Der Biograf Daniel Brössler arbeitet in «Ein deutscher Kanzler» geschickt heraus, wie Rechthaberei und der taktische Einsatz von Angst die Kanzlerschaft von Olaf Scholz prägen.
Olaf Scholz, der neunte Bundeskanzler, ist definitiv nicht der beliebteste aller deutschen Regierungschefs – aber womöglich ist er auf dem Weg, der unbeliebteste zu werden. Jedenfalls sind seine Zustimmungswerte und die der von ihm geführten Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und FDP lange schon beispiellos niedrig.
Vor diesem Hintergrund ein faires Buch über Scholz zu schreiben, das seine Defizite erklärt, ohne ihn zu schmähen, und das gleichzeitig seine vorhandenen Stärken nicht verschweigt, muss eine Herausforderung gewesen sein.
Der Journalist Daniel Brössler hat sie gemeistert. «Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst» ist lesenswert, weil diese Biografie plausibel erklärt, aus welchen Gründen sich die politische Entfremdung zwischen Regierung und Bevölkerung in Deutschland immer weiter verschärft. Das liegt nicht an Scholz allein. Aber es hat in diesen Zeiten natürlich mit ihm zu tun.
Wer nicht Scholz’ Meinung ist, gehört zu den Blöden
Brössler, leitender Redaktor im Berliner Parlamentsbüro der «Süddeutschen Zeitung», hatte die Gelegenheit zu mehreren intensiven Gesprächen mit Olaf Scholz und vollen Zugang zu dessen engsten politischen Vertrauten. Sollte sich das Team Scholz von dieser keineswegs selbstverständlichen Privilegierung eines Autors eine Hagiografie versprochen haben, so ist die Rechnung nicht aufgegangen. Der Biograf sortiert sein Material betont nüchtern. Das Kanzlerbild, das sich der Leser am Ende zusammensetzen kann, ist trotzdem einigermassen vernichtend.
Niemand, auch nicht Brössler, stellt in Abrede, dass der 65-jährige Olaf Scholz intelligent und schnell im Denken ist. Vermutlich intelligenter und schneller als manche anderen. Das Problem besteht nur darin, dass Scholz selbst das auch so sieht – und es alle anderen spüren lässt.
Der Autor zitiert den österreichischen Sozialdemokraten und ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer. Der kennt den deutschen Genossen Scholz seit Juso-Zeiten und charakterisiert ihn mit dieser Sottise: Man könne entweder Scholz’ Meinung sein, «dann ist man bei den Gescheiten. Sonst ist man bei den Blöden.»
Als Erzfeind gelten die «imperialistischen» USA
Immer Teil des absolut Richtigen zu sein, hat Scholz bei den Jungsozialisten gelernt, die im Deutschland der achtziger Jahre in drei Hauptströmungen gespalten sind: Reformsozialisten, Antirevisionisten und Stamokapler.
Scholz schliesst sich dem Stamokap-Flügel an, der die SED-These vom staatsmonopolistischen Kapitalismus vertritt. Danach gibt es eine Art gesetzmässige Verschwörung zwischen Staat und Grosskapital, die der Förderung der Kapitalinteressen bei gleichzeitiger Ruhigstellung der Bevölkerung dient.
Die Stamokap-Anhänger sind DDR- und UdSSR-freundlich; als Erzfeind gelten ihnen die «imperialistischen» USA. Die Nato-Nachrüstung lehnen sie ab. Vor der Politik ihres eigenen SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der sich für den Nato-Doppelbeschluss einsetzt, haben sie Angst. Scholz ist des Öfteren zu Besuch bei den Freunden von der Freien Deutschen Jugend der DDR. Er wird dort als verlässlicher Gesprächspartner geschätzt.
Nach der deutschen Wiedervereinigung ist Scholz irgendwann recht stolz darauf, den ganzen Stamokap-«Blödsinn», wie er oft sagt, hinter sich gelassen zu haben. Es mag sogar sein, dass die Grösse des Irrtums, den er erkannt hat, zu seinem besonders positiven Selbstbild beiträgt. Nur: Andere in der SPD hatten die DDR nie idealisiert, Amerika nie dämonisiert, die Nato-Nachrüstung für unerlässlich gehalten angesichts der atomaren Vorrüstung der Sowjetunion. Sind sie dümmer als Scholz, weil sie weniger grossartig falschlagen?
«Ich bin der Kanzler, und deshalb ist das so»
Während der Nato-Nachrüstungsdebatte herrscht in linken Kreisen Deutschlands eine künstlich übersteigerte Angst vor dem Atomtod. Angesichts der Blockkonfrontation im Kalten Krieg ist sie natürlich nicht gänzlich unberechtigt und bei vielen Menschen sicher echt. Doch es gibt ebenso viel Grund, auf die gegenseitige Abschreckung der politischen Blöcke zu vertrauen, wie sich in Angstlust zu ergehen. Angstlust aber ist es, was die Linke auf den Massendemonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss zelebriert.
Angst ist ausserdem, so formuliert es Brössler, «eine ungeheure politische Kraft. Sie prägt eine Generation, sie prägt auch Scholz. (. . .) Sie kann Massen bewegen, und sie verschwindet nicht durch gutes Zureden.» Der Biograf arbeitet geschickt heraus, wie sehr der heutige Kanzler diese Lektion verinnerlicht. Und wie sehr das Rechthaben einerseits und der taktische Einsatz von Angst andererseits seine Kanzlerschaft prägen.
Das Rechthaben führte zu Sätzen wie «Ich bin der Kanzlerkandidat, der über die notwendigen Erfahrungen und Kenntnisse für diese Aufgabe verfügt. Das unterscheidet mich von meinen Mitbewerbern.» Diese gestelzte Autosuggestion führte zwar mit Ach und Krach ins Kanzleramt – aber ein Plan für Deutschland war sie eben nicht. Und Scholz formuliert viele Sätze in ähnlichem Geist: «Weil ich nicht tue, was ihr wollt, führe ich.» Oder: «Ich bin der Kanzler, und deshalb ist das so.»
Sind Scholz’ Anliegen nicht klar oder nicht erklärbar?
Es ist ein Muster: Im Wahlkampf spricht Scholz viel von Respekt – respektiert aber Öffentlichkeit und Presse nur sehr begrenzt. Brössler zeigt mit zahlreichen Beispielen auf, wie Scholz Fragen regelmässig nicht beantwortet. Auch redet er von Führung, aber es ist eine Führung, der nicht einmal die eigene Koalition noch gerne folgen will.
Der Bundeskanzler hadere zunehmend mit Öffentlichkeit und Journalismus, schreibt sein Biograf mit einem Wortspiel: Grundsatzreden, so glaube Scholz, würden grundsätzlich ignoriert. Die Forderungen, die in Bezug auf die Ukraine-Unterstützung an ihn gestellt würden, halte er für falsch und gefährlich.
Warum fällt es Scholz so schwer, sich gegenüber der Öffentlichkeit zu erklären? Weil er sich über seine Anliegen selbst nicht ganz im Klaren ist? Oder weil sie nicht erklärbar sind, jedenfalls nicht öffentlich? Brössler scheint mehr zu Variante zwei zu neigen, er stützt sich auf das Beispiel der Zeitenwende-Rede, die Scholz anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 hielt.
Die Biografie einer Blackbox
Diese Rede war ja mutig, offensiv und entschlossen – sowohl in Richtung des russischen Diktators Wladimir Putin als auch an die Adresse der eigenen pazifistischen Parteifreunde. Das engste Team um den Kanzler hatte in höchster Intensität an ihr gearbeitet, immer wieder neue Formulierungen ausprobiert und verworfen. Nichts an diesem Text war ein Zufall.
Und doch sagte Scholz später über die Rede, die tatsächlich so etwas wie ein Manifest neuer europäischer Führungsbereitschaft hätte werden können, eine wichtige Sache habe er nicht angesprochen: Das sei die Angst. So berichtet es Brössler. Wenige Wochen später schürte der Kanzler dann in einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» ganz ausdrücklich die Angst vor dem dritten Weltkrieg, nachholend quasi.
Hat Scholz also selbst vor irgendetwas Angst, diesseits von russischen Atombomben? Hat er Angst vor der SPD-Bundestagsfraktion und ihrem Vorsitzenden Rolf Mützenich? Der promovierte Friedenswissenschafter wollte jüngst den Ukraine-Krieg «einfrieren». Was, wenn die Fraktion Scholz die Gefolgschaft verweigert? Wäre es da nicht einfacher für den Kanzler, auf die klassische Anti-Kriegs-Linie der SPD einzuschwenken, die sich zuletzt 2002 bewährte, als Bundeskanzler Gerhard Schröder die Beteiligung am Irakkrieg ablehnte?
Daniel Brössler deutet alle diese Möglichkeiten an. Dem Kanzler in den Kopf schauen kann er aber ebenso wenig wie das irritierte Publikum. Deshalb lässt sich Brösslers Biografie auch als einfühlsames und kenntnisreiches Buch über eine Blackbox beschreiben.
Daniel Brössler: Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst. Propyläen-Verlag, Berlin 2024. 330 S., Fr. 38.90.