regel abgeben. Komisch ist, dass sie «Gesetze» heissen. Das klingt nach dem Ausdruck eines Willens. Dabei folgt die Natur keinem Willen.
Es ist komisch, das stimmt, auch in anderen Sprachen, mit den «lois de la nature» oder den «natural laws». Und man fand es schon damals komisch, als man diesen Begriff erfand. Gottfried Wilhelm Leibniz, einer der grossen Philosophen des 17. Jahrhunderts, meinte, es brauche ein Bewusstsein, um von Gesetzen zu reden, aber er wusste auch, dass die Materie kein Bewusstsein hat. Woher sollten die Planeten also wissen, dass sie den «Naturgesetzen» folgen sollen? Darum hatte Leibniz von Anfang an seine Bedenken gegenüber diesem Konzept, genau wie viele andere Philosophen. Trotzdem setzte es sich durch, und dafür gibt es einen einfachen Grund: Man ging davon aus, dass es jemanden gibt, der dem Universum Regeln gegeben hat. Dieser Gesetzgeber war Gott.
Ohne Gott ging es nicht?
Nein, etwas anderes war damals nicht vorstellbar. Das gilt für Descartes, der den Begriff der «Naturgesetze» prägte, aber auch für Newton, Leibniz, Boyle – für alle Helden der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts. Sie sahen in den Naturgesetzen die Regeln Gottes. Und sie waren der Ansicht, dass dieser Gesetzgeber auch alles anders hätte machen können. Wenn Gott es gewollt hätte, fand Descartes, dann wären zwei plus zwei nicht vier, sondern fünf. Eine Frage war aber strittig: Wie viel konnte oder musste Gott noch tun, damit die Schöpfung wie vorgesehen weiterfunktionierte? Für Leibniz war die Sache mit der Setzung der Regeln erledigt, aber damit war er in der Minderheit. Newton ging davon aus, dass Gott kontinuierlich neue Kraft ins Universum fliessen liess, damit es nicht zum Stillstand kommt, so wie ein Uhrwerk, das täglich aufgezogen und manchmal gerichtet werden muss.
Zu Gesetzen gehören Ausnahmen. Aber in der Natur gibt es keine.
Dem hätte Leibniz zugestimmt. Doch auch hier dachte die Mehrheit in der damaligen Debatte über die Naturgesetze anders: Sie rechnete mit dem Auftreten von Anomalien, etwa mit Unregelmässigkeiten in der Umlaufbahn der Himmelskörper. Oder damit, dass Nordlichter nicht nur im hohen Norden erscheinen könnten. Newton erklärte, die Naturgesetze seien nur eine momentane Entscheidung, Gott könne sie jederzeit ändern. Wozu sollte es einen Herrscher geben, wenn er keine Herrschaft ausüben könne?
Die Erscheinung von «Wundern», die den Naturgesetzen widersprachen, bewies die Allmacht Gottes.
Genau. Zugleich war nicht immer klar, wann es sich um wahre Wunder handelte. Man kannte die «mirabilia», das waren wundersame Ereignisse, die zwar selten, aber letztlich ebenfalls Produkte der Naturgesetze waren. Und dann gab es die «miracula», echte Ausnahmen von den Naturgesetzen. Die Grenze zwischen den zwei Kategorien war nicht eindeutig. Die Tatsache, dass das deutsche Wort «Wunder» beide umfasst, ist ein Überbleibsel dieser Zeit.
Heute definieren wir die Naturgesetze strenger: Wo sie gelten, gibt es keine Wunder. Darin scheint sich jene allgemeine Entwicklung zu spiegeln, die Sie in Ihrem Buch zeigen: Es gibt immer mehr Regeln ohne Ausnahmen.
Ja, das scheint mir richtig. Wenn man sich das Ideal dessen ansieht, was in der westlichen Kultur eine Regel ist, dann ist das der grosse Bogen, der von der Frühen Neuzeit in die Moderne führt: Man versteht Regeln immer weniger als Vorbild, sie tendieren zum Algorithmus. Sie verlieren an Spielraum, sie werden starrer und schlanker.
Das ist eine zentrale Unterscheidung, die Sie machen: zwischen «fülligen» und «schlanken» Regeln.
Füllige Regeln sind ausführlich formuliert, sie sind reich an Erklärungen, Beispielen, Vorbehalten, Ausnahmen, Ratschlägen. Dieses Polster macht sie elastisch: Sie antizipieren veränderliche Realitäten und zerbrechen nicht, wenn sie auf überraschende Umstände treffen. Die Benediktinerregel ist eine füllige Regel – schlank dagegen ist der Algorithmus zur Lösung einer quadratischen Gleichung. Oder die Doktrin für den Atomwaffeneinsatz, von der wir gesprochen haben. Schlanke Regeln enthalten nur die Anweisung zur Ausführung und keine weiteren Erläuterungen. Deswegen sind sie fragiler als füllige Regeln, sie funktionieren am besten in einer stabilen, homogenen, standardisierten Welt. In einer solchen Welt lässt sich die Zukunft verlässlich aus der Vergangenheit extrapolieren.
Ist die Welt seit der Frühen Neuzeit berechenbarer geworden?
Eine schwierige Frage. Jedenfalls ist es eine grosse Hoffnung der Moderne, die Welt berechenbarer zu machen. Bis jetzt haben wir diesen Zustand nicht erreicht, darum sind die schlanken Regeln noch immer ein bisschen provisorisch. Mit ihnen errichten wir Inseln der Stabilität und Vorhersehbarkeit in einer chaotischen Realität, und diese Inseln sind jederzeit gefährdet durch Kriege, Naturkatastrophen, Revolutionen oder, wie wir eben erst gesehen haben, durch Pandemien. Und doch steckt in unseren Regeln die fromme Hoffnung, dass die Welt eines Tages restlos in ihnen aufgeht.
Sollen wir uns auf eine solche Welt freuen?
Eine Welt, in der alle Ausnahmen abgeschafft sind und sich jedes Ermessen erübrigt, wäre totalitär. Ich frage mich, warum das Ermessen, wenn es um Regeln geht, heute derart in Verruf geraten ist. Eine mögliche Antwort: In den westlichen Gesellschaften haben sich der Rechtsstaat und die Demokratie durchgesetzt. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verlangt, dass für alle die gleichen Regeln gelten und alle gleich behandelt werden. Dadurch gerät jede Ausnahme unter Verdacht. Zudem liegt es sozusagen in der Natur der Demokratie, dass man dem Ermessen misstraut, denn die grösste Gefahr für die Demokratie besteht darin, dass Einzelne oder ein Einzelner die Macht an sich reisst.
Ich sehe: Die Sache mit dem Ermessen ist ziemlich knifflig.
Und sie wird noch kniffliger, wenn man bedenkt, dass es keine Regel geben kann, die ganz ohne Ermessen und ohne Urteilskraft funktioniert. Man sieht es in der Bürokratie. Beamte kennen den «Dienst nach Vorschrift»: Sobald sie den Regeln haargenau folgen, funktioniert das System nicht mehr. Das zeigt sich, wenn sich bei der Grenzkontrolle kilometerlange Lastwagenstaus bilden. Oder auch daran, dass bei Facebook oder Twitter Moderatoren arbeiten, die die Posts prüfen: Die vielgerühmten Algorithmen allein können das nicht.
Weil sie noch nicht gut genug sind.
Ich denke, es liegt an etwas anderem. Auch in der bestmöglichen aller Bürokratien sind niemals alle Regeln restlos konsistent, und so muss man sich immer wieder entscheiden, welche Regel in einem gegebenen Fall die wichtigere ist. Dazu kommt, dass die Wirklichkeit laufend neue Fälle hervorbringt, so dass man die Regeln anpassen muss. Für all das braucht es ein Minimum an Ermessen und Urteilskraft. Man könnte auch sagen: gesunden Menschenverstand.
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