Die Reichen werden reicher, doch ihre Reputation ist so tief wie selten zuvor. Sie gelten als Schmarotzer, die sich nicht um ihre Bürgerpflichten scheren. Doch zumindest in der Schweiz hat das wenig mit der Realität zu tun. Eine Verteidigung der Reichen in fünf Punkten.
Die Reichen werden zur gejagten Spezies. Die Staatschefs der G-20 ventilierten am Gipfel in Rio eine Sondersteuer für Milliardäre. In einer Welt sich auftürmender Schuldenberge werden Millionäre zum Rettungsanker für ausgabenfreudige Regierungen. Auch in der Schweiz steht der nächste Angriff auf die Vermögenden an: Die Jungsozialisten wollen Erbschaften ab 50 Millionen Franken zur Hälfte abzwacken.
Reiche bewegen sich zusehends auf dünnem Eis. Historisch ist dies eher die Regel als die Ausnahme. Im Mittelalter galt Reichtum als sündig, aus Angst vor Revolten wurden Vermögende aus den Städten verbannt. Erst in der Renaissance entdeckten oberitalienische Städte die Reichen als Ressource, die sich in Zeiten der Not anzapfen liess.
In der Reformation stiegen die Reichen zu göttlichen Auserwählten auf, wie der Historiker Guido Alfani in seiner Geschichte der Reichen schreibt. Materieller Reichtum galt als Zeichen dafür, dass man für das Reich Gottes bestimmt ist. Mit der Industrialisierung setzte sich im 19. Jahrhundert ein profaneres Verständnis der Reichen durch. Gemäss marxistischer Doktrin galt es, die Bourgeoisie zu stürzen und durch eine Diktatur des Proletariats zu ersetzen.
Spätestens seit der Finanzkrise haben klassenkämpferische Töne wieder Konjunktur. Anders als in früheren Krisen kamen die Reichen dank den Finanzspritzen von Staaten und Notenbanken weitgehend ungeschoren davon. In der Pandemie wiederholte sich die Geschichte.
Das Bewusstsein für die eigene Fragilität ist auch bei den Reichen selber angekommen. «Entweder höhere Steuern oder Mistgabeln», so wandte sich eine Gruppe wohlhabender Amerikaner, die sich Patriotische Millionäre nennt, im Vorfeld des WEF 2022 an die Öffentlichkeit. Die Ungerechtigkeit des internationalen Steuersystems habe das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Eliten untergraben. «Besteuert uns, besteuert die Reichen, und besteuert uns jetzt», lautete die Forderung.
Besonders unter den Reichen im deutschsprachigen Raum seien Verlustängste weit verbreitet, sagt der Vermögenspsychologe Thomas Druyen. «Es muss objektiv geklärt werden, wie die gesamtgesellschaftliche Wirkung von Reichtum und den damit verbundenen Leistungen einzuschätzen ist», lautet seine Forderung. Höchste Zeit also für eine Bestandesaufnahme. Was nützen uns die Reichen?
1. Sie zahlen Steuern
Die Reichen finanzieren in der Schweiz einen grossen Teil des Staates. Das liegt daran, dass das Steuersystem progressiv ausgestaltet ist. Wer mehr verdient, zahlt nicht nur mehr Steuern – sondern es ist überproportional mehr.
Die wichtigste Einnahmequelle von Bund, Kantonen und Gemeinden ist die Einkommenssteuer. Sie bringt den drei Ebenen rund 66 Milliarden Franken ein. Das oberste eine Prozent der Einkommensbezieher bezahlt rund ein Viertel dieser Einkommenssteuern. Das zeigt der Verteilungsradar des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP), in dem offizielle Steuerdaten ausgewertet werden.
In den Jahren von 2010 bis 2021 lag der Anteil des Top-1-Prozent an den gesamten Einkommenssteuern stabil bei 22 bis 26 Prozent. Damit ist eine klare Umverteilung verbunden, denn diese Gruppe erzielte zwischen 10 und 12 Prozent aller Einkommen.
Das Top-1-Prozent ist eine international gängige Definition für die Reichen. Sie wurde berühmt durch den Slogan «Wir sind die 99 Prozent», mit dem die «Occupy Wall Street»-Bewegung gegen Ungleichheit protestierte. Aber man kann Reichtum auch breiter fassen. Die Top-5-Prozent beispielsweise bezahlen in der Schweiz rund 42 Prozent aller Einkommenssteuern – also fast die Hälfte.
Zusätzlich sind die Reichen in der Schweiz jener Steuer unterworfen, die am G-20-Gipfel für die ganze Welt gefordert wurde. Kein anderes Land hat eine so griffige Vermögenssteuer wie die Schweiz. Sie bringt dem Fiskus rund 9 Milliarden Franken ein und ist eine wichtige Quelle für die Finanzierung von Kantonen und Gemeinden.
Das oberste eine Prozent zahlt hierzulande rund 51 Prozent aller Vermögenssteuern. Das hat die Denkfabrik Avenir Suisse auf Basis der offiziellen Steuerstatistiken ermittelt. Wenn man die Top-5-Prozent betrachtet, sind es 87 Prozent. Das macht die Vermögenssteuer zur eigentlichen Reichensteuer der Schweiz.
Eine kaum bekannte Reichensteuer gibt es ausserdem bei der AHV, dem wichtigsten Sozialwerk. Die AHV-Beiträge sind nicht gedeckelt, selbst bei hohen Löhnen von beispielsweise 1 Million Franken fallen die normalen prozentualen Sozialabgaben an. Aber ausbezahlt wird nur die gedeckelte Maximalrente. Deshalb sind die obersten 10 Prozent der Lohnbezüger wichtige Nettozahler der AHV, wie eine IWP-Analyse gezeigt hat. Schon der frühere Bundesrat und «Vater der AHV», Hans-Peter Tschudi, sagte: «Die Reichen brauchen die AHV nicht, aber die AHV braucht die Reichen.»
Was die Schweizer Bevölkerung an den Reichen hat, lässt sich mit einem Gedankenexperiment verdeutlichen. Was wäre, wenn das reichste Prozent plötzlich weg wäre? Bund, Kantone und Gemeinden könnten sich sehr vieles nicht mehr leisten, und in der AHV würde ein noch grösseres Finanzloch klaffen als ohnehin schon. Die Alternative wäre, dass der breite Mittelstand mehr bezahlen muss, um den Staat zu finanzieren. Die Mittelschicht dürfte es aber vorziehen, dass ihr die Reichen als Steuerzahler erhalten bleiben.
2. Sie schaffen Jobs
Diesen Freitag war es wieder einmal so weit: Die «Bilanz» veröffentlichte ihre Liste mit den 300 Reichsten im Land. Geschätzte 833,5 Milliarden Franken haben sie auf dem Konto, 4,8 Prozent mehr als im Vorjahr, wie das Magazin berichtet. Wobei hier ein Missverständnis vorliegt: Die meisten haben ihre Milliarden nicht auf der Bank, sondern investiert in Unternehmen, die sie selber aufbauten und führen.
Dazu zählen etwa die Blochers, Hayeks, Haefners, Spuhlers, Schindlers und wie sie sonst alle heissen. Sie alle sind auf dem Papier mehrere Milliarden Franken schwer, Zugriff auf ihre Vermögen haben sie aber nicht, solange sie ihre Firmen nicht verkaufen. Diese Reichen gehören zu den Pulsgebern des Landes. Sie schaffen Arbeitsplätze, investieren in neue Technologien, vergeben Aufträge an KMU und liefern dem Staat Unternehmenssteuern ab.
Es sind auch diese Reichen, die für Innovation im Land sorgen. Sie organisieren Startup-Wettbewerbe, beteiligen sich an Jungunternehmen und unterstützen Forschung und Wissenschaft. Hier schliesst sich der Kreis: Aus dem Risikokapital entstehen die Firmen von morgen.
3. Sie spenden viel
Unternehmer gehen Risiken ein, viele scheitern und gehen pleite, doch im Erfolgsfall werden sie üppig belohnt. Ein Beispiel ist Urs Wietlisbach, einer der drei Gründer der Partners Group. Die «Bilanz» schätzt ihn auf 2,5 bis 3 Milliarden Franken schwer. Seine Anteile an der Firma hat er reduziert, die Frage lautet nun: wohin mit dem Geld?
Für Wietlisbach ist die Antwort klar: Zusammen mit dem Unternehmer Hansjörg Wyss ist er der einzige Schweizer, der der Initiative Giving Pledge beigetreten ist. Dort verpflichten sich Milliardäre, mindestens die Hälfte ihres Vermögens zu spenden. Wietlisbach will mindestens 80 Prozent seines Vermögens der Allgemeinheit zurückgeben. Darin sieht er ein Mittel, um die Bildung einer Geldaristokratie zu verhindern. «Ein Anteil von 10 bis 20 Prozent reicht für die Familie», sagt Wietlisbach.
Private Förderstiftungen haben in der Schweiz Tradition. Insgesamt verwalten sie 140 Milliarden Franken, jährlich schütten sie rund 3 Milliarden Franken aus. Alle grossen Stiftungen gehen auf reiche Unternehmer zurück: den Rolex-Gründer Hans Wilsdorf, den Bauunternehmer Ernst Göhner, den Schmuckhändler Jörg Bucherer oder die Industriellenfamilie Jacobs – sie alle steckten ihr Erbe in Stiftungen.
Das sind nur die bekannten Namen. Viele bleiben lieber diskret im Hintergrund. Vermögende Schweizer engagierten sich im grossen Stil für gemeinnützige Projekte, sagt Wietlisbach. «Anders als in den USA redet man hier aber nicht gern darüber.»
4. Sie fördern den Sport
Das bekannteste Beispiel ist das Ehepaar Heliane und Ancillo Canepa: Die beiden früheren Spitzenmanager finanzieren mit dem Geld aus ihrer Karriere in der Privatwirtschaft den FC Zürich. Auch andere Grossklubs leben von generösen Unternehmern: YB vom früheren Sonova-Besitzer Hans-Ueli Rihs, der ZSC vom Autoimporteur Walter Frey, der HC Lugano von der Familie Mantegazza. Umgekehrt erlebte der FC Basel, was der Rückzug eines Grossmäzens bedeutet: Seit die Roche-Erbin Gigi Oeri ihre Bankverbindung zum FCB gekappt hat, ist der Klub nur noch ein Schatten seiner selbst.
Gesellschaftlich wichtiger als die Millionen für Titel, Ruhm und grosse Namen ist das Engagement von vermögenden Personen im Breitensport. Manche Manager suchen privat bewusst nicht das Rampenlicht: Der UBS-Chef Sergio Ermotti schaut sich am Wochenende die Spiele des Erstligaklubs FC Collina d’Oro an, dessen Präsident er ist.
5. Sie machen liberale Politik
Gehen Reiche in die Politik, läuten bei vielen die Alarmglocken. «Wenn die Reichen die Regeln aufstellen können, haben wir ein echtes Problem», sagte der amerikanische Ökonom Angus Deaton. Für den österreichischen Ökonomen Martin Schürz ist die Vermengung von ökonomischer und politischer Macht der Kipppunkt, an dem Reichtum die Demokratie gefährdet und begrenzt werden muss.
Doch Reichen generell schlechte Absichten zu unterstellen, ist falsch. Der Wohlstand eines Landes hängt langfristig davon ab, ob die Institutionen für Chancengleichheit sorgen oder den Interessen kleiner Gruppierungen dienen. Das haben die beiden Nobelpreisträger Daron Acemoglu und James A. Robinson herausgearbeitet. Entscheidend ist nicht, wer sich engagiert, sondern wofür man es tut.
Benutzen Reiche also ihren Einfluss, um sich Monopole zu sichern oder staatliche Aufträge zuzuschanzen, ist dies schlecht für die Gesellschaft. Setzen sie sich hingegen für liberale Rahmenbedingungen und Wettbewerb ein, profitieren alle. Gerade in der Schweiz hat dies Tradition unter Unternehmern. Weil sie finanziell unabhängig sind, können sie es sich leisten, für den langfristigen Erfolg des Landes einzustehen. Das können nicht alle von sich behaupten.
Die Bestandesaufnahme zeigt: Ohne Reiche ist kein Staat zu machen – finanziell, kulturell, aber auch politisch spielen sie eine wichtige Rolle.
In der Schweiz scheint die Bereitschaft ungebrochen, diese auch wahrzunehmen. «Reiche Personen haben einen gesellschaftlichen Auftrag», sagt der Milliardär Urs Wietlisbach. Der Kapitalismus habe es ihm ermöglicht, in dreissig Jahren ein Milliardenvermögen zu erwirtschaften. «Der Kapitalismus hat aber auch seine Schwächen», sagt er.
Während er und seine Partner das grosse Los gezogen haben, kommen andere trotz harter Arbeit auf keinen grünen Zweig. Es liege an den Vermögenden, hier einen Ausgleich zu schaffen, so lautet Wietlisbachs Überzeugung: «Wir haben eine Verantwortung, die Mittel sinnvoll einzusetzen.»