Am Beispiel der Schweizer Firma On zeigt sich, wie viel Zeit und Geld in Forschung investiert wird, um an den Olympischen Spielen Spitzenleistungen zu ermöglichen.
Daisy hat nur einen Arm, aber mit diesem wedelt sie virtuos durch die Luft und versprüht dabei einen scheinbar endlos langen Faden. Sie hat im letzten Monat 500 Paar Laufschuhe fertiggestellt, mit denen Athletinnen und Athleten in Paris um Medaillen kämpfen werden. Daisy ist einzigartig. Und sie ist ein Roboter.
Doch bis Daisy zum Einsatz kommt, wird es noch eine Weile dauern. Wir sind im Jahr 2020, die Welt ist im Griff der Corona-Pandemie, und die Sportartikelfirmen sind sehr zurückhaltend beim Engagement von Athleten. Das ist die Zeit, als On ein neues Projekt lanciert, den On Athletics Club (OAC). Zum Team gehören auch Bahnläuferinnen, obwohl On zu jenem Zeitpunkt noch gar keine Nagelschuhe im Sortiment hatte. Der Deal war: «Ihr könnt mit Spikes anderer Marken trainieren, aber ihr helft uns bei der Entwicklung eigener Modelle.»
Damals begannen die meisten Firmen, in den Labors und Werkstätten mit Hochdruck an neuen Produkten zu arbeiten. Die amerikanische Firma Nike hatte zuerst auf der Strasse und dann auf der Bahn einen Innovationsschub geschafft. Sogenannte Superschuhe verschoben die Leichtathletik in neue Dimensionen.
Usain Bolts Schuhbauer wechselte von Puma zu On
Die Rekorde auf den Langdistanzen purzelten, das Niveau in der Breite stieg sprunghaft an. Um über 5000 m zu den Top 100 der Welt zu gehören, muss man heute bei den Männern 13 Sekunden schneller laufen als vor Einführung der Superschuhe, bei den Frauen sind es sogar 21 Sekunden. Und der Wettbewerb um die beste Technologie geht weiter, weil alle davon ausgehen, dass das Potenzial der Superschuhe noch nicht ausgereizt ist.
Wie hält man da mit, wenn man quasi bei null starten muss? Indem man zum Beispiel gute Leute verpflichtet. 2021 kam Jordan Donnelly zu On. Der Brite war einst selbst Mittelstreckenläufer und baute bei Puma die Spikes für Usain Bolt, den schnellsten Mann der Welt. Später wechselte er zu Adidas.
Bei der Schweizer Firma On habe ihn die Möglichkeit gereizt, neue Wege zu gehen und eigene Ideen zu entwickeln, sagt Donnelly. Und die bekam er tatsächlich. «Als ich anfing, hatte ich nur eine Powerpoint-Präsentation meiner Ideen und Skizzen», sagt Donnelly. Damit ging er zu Athleten und versuchte, sie von einem Wechsel zu On zu überzeugen.
Bei der Entwicklung der Schuhe ging er pragmatisch vor. «Wenn du das beste Produkt der Welt bauen willst, wirst du zuerst schauen, was bereits auf dem Markt ist», sagt der Brite. Er und weitere Mitarbeiter brachten Know-how von anderen Sportschuhherstellern mit, sie holten Erkenntnisse von Athleten ein, sie bauten ungezählte Prototypen.
Drei Leute arbeiteten an den Spikes: Donnelly, ein Entwickler und ein Designer. Im August 2021 begannen sie, im Februar 2022 wurden die ersten Prototypen an einem Hallenmeeting in New York gelaufen. Danach gab es innerhalb weniger Monate zwei weitere Entwicklungsschritte.
Im Juni 2022 lief der Australier Oliver Hoare die Meile in 3:47 – Landesrekord und die weltweit zweitschnellste Zeit des Jahres. «Da wusste ich, dass wir einen passablen Schuh haben», sagt Donnelly. Eine Woche später gewann der inzwischen für die Schweiz startberechtigte Flüchtling Dominic Lobalu mit diesem Modell sensationell ein Diamond-League-Rennen in Stockholm.
Passabel bedeutet für den Leiter des Teams, das bei On die Produkte für Spitzenathleten entwickelt: konkurrenzfähig. Die Marke war bereit für die WM im Juli 2022. «Aber das war noch keine verrückte Innovation», sagt Donnelly, «dafür braucht es mindestens zwei Jahre Entwicklungsarbeit.» Ziel waren die Sommerspiele 2024 in Paris.
Also weiter nach innovativen Wegen suchen, weiter entwickeln, weiter pröbeln. On verfügt am Firmensitz in Zürich über ein Labor, in dem in kurzer Zeit einfache Prototypen hergestellt werden. Die Mitarbeiter nennen sie Monster, weil sie zwar perfekt funktionieren, aber noch etwas roh wirken. Dieses Labor ermöglicht es, in kurzer Zeit verschiedene Dinge anzupassen und zu testen.
Das Labor wurde auch mit den exakt gleichen Maschinen bestückt, die in Vietnam in der Massenproduktion eingesetzt werden. So ist es möglich, sogar von Superschuhen bis ins Detail perfekte Prototypen zu bauen. Damit werden in der Entwicklung Wochen, wenn nicht sogar Monate gewonnen.
Rennen im Hamsterrad des Testlabors
Getestet werden die Schuhe im gleichen Gebäude, ein paar Stockwerke weiter oben. Hier hat die unternehmenseigene Sportwissenschaft ihr Labor installiert. Herzstück ist ein Laufband mit integrierter Druckmessplatte. Ein Athlet läuft mit einer Maske vor Mund und Nase, die Sportwissenschafterin Dina Weisheit erklärt: «Wir messen seinen Sauerstoffverbrauch und erhalten so eine Aussage über die Laufökonomie.»
Vereinfacht gesagt: Je weniger Sauerstoff man bei einem bestimmten Tempo verbraucht, desto ökonomischer läuft man. Die Wissenschafter können auf diese Weise verschiedene Schuhe testen, das ist mittlerweile ein Standardprogramm. Es gibt auch tragbare Geräte mit Atemmasken für Tests im Gelände oder auf der Rundbahn. Der Athlet läuft fünf bis acht Minuten mit einem Modell und wiederholt das drei- bis viermal mit anderen Schuhen. Auf einem Computerbildschirm kann in Echtzeit verfolgt werden, wie sich sein Sauerstoffverbrauch verändert.
Aber die Sportwissenschaft kann noch viel mehr. Das Laufband misst exakt, wann die Sportlerin oder der Sportler mit welchem Teil des Fusses wie viel Kraft auf den Boden bringt. Ausserdem sind rund um das Laufband zwanzig Kameras aufgebaut, mit deren Hilfe ein 3-D-Bild des Tests generiert werden kann. Das hilft, zu verstehen, wie ein Schuh die Art des Laufens beeinflusst.
Es gibt im Labor auch eine kurze Kunststoffbahn, auf der mit Highspeed-Kameras geschaut wird, wie sich der Schuh beim Laufen verformt. Und schliesslich haben die Forscher die Möglichkeit, ein Laufband in eine Art Zelt zu stellen, in dem Lufttemperatur und Feuchtigkeit verändert werden können. Denn es kann durchaus sein, dass der Schaum einer Mittelsohle im Frühling im kühlen London extrem gut funktioniert, bei Sommerhitze aber deutlich weniger Energie zurückgibt.
Wer jemals Superschuhe an den Füssen hatte, der weiss, dass diese einen regelrecht nach vorne katapultieren. Sie verändern die Art, wie wir laufen. Zwar deutlich weniger stark, als man das erwarten würde – trotzdem ist der Einfluss auf die Laufökonomie gross. Warum das so ist, weiss man nicht genau.
Laut Kévin Dellion, Leiter der Sportwissenschaft bei On, werden von der Firma auch Forschungsprojekte an diversen Universitäten unterstützt. Dabei geht es unter anderem darum, wie sich Schuhe mit Carbonplatten auf Athleten auswirken: im Wettkampf, im Training, aber auch bezüglich Erholung.
Solche Erkenntnisse werden auch an die Trainer des OAC weitergeleitet. Denn wenn es um die Verbesserung des Trainings geht, spielt heute auch das Material eine Rolle: Welchen Schuh trage ich am Tag vor einem harten Training? Welchen setze ich in den intensiven Einheiten ein? Und welcher hilft mir, mich danach gut zu erholen? Die Sportwissenschafter geben hierzu Empfehlungen ab, den Entscheid fällen aber Trainer und Athleten.
Die Wissenschafter kümmern sich vor allem um zwei Aspekte: Biomechanik und Physiologie. Erstere erklärt, wie sich der Körper bewegt, wenn er rennt; Letztere sagt, was im Inneren des Körpers abläuft, wenn er Leistung erbringen muss. Die beiden Aspekte müssen perfekt zusammenspielen, wenn es zum Beispiel darum geht, im Marathon so lange wie möglich am Limit zu laufen.
Dellion und sein Team beschäftigen sich aber auch mit der Frage, was der nächste Schritt im technologischen Wettkampf sein könnte. Gibt es einen Schaum für die Konstruktion der Mittelsohle, der noch elastischer und gleichzeitig leichter ist? Daran wird derzeit in Tests mit Athleten getüftelt.
Neu ist, dass dabei auch die Neurowissenschaft einbezogen wird. Einfach gesagt: Kann es sein, dass der Schuh mit den besten physikalischen Eigenschaften nicht der schnellste ist, weil sich im Kopf etwas dagegen sperrt? Dellion zeigt auf ein Regal mit vielen Schuhen, die genau gleich aussehen, deren Sohlen allerdings unterschiedlich hart sind. Das spürt man, wenn man damit läuft, und dieses Gefühl löst auch im Kopf etwas aus. Es ist also denkbar, dass irgendwann Superschuhe gebaut werden, die dem Kopf signalisieren: Damit kannst du endlos sehr schnell laufen.
Sportwissenschafter und Schuhentwickler arbeiten ständig Hand in Hand. Das zeigte sich auch bei den Feldtests für die Schuhe, die im olympischen Marathon eingesetzt werden. Dreimal war das gesamte Innovationsteam mit Athleten in Paris, und sogar der Designer ist mit verschiedenen Modellen auf der Strecke gelaufen, um zu spüren, wie gut sie am Fuss sitzen.
Die Marathonstrecke von Paris ist aussergewöhnlich, denn sie ist nicht nur die üblichen 42,195 Kilometer lang, sondern beinhaltet auch noch 436 Höhenmeter. Zwei happige Steigungen sind zu bewältigen, vor allem aber geht es zwischen dem 29. und dem 32. Kilometer steil abwärts, mit einem maximalen Gefälle von 15 Prozent.
Der On-Chefentwickler Donnelly sagt: «Wer unten in der Fläche die besten Beine hat, wird gewinnen.» Und wie gut die Beine sind, hängt auch von den Schuhen ab. Bei den Tests zeigte sich, dass es vor allem beim Abwärtslaufen grosse individuelle Unterschiede gibt. On hat sich deshalb entschieden, drei verschiedene Marathonschuhe zu bauen.
Die Sohle wurde in Zusammenarbeit mit einer Firma entwickelt, die Radpneus für die Tour de France liefert. Der Gummi, der auf der letzten Touretappe über das Kopfsteinpflaster der Champs-Élysées eingesetzt wird, soll auch die Läufer schnell machen.
Doch das allein genügt nicht. Der Franzose Nicolas Navarro nahm seinen Fitnesscoach mit zu den Tests. Der entwickelte danach spezielle Kraftübungen, mit denen der Läufer während sechs bis acht Wochen die Muskulatur aufbaute, die er danach in spezifischen Lauftrainings besonders beanspruchte.
Halloween verhilft zu einer verrückten Innovation
Das alles zeigt, wie viel Detailarbeit in einem Olympiaprojekt steckt. Doch für einen technologischen Sprung braucht es manchmal auch eine Prise Verrücktheit. Und die brachte Johannes Voelchert mit. Der hatte in einem Video gesehen, wie jemand mit einem klebrigen Faden aus einer Spraydose ein Spinnennetz für eine Halloween-Dekoration bastelte. Voelchert sah darin Potenzial und baute eine Klebepistole mit eingebauter Heizung: Hinten kommt Kunststoffgranulat rein, vorne kommt ein langer, klebriger Faden raus.
Ein On-Mitarbeiter sah, wie Voelchert damit an einer Erfindermesse einen Schuh spritzte. Der Tüftler präsentierte seine Pistole in Zürich und bekam danach Zeit, Geld und ein Atelier, um seine Erfindung weiter zu perfektionieren. «Schon bald zeigte sich, dass sich mit dieser Methode die Herstellung eines Schafts wesentlich vereinfachen lässt», sagt Ilmarin Heitz, leitender Direktor für Innovationen bei On.
Damit bekam das Projekt erhöhte Priorität. Voelchert setzte die Spritzpistole auf einen Roboterarm, und es wurde ein Computerprogramm entwickelt, das dem Roboter sagt, wie er die gewünschte Form bauen soll. Daisy war geboren.
Schuhe bestehen normalerweise aus Dutzenden Einzelteilen, am Schaft wird gewoben, genäht und geklebt. Daisy versprüht einen gedrehten Faden, den man sich wie eine feine Spiralnudel vorstellen kann. Sie kann damit einzelne Flächen des Schafts etwas dicker und damit stabil bauen, so dass der Schuh Halt gibt, an anderen Orten sprayt sie filigrane Strukturen, die den Fuss atmen lassen.
Das Verfahren ist einfach und schnell, in drei Minuten ist ein Schaft gespritzt und mit der Mittelsohle verschmolzen. Weitere zwei Minuten braucht es, um das Logo auf den Schaft zu drucken. Schnelligkeit war in der Entwicklung besonders wichtig, denn es brauchte Tausende Prototypen, bis endlich der «Cloudboom Strike LS» entwickelt war, der Hellen Obiri im Frühling in Boston zum Sieg trug – nur vier Jahre nachdem Voelchert seine verrückte Idee hatte.
Weil nicht klar war, ob der ehrgeizige Zeitplan einzuhalten sei, wurden parallel auch Modelle mit herkömmlichem Schaft entwickelt. Alle Schuhe mussten vom Weltverband World Athletics gutgeheissen und von On auch schon vor den Spielen in den öffentlichen Verkauf gebracht werden.
Die Regeln des Verbandes schreiben vor, dass Prototypen zwar an Stadtmarathons oder Diamond-League-Meetings eingesetzt werden dürfen. Doch an grossen Titelkämpfen wie den Sommerspielen sind nur Schuhe zugelassen, die im Prinzip alle kaufen können. Es genügt jedoch, dass einige Paar Schuhe in den Online-Shop gestellt werden, wo sie dann fast sofort wieder mit dem Vermerk «ausverkauft» versehen werden.
Denn niemand will, dass die Konkurrenz die neuste Innovation frühzeitig kauft, zerlegt und allenfalls noch vor den Spielen kopiert. Sobald der Massenverkauf anläuft, passiert das sowieso. Dann forscht die Innovationsabteilung aber bereits am nächsten, womöglich noch besseren Superschuh.
On ist mit dem gesprayten Schaft eine Innovation gelungen, die sich massiv auf die Produktion von Sportschuhen auswirken könnte. Die Mittelsohle wird zwar weiterhin in Vietnam gefertigt, aber das Endprodukt stellt Daisy in Zürich her. Der Roboter kann leicht transportiert werden und ermöglicht so eine lokale Fertigung. Der Chefinnovator Heitz sagt, es sei langfristig das Ziel, die vollständigen Schuhe dort herzustellen, wo sie verkauft würden. Das wäre ein zentraler Schritt zu mehr Nachhaltigkeit.
Dabei könnte auch helfen, dass der neuartige Schuh aus nur gerade sieben Teilen besteht. Selbst die Schnürung wurde weggelassen, man schlüpft in den Schaft wie in einen Pantoffel, und trotzdem sitzt der Schuh perfekt am Fuss. Das sieht nicht nur futuristisch aus, sondern ist auch bis ins kleinste Detail Hightech. «Wir haben uns bei jedem einzelnen Teil überlegt, wie wir das Maximum an Leistung herausholen können», sagt die Sportwissenschafterin Weisheit.
On hat für die Strasse und die Bahn je ein Modell mit gespraytem Schaft produziert, daneben gibt es noch geschnürte Schuhe. Bei allen zählt allein die Performance. Auf den Einwand, dass oft gesagt wird, mit Carbonschuhen steige das Verletzungsrisiko, sagt die Sportwissenschafterin Weisheit, dass On verschiedenste Schuhe für diverse Anwendungsbereiche baue. Ziel sei es, dass die Sportlerinnen und Sportler gesund und in Hochform an die Startlinie kämen. «Aber im Rennen gibt es keine Kompromisse. Da brauchen wir einen Schuh, der so aggressiv wie möglich ist.»
Diese Schuhe sind nun in den Sporttaschen der Athletinnen und Athleten. Wenn in Paris um Medaillen gelaufen wird, zeigt sich auch, welche Firmen im technologischen Wettstreit vorne sind. Und jeder Sieg ist auch ein Boost für das Marketing.