Manga- und Anime-Kultur aus Japan verdrängt amerikanische Comics von ihren Spitzenplätzen und konkurriert mit Hollywood als Zentrum der Filmindustrie. Was ist das Geheimnis von «One Piece» und dem Schöpfer der erfolgreichsten Serie der Welt?
Emmanuel Macron lässt das Bild einer Piratenbande im Élysée-Palast aufhängen und sagt, es sei ein wertvolles Symbol für den Zusammenhalt. Tausende Menschen in Indonesien hissen die Totenkopfflagge dieser Piraten als Protest gegen ihre Regierung, die Polizei bewertet das Symbol daraufhin als Zeichen der Rebellion. Promis wie der Fussballer Neymar, der Schauspieler Samuel L. Jackson oder die Sängerin Avril Lavigne outen sich öffentlich als Fans dieser Piratenbande. Und ganz am Anfang war da eigentlich nur ein kleiner Junge mit einem Bleistift, der sich ein bisschen zu häufig in Tagträumen darüber verlor, wie es wohl sein mag, auf dem Meer zu reisen.
Heute ist Eiichiro Oda 50 Jahre alt und mit seiner Piratengeschichte «One Piece» einer der einflussreichsten Kulturschaffenden der Erde. Der japanische Comiczeichner steht auf Platz zwei der meistverkauften noch lebenden Autoren – nur übertroffen von der amerikanischen Schriftstellerin Danielle Steel. Rechnet man verstorbene Autoren wie Shakespeare mit ein, liegt er vor der «Harry Potter»-Erfinderin J. K. Rowling auf Rang sieben. Oda hat schon als Schüler angefangen, seine Geschichte zu zeichnen. Inspiriert, sagt er, habe ihn eine der ersten international erfolgreichen Anime-Serien: «Wickie und die starken Männer».
Mehr als 100 Millionen Zuschauer, allein auf Netflix
Basierend auf Odas literarischem Werk ist eine gleichnamige Serie entstanden. Der Anime – salopp ausgedrückt, sind Animes japanische Zeichentrickfilme – gilt als erfolgreichste Serie der Geschichte. Wie viele Fans sie hat, kann niemand genau sagen, dafür sind die Lizenzrechte über zu viele Streaming-Plattformen in zu vielen Ländern verteilt. Laut der weltweit grössten Filmdatenbank IMDB verzeichnet «One Piece» allein auf Netflix mehr als eine Milliarde Streaming-Stunden bei deutlich über 100 Millionen Zuschauern; die auf Amazon verfügbare «Lord of The Rings»-Serie kommt auf nicht einmal halb so viel. Und obwohl Netflix immer stärker auf Anime setzt, gilt der Streaming-Dienst zumindest für das «One Piece»-Original bis jetzt nicht als allzu dominant. Die meisten Fans der Strohhutpiraten nutzen spezialisierte Streaming-Plattformen wie etwa die Sony-Tochter Crunchyroll.
Fast immer basieren Anime-Serien auf gleichnamigen Mangas, japanischen Comics. Mangas haben mit ihren Auflagen längst westliche Ikonen wie «Spider-Man» eingeholt. Wahrscheinlich schon 2026, sagen Marktforscher, werde der erfolgreichste Comic der Welt nicht mehr von einem amerikanischen Autor stammen. «One Piece» wird «Superman» verdrängen und eine geschätzte Auflage von über 600 Millionen Exemplaren erreichen.
Die Anime- und Manga-Kultur ist in westlichen Medien kaum ein Thema, obwohl sie längst nicht mehr nur in Japan Erfolg hat, sondern auch in vielen Ländern Europas sowie Nord- und Südamerikas und in Afrika und Indien. Fans rund um die Welt basteln sich Kostüme, mit denen sie ihre Anime-Lieblingsfiguren nachstellen – das sogenannte Cosplay hat in den Social Media eine eigene Influencer-Szene, bei Treffen vor Ort füllen die Fans der Manga- und Anime-Kultur regelmässig Messehallen. Klassische Musiker haben sich zu Orchestern zusammengefunden, die um die Welt touren und Stadien füllen, in denen sie die Eröffnungsmelodien bekannter Animes spielen. Als die Handyaufnahme eines Mannes in gelbem Anzug auf Instagram und Tiktok landet, stellen einige Fanseiten fest: «Der Typ sieht genauso aus wie Kizaru!» Kizaru ist eine Schlüsselfigur in den neuen Folgen von «One Piece»; binnen Stunden wurde das Foto millionenfach gelikt und geteilt.
Die Mangaka, also die Schöpfer japanischer Comics, haben zwar rund um den Globus treue Fans, aber nirgends werden sie so gefeiert wie in ihrem Heimatland. Dort sind sie viel mehr als erfolgreiche Künstler, ihren Werken und Figuren werden Freizeitparks gewidmet, und nach ihren Zeichnungen wird Mode entworfen. Die etwa dreissig international erfolgreichsten Mangakas haben in Japan den Status von Helden, und Eiichiro Oda ist unter ihnen der Superstar. Seine Arbeit wird mit einer Inbrunst verehrt, die sonst nur Religionen kennen.
Keiner weiss, wie Eiichiro Oda aussieht
Für Journalisten ist Eiichiro Oda nahezu unerreichbar. Mehrere besonders respektvolle Anfragen der NZZ an den Sensei, also den Meisterlehrer Eiichiro Oda, blieben unbeantwortet. Die Öffentlichkeit zu meiden, ist unter Manga-Künstlern gängige Praxis, in der japanischen Kultur gilt das als Zeichen von Bescheidenheit und Disziplin: Ich bleibe auf meine Arbeit fokussiert. Oda aber zeigt sich nie. Wenn er in einem der seltenen Interviews oder Filmbeiträge auftaucht, wird ein gezeichneter Fisch über sein Gesicht montiert. Es gibt nur eine Handvoll Fotos, die ihn mutmasslich abbilden, aber die sind Jahre alt, und ob es wirklich das Gesicht des grossen Meisters ist, steht nicht zweifelsfrei fest.
Eiichiro Oda sagt, er wolle vermeiden, dass sein Aussehen oder sein Auftreten in irgendeiner Weise beeinflusse, wie Leute über sein Werk dächten. Auch ohne sein Gesicht zu zeigen, hat ihn sein Lebenswerk zum Multimillionär gemacht. Fachmagazine der Branche schätzen sein Vermögen auf mindestens 200 Millionen Dollar.
Die Geschichte von «One Piece» beginnt so: Ein Junge beleidigt einen Banditen und wird daraufhin von ihm entführt. Der Bandit bringt den Jungen hinaus aufs Meer und schleudert ihn ins Wasser, wo er ertrinken soll. Ein Seeungeheuer taucht auf. Der Junge wird von einem berühmten Piraten gerettet. Das Kind schwört daraufhin, selbst Pirat zu werden, und zwar nicht irgendeiner, sondern der König der Piraten. Mit 17 Jahren bricht der Junge schliesslich auf, um sich diesen Traum zu erfüllen und um Mitglieder für seine Piratenbande zu suchen.
Die TV-Reise von «One Piece» beginnt am 20. Oktober 1999, knapp zwei Jahre nach Ersterscheinung des Manga-Comics, mit Folge 1: «Ich bin Luffy! Der Mann, der König der Piraten wird!» Das Cover zeigt einen schlaksigen Jungen mit schwarzen Haaren und – Anime-typisch – grossen, runden Augen. Er trägt ein rotes Hemd und blaue Jeans, sein Markenzeichen ist ein Strohhut – daher nennt er seine Bande «Strohhutpiraten».
Bis heute wurden von der Serie mehr als 1130 Folgen ausgestrahlt, jede ist etwa 20 Minuten lang. Und derzeit wird jeden Samstag eine neue Folge veröffentlicht. Würde jemand alle Folgen am Stück schauen wollen, brauchte er dafür neunzehn Tage – für «Game of Thrones» wären es drei.
Ein Junge sehnt sich nach Freiheit und beschliesst deshalb, Pirat zu werden. Was soll an dieser Idee so besonders sein? Was ist so innovativ daran, dass Weltkonzerne Kooperationen mit «One Piece» eingehen, etwa das Modelabel Gucci, der Autohersteller Mercedes und die Fast-Food-Kette McDonald’s, aber auch Sportklubs wie Borussia Dortmund? Und lässt sich am Beispiel von «One Piece» erklären, warum Asien und speziell Japan die USA und Hollywood als erfolgreichste Bewegtbildschmiede der Welt herausfordern?
Die globale Nachfrage nach Anime hat sich in den vergangenen Jahren verdoppelt. Mit einem Jahresumsatz von weltweit mehr als 30 Milliarden Dollar durch Zuschauerzahlen, aber auch Fanartikel ist es heute schon das wertvollste Filmgenre. Und jährlich korrigieren Marktforscher die Wachstumsvoraussagen für die nächsten Jahre um mehrere Milliarden nach oben. Wie kein anderer der grossen Streaming-Dienste kauft Netflix alte und neue Produktionen aus Japan ein und hat sich zur weltweit wertvollsten Plattform für Anime entwickelt. Schon heute schauen mehr als 50 Prozent aller Netflix-Nutzer Anime und generieren dadurch einen Jahresumsatz von mehr als 2 Milliarden Dollar. Präsident Trump hat Sonderzölle auf Filme aus Asien angekündigt – um die amerikanische Filmkultur zu schützen.
Wenn die Drehbuchschreiber von Hollywood eine Art Gott ihres Handwerks kennen, ist es Robert McKee; sein Buch «Story» ist so etwas wie die Bibel des Geschäfts. In «Story» erklärt McKee Strukturmodelle für Filme und Serien, skizziert das Handwerk der Dramaturgie, die Kunst des Dialogschreibens und des Entwickelns von Figuren. Er teilt seine Vision davon, was gelungene Geschichten ausmacht. Und er äussert Kritik: Die westliche Filmindustrie, in Europa und noch mehr in Hollywood, versündige sich, indem sie immer mehr auf Masse setze statt auf Qualität. Sie verliere sich in billigen Pointen und oberflächlichen Erzählungen und vertraue viel zu sehr auf technische Effekte statt auf das, was jede gute Geschichte ausmache: die ehrliche Erkundung des zutiefst Menschlichen. In Asien hingegen, etwa in Japan, entstünden Filme, die das Potenzial in sich trügen, Menschen tief zu bewegen. Und genau deshalb, prophezeit McKee, werde sich dort das Kino in Zukunft abspielen. Er schreibt von Kino, weil es den milliardenschweren Markt des Streamings damals noch nicht gab – «Story» wurde 1998 veröffentlicht.
Der Ruf des Abenteuers
Nach den Prinzipien, welche die Bibel des Drehbuchschreibens predigt, macht der Anime «One Piece» schon bei seinem Intro alles richtig. Es beginnt so:
Reichtum, Macht und Ruhm. Der Mann, der sich dies alles erkämpft hat, war Gold Roger, der König der Piraten. Als er hingerichtet wurde, waren seine letzten Worte: «Ihr wollt meinen Schatz? Den könnt ihr haben! Sucht ihn doch! Irgendwo habe ich den grössten Schatz der Welt versteckt!»
Dieser Schatz ist das «One Piece» – und er liegt irgendwo auf der Grandline! Damit brach das grosse Piratenzeitalter an!
Laut «Story» ist eines der wichtigsten Elemente für eine gute Geschichte der sogenannte «Ruf des Abenteuers», der eine Figur aus der gewohnten Welt hinaus und ins Unbekannte lockt. Dieser Ruf muss plausibel sein und möglichst so zwingend, dass er der handelnden Figur kaum eine andere Wahl lässt. Was wäre überzeugender als die Motivation, den grössten Schatz der Welt zu finden – gerade weil Oda niemals von Gold oder Diamanten schreibt, bis heute gilt das «One Piece» als Mysterium, über dessen Beschaffenheit auch die Figuren der Serie immer wieder rätseln. Das erzeugt zusätzlichen Sog: Wenn es nach den 26 Jahren, in denen die Serie schon läuft, immer noch keine Angaben zum Schatz gibt, lässt das Raum, ihn so zu träumen, wie man ihn sich wünscht.
Fans in allen Ländern der Welt spekulieren in sozialen Netzwerken und Foren über eine geheime Superkraft, andere vermuten das Portal zu einer Zeitreise, die nächsten glauben an ein streng gehütetes Regierungsgeheimnis, es gibt aber auch welche, die sagen, Luffy, die Hauptfigur, sei ein Scherzbold, der nichts ernst nehme und dem es nur um eins gehe: um Freiheit. Vielleicht, so rätseln manche Fans, sei der Schatz aber auch nur ein besonders guter Witz. Immerhin wird sogar die Superkraft, mit der Luffy ausgestattet ist, von anderen Figuren der Serie als «lächerlich» bezeichnet: Er hat eine Frucht gegessen, durch die er sich dehnen kann wie Gummi.
Eine Angabe hat Eiichiro Oda inzwischen gemacht: «Das One Piece wird nicht so etwas sein wie der Wert von Freundschaft oder Zusammenhalt», sagte er in einem Interview. «Dafür haben Luffy und seine Freunde auf ihrer Reise zu viel durchgemacht. Es ist etwas, das sie für ihre Mühen belohnt.» Er wisse schon seit Beginn des Werks, wie die Geschichte enden solle, irgendwann, mutmasslich in drei, vier Jahren. Allerdings hat Oda schon häufig ein Ende angekündigt, und dann ging es doch immer weiter.
Eine andere Lektion aus «Story»: Eine Geschichte braucht eine «universelle Wahrheit». Wahr nicht in dem Sinne, dass eine Botschaft immer und überall und für jeden objektiv wahr sein muss; unter «wahr» versteht McKee die tiefen und ehrlichen Überzeugungen eines Autors.
Eine Geschichte über Freiheit, Gerechtigkeit und Freundschaft
«One Piece» folgt vielen Leitsätzen, die alle zu den ältesten Motiven für Geschichten zählen: Menschen sehnen sich nach Freiheit. Gerechtigkeit setzt sich durch. Gut gewinnt gegen Böse. Harte Arbeit zahlt sich aus. Und der vielleicht wichtigste: Freundschaft überwindet alles. Ganz bewusst, sagt Eiichiro Oda, gebe es bei seiner Geschichte keine ernsthaften romantischen Affären zwischen Mitgliedern der Piratenbande, sie sind einfach nur Freunde und sollen das auch bleiben – obwohl Hunderttausende von Fans immer wieder eine Romanze zwischen der Navigatorin der Crew und dem Kapitän, der Hauptfigur Luffy, fordern.
Eine verbreitete Kritik an Anime lautet: Geschichten, die ein archetypisches Motiv ans nächste reihten, seien plump, klischeehaft und kitschig. Und etwas Wahres ist da dran: «One Piece», aber auch Animes im Allgemeinen sind in ihren Aussagen selten subtil, sie sind oft übertrieben sentimental. Vielleicht erklärt sich damit aber gerade ihr Erfolg. In einer immer komplexeren Welt, in der die Nachrichten von Kriegen und Krisen dominiert werden, tun einfache Botschaften gut: Verhalte dich richtig, dann geschieht dir Gutes. Gerade durch die beinahe lächerliche Schlichtheit in vielen ihrer Botschaften gelingt Anime-Serien etwas, nach dem sich Menschen sehnen: Sie geben das Gefühl von Orientierung, man glaubt, die Regeln der Welt endlich wieder zu verstehen – auch wenn diese Regeln nur für den fiktiven Kosmos einer Geschichte gelten.
Und die übertriebene Sentimentalität könnte ebenfalls ein Erfolgsfaktor der Manga- und Anime-Kultur sein. Eine Erkenntnis der Erfolgsforschung lautet: Sich höhere Ziele zu setzen, ist sinnvoller, als realistische Ziele anzuvisieren. Wer beim Weitsprung sagt, er schaffe vier Meter, wird sehr viel eher zumindest zwei Meter weit springen als jemand, der sich von Anfang an nur zwei Meter vorgenommen hat. Vielleicht gilt dasselbe für unsere Emotionen: Wenn Zeichentrickfiguren sie übertrieben gross ausleben, verschieben sie damit auch bei den Zuschauern die Grenze dafür, wie viele Gefühle zugelassen werden können.
Ausgesprochen schwierig zu übersetzen
«Menschen reden nicht so gern über Gefühle, zumindest nicht in unserer westlichen Kultur», sagt Verena Maser. Schon in ihrer Magisterarbeit schrieb sie über Anime – genauer gesagt: über die Liebe zwischen Mädchen in der japanischen Pop-Kultur. Nach dem Studienabschluss fragte sie sich: Was kannst du? Japanisch. Was magst du? Manga und Anime. Und so entschied sie, es als Übersetzerin zu versuchen. Das war vor elf Jahren. Heute zählt Maser zu den erfolgreichsten Übersetzerinnen japanischer Pop-Kultur in die deutsche Sprache. Sie übersetzt regelmässig Bestseller, sowohl Comics als auch Serien. «Am Anfang habe ich nach Lexikon übersetzt», sagt sie. «Aber in Serien und Comics geht es nicht um das Akademisch-Wörtliche, es geht um Unterhaltung. Das wirklich zu verstehen, war ein langer Lernprozess.»
Und es ist bis heute eine Herausforderung. Gerade auch wegen des Ausdrucks von Gefühlen – da sind Künstler im japanischen Original nämlich sehr viel offener, als es in der deutschen Sprache denkbar wäre. In Liebesgeschichten etwa kommen auch einmal Sätze vor wie: «Die Zeit mit dir war ein unglaublicher Schatz und hat mein Leben zum Funkeln und Glitzern gebracht.» «Da frage ich mich immer, wie ich das auf Deutsch hinbekommen kann, damit die Aussage erhalten bleibt, ohne dass es pathetisch und seltsam klingt», sagt Maser.
Maser sagt, das Japanische kenne unglaublich viele Zustandsbeschreibungen: «Fuwa fuwa» heisst wörtlich «fluffig», es kann aber auch ein warmes, weiches Gefühl in der Brust oder im Herzen ausdrücken. «Wenn man das Japanische wörtlich übersetzt, klingt es oft furchtbar», sagt Maser. «Aber wie viel Abweichung ist okay, wenn eine direkte Übersetzung furchtbar klingt? Die Balance zwischen dem Wörtlichen und der Interpretation ist oft schwierig.»
Japanisch wird als Kontextsprache bezeichnet. Das heisst, Sätze entfalten ihren Sinn durch den Kontext der anderen Sätze und der Gesamtsituation, die sie schildern. Das bedeutet auch: Mit jeder Interpretation eines Details entsteht das Risiko, dass später auf genau dieses Detail zurückverwiesen wird und sich herausstellt: Es war anders gemeint.
Auch bei «One Piece» ist dieses Problem schon aufgetaucht. In der Geschichte muss Luffy mit seiner Bande einen riesigen Ozean durchsegeln, dabei tastet sich seine Crew von Insel zu Insel. Auf der letzten Insel der Geschichte soll der legendäre Schatz liegen, der seinem Finder den Titel des «Königs der Piraten» sichert. In der deutschen Übersetzung hiess die Insel zuerst Unicon. Später wurde die Übersetzung des Namens auf Raftel korrigiert. Noch später gab Eiichiro Oda persönlich den Namen im Englischen vor: Laugh Tale, also Lach-Geschichte. Und es wurde klar: Dieser Name ist wichtig für die Geschichte.
Die deutsche Übersetzung löste das mit einem Einschub, den es im Original gar nicht gibt: Die Insel wurde von Ruffys Vorbild, dem legendären Piratenkönig Roger, in Laugh Tale umbenannt, nachdem er dort den mysteriösen Schatz gefunden und eine Geschichte entdeckt hatte, über die er lachen musste.
Worüber er lachen musste und was dieser Schatz ist, das ist auch nach fast drei Jahrzehnten noch nicht bekannt. «Und bei den Autoren nachfragen ist unmöglich», sagt die Übersetzerin Verena Maser. «Das macht die Arbeit an Mangas so schwierig.»
Im Fall von «One Piece» schickt das Produktionsstudio, Toei Animation, an die Lizenznehmer ausserhalb von Japan eine grob übersetzte Fassung in Englisch. Anhand dieser Fassung ist es dann Aufgabe der Dialogautoren, die Gespräche und den Sprechertext so weiter zu übersetzen, dass es in die jeweilige Landessprache passt. Die Regie feilt dann an Feinheiten und hat das letzte Wort. Für die deutschsprachige Serie war das lange die Aufgabe von Marie-Jeanne Widera. Die erfahrene Sprecherin und Dialogregisseurin sagt über den Piraten-Anime: «‹One Piece› ist das aufwendigste Projekt, das ich je gemacht habe. Mehr als 1100 Folgen – wie behält man da die Übersicht?» Die grösste Herausforderung für Widera: das sogenannte Foreshadowing.
Auch diese Technik erklärt Robert McKee in «Story»: Damit ein wichtiges Ereignis in einer Serie die grösstmögliche Wirkung entfaltet, darf sich die Handlung im gleichen Moment nicht mit Erklärungen aufhalten, alle notwendigen Grundlagen für das Verständnis einer Szene müssen schon vorher angedeutet werden.
Eiichiro Oda ist ein Grossmeister des Foreshadowing. Schon vor 26 Jahren integrierte er kleine Details in seine Zeichnungen und schrieb Dialogausschnitte, die zuweilen erst heute ihre Bedeutung entfalten. Oda behauptet in Interviews, kaum etwas in seiner Serie sei Zufall. «Wir arbeiten mit unglaublich vielen Listen mit den Namen von Figuren, von Orten, aber auch von Attacken», sagt die Dialogregisseurin Widera. «Ich habe irgendwann angefangen, mir eine Audiodatenbank zu erstellen. Wie ist das damals beschrieben, wie ausgedrückt worden? Wie muss ich es also heute machen?»
Oda, den auch sie spielerisch Sensei nennt, macht es ihr alles andere als leicht. Immer wieder streut er nicht nur in Wörter und Dialoge, sondern auch in Bilder winzige Details als Hinweise ein: Schon eine Silhouette, die sich im Auge einer Figur spiegelt, kann einen der grössten Wendepunkte der Geschichte andeuten – den Oda aber erst Monate oder gar Jahre später einlöst.
«Es hilft, selbst Fan zu sein. Als ‹One Piece› in deutscher Sprache kam, hab ich direkt angefangen zu gucken», sagt Widera. Das war 2001. «Und es ist immer noch mein Lieblings-Anime.»
Die grosse Mehrheit der Fans sind Erwachsene
Zeichentrickfilme sind im deutschsprachigen Raum eng verknüpft mit Unterhaltung für Kinder. Vielleicht liegt das auch daran, dass der erste in deutscher Sprache veröffentlichte Anime tatsächlich für Kinder war – «Heidi, Mädchen der Alpen», basierend auf Johanna Spyris zweibändigem Werk, umfasste als Anime 52 Folgen und wurde 1977 zum ersten Mal in deutscher Sprache ausgespielt. Die Serie war eine Kooperation des deutschen Fernsehsenders ZDF und vier japanischer Animationskünstler; zwei von ihnen – Hayao Miyazaki und Isao Takahata – gründeten später das Studio Ghibli, heute eines der renommiertesten Produktionsstudios für Anime-Filme.
Und tatsächlich gibt es erfolgreiche Anime, die sich vor allem an Kinder richten: «Digimon» etwa oder «Pokémon». Aber beinahe drei Viertel aller Konsumenten von Anime-Serien sind zwischen zwanzig und Anfang dreissig, etwa 20 Prozent der Fans sind Teenager, der Rest ist über 40 Jahre alt. Für den Erfolg von Animes sind Kinder als Zielpublikum statistisch kaum relevant.
Deutschsprachige TV-Sender haben das lange nicht verstanden und Anime als Kinderserien beworben und am Nachmittag ausgespielt. Der auf Netflix derzeit beliebteste Anime mit etwa 330 Millionen Streaming-Stunden im vergangenen Jahr ist «Naruto». In der Ninja-Geschichte werden Figuren mit Schwertern durchbohrt oder mit Messern aufgeschlitzt, durch Angriffe werden ihnen Arme abgerissen, und alle paar Episoden drohen auch die guten Charaktere damit, ihre Gegner «zu töten». Die Welt von «Naruto» ist eine, von der selbst die Figuren sagen, sie sei brutal. Eine Kinderserie sieht anders aus.
Es ist aber nicht nur die Brutalität, die viele Animes eher zu Serien für Erwachsene macht. Es sind auch subtile Scherze, genauso wie sexuelle Andeutungen etwa über Bondage oder gleichgeschlechtliche Liebe und offen formulierte Gesellschaftskritik. Schon 2009 führt «One Piece» eine transsexuelle Figur als zentralen Charakter ein, die von ihren Feinden als «Missgeburt» geschmäht wird und die dafür eintritt, dass Frauen das stärkere Geschlecht seien, und sowieso, Mann oder Frau, das seien keine vorbestimmten Kategorien, sondern lediglich das Ergebnis einer Entscheidung, die jeder selbst treffen könne. Erst neun Jahre danach veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation eine überarbeitete Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten – Transsexualität galt erstmals nicht mehr als psychische Störung. In Kraft trat diese sogenannte ICD-11 noch einmal vier Jahre später, gültig ist sie seit 2022.
Anime sind aus Tradition Vorreiter darin, die sich verändernden Lebenswirklichkeiten junger Menschen zu erspüren und in ihren Geschichten zu verhandeln. Bei Filmen mit echten Schauspielern würde es womöglich einen Aufschrei geben, durch die Zeichentrick-Anmutung aber bleibt die Empörung aus. Trotz den scheinbar platten zentralen Motiven ist das Innenleben der unterschiedlichen Figuren bei den meisten Animes komplex. Und komplexe Charaktere sind laut dem «Story»-Guru Robert McKee eine der unabdingbaren Säulen für Geschichten, die berühren.
Ein gelungener Bösewicht ist nie einfach nur böse, er hat einen Grund, an seine Überzeugungen zu glauben. Wenn Schurken aus nachvollziehbaren Motiven böse handeln, erscheinen uns ihre Taten plausibel, die Figur ist nicht klar schwarz, sondern grau. Bei vielen der neuen Hollywoodfilme wurde diese alte Regel scheinbar vergessen. «Game of Thrones» ist auch deshalb ein Erfolg, weil Fans die Serie für ihre grauen Figuren feierten.
Für Anime-Serien scheint dieses Grau eine Grundvoraussetzung zu sein. In «One Piece» etwa gibt es Donquixote Doflamingo, einen gefallenen Adeligen, der sich durch Erpressung und Schmuggel ein kriminelles Imperium aufgebaut hat. Oda stattet ihn mit folgendem Hintergrund aus: Als sein Vater sich dazu entschied, den gehobenen Status aufzugeben, wurde die Familie von den normalen Bürgern verfolgt, gefesselt und verprügelt, sie mussten aus Mülltonnen essen. Später erschiesst Doflamingo seinen Vater aus Wut und befreit sich so aus der Kontrolle seiner Entscheidungen. Es ist sein Schritt zur Überzeugung, dass Gewalt die eigenen Privilegien sichert und die Macht gewährt, darüber zu entscheiden, was gut oder böse ist. «Gerechtigkeit wird sich immer durchsetzen», sagt Doflamingo in einer Episode, «weil der Gewinner entscheidet, was als gerecht gilt.»
Es geht aber auch subtiler. Luffy, Kapitän der Strohhutpiraten und Hauptfigur von «One Piece», formuliert als eine seiner tiefsten Überzeugungen: «Wenn du Hunger hast, iss!» Luffy ist ein Charakter, der sogar von seinen Freunden dafür kritisiert wird, ungeheure Mengen an Essen zu vertilgen. Und er steht da, grinst, sagt: «Wenn du Hunger hast, iss!» Ihm ist egal, dass andere ihn dafür beschimpfen, dass er dem folgt, was ihm guttut. In diesem scheinbar kleinen Satz – einfach zu essen – steckt ein Rat, wie ihn auch Therapeuten geben: «Akzeptiere dich in deinen Eigenschaften. Egal, was andere sagen, so wie du bist, bist du okay.» Luffys Mentor, eine der mächtigsten Figuren der Serie, rät ihm: «Mein Freund, wenn du weinen musst, dann weine.»
«One Piece» nutzt klassische Literaturmotive
Oda berührt immer wieder auch klassische Motive der Hochliteratur: In den neuesten Folgen erfahren die Zuschauer von einem Revolutionär. Er wurde als Kind versklavt und musste zusehen, wie sein Vater vor seinen Augen ermordet wurde, das Blut spritzte ihm dabei ins Gesicht. Als Erwachsener wird seine Partnerin von den gleichen Leuten – der Regierung – entführt, für Experimente missbraucht und vergewaltigt. Die Frau stirbt. Der Revolutionär adoptiert das durch die Vergewaltigung entstandene Kind, wird zu einem liebevollen Vater und opfert Jahre später für dieses adoptierte Mädchen sein eigenes Leben.
Vielleicht ist das der wichtigste Unterschied zwischen Anime und anderen beliebten Kulturformaten: Ihnen gelingt, was Robert McKee in «Story» als wichtigste Elemente einer guten Geschichte einfordert: Identifikation und Empathie. Während etwa das Marvel-Universum Figuren inszeniert, die von Anfang an Superhelden mit übermenschlichen Fähigkeiten sind, beginnen Animes häufig mit Figuren, die in ihrer eigenen Welt als Normalos gelten, als Gescheiterte oder als Aussenseiter.
In eine Superheldenrolle wachsen sie von Folge zu Folge, von Abenteuer zu Abenteuer, hinein. Sie entwickeln sich in ihren Fähigkeiten, aber auch in ihrer Persönlichkeit durch ihre Erfahrungen. Darin spiegeln sie das Leben ihrer Fans. Das Wachstum der Figuren lädt dazu ein zu denken: Ich kann das doch auch, dazulernen und mich entwickeln. Nicht in Form von übernatürlichen Fähigkeiten, aber in der Art, wie ich auf die Welt blicke und Dinge verstehe. Luffy entwickelt sich seit 26 Jahren weiter und zeigt noch immer Schwächen, bei denen Oda durchblicken lässt, dass er sie überwinden muss, um in seinem Abenteuer voranzuschreiten.
Als «One Piece» zum erfolgreichsten Manga in Frankreich wurde, war Emmanuel Macron 19 Jahre alt und ein Fan. 2021 besucht er als Staatspräsident von Frankreich die Olympischen Spiele und trifft einige der erfolgreichsten Mangaka. Eiichiro Oda trifft ihn zwar nicht, schickt ihm aber eine persönliche Zeichnung der Strohhutpiraten. Macron sagt, die Botschaft, die er in Anime erkenne, sei der Wert der Freundschaft.
Neben dem Wert der Freundschaft gibt es aber noch eine Botschaft, die den Kern der Welt von «One Piece» durchdringt. Konfrontiert damit, dass sich die Regierung ihm mit ihrer gesamten Macht entgegenstellen wird, sagt Luffy: «Ich werde alles daransetzen, meinen Traum zu erfüllen. Und wenn ich dabei draufgehe, werde ich dennoch glücklich sein. Denn ich habe es zumindest versucht.» Sein Traum ist, sich frei und selbstbestimmt zu entfalten. Mit welchem Helden könnten sich Menschen mehr identifizieren, wenn sie sich unterdrückt fühlen?
Rund um den Globus schaffen es Manga- und Anime-Künstler, immer mehr Menschen für ihre Arbeit zu gewinnen, und drohen sogar Hollywood als Kaderschmiede der Unterhaltungsindustrie abzulösen. Das gelingt ihnen, weil Menschen gute Geschichten lieben. Das Erzählen ist ein uraltes Handwerk: Wohl vor mehr als 4000 Jahren schufen die Sumerer die älteste schriftliche Geschichte – sie übertrugen das Epos des unsterblichen Königs Gilgamesch auf Tontafeln. Mit Serien wie «One Piece» erreichen die Geschichtenerzähler aus Japan die jungen Generationen und zeigen: Jetzt kommt unsere Zeit.