Themen der Gegenwart auf die Opernbühne zu bringen, ohne zeitgeistig zu werden: Das gelingt dem Schweizer Beat Furrer in seinem neuen Musiktheater «Das grosse Feuer», das jetzt am Opernhaus Zürich zur Uraufführung kam.
Die Kulturwelt steht unter Druck. Nicht nur, weil vielerorts die Gelder knapper werden. Sondern weil man gerade in aufgeheizten Zeiten Antworten auf die Fragen der Gegenwart erwartet. Wenn es beständig stürmt und knallt, wird es selbst im nobelsten Elfenbeinturm ungemütlich für dessen Bewohner. Doch die Forderung, sich doch bitte zu der Welt «da draussen» zu verhalten, ist leichter vorgebracht als umgesetzt. Reagiert die Kunst vorschnell und unreflektiert auf tagespolitische Entwicklungen, wirkt das Ergebnis oft zeitgeistig und kann aufgrund neuerer Wendungen des Zeitgeschehens schon bald alt aussehen. Lässt sie sich dagegen Zeit, scheint sie sich von der Gegenwart abzukoppeln. Ein Dilemma.
Gerade in der Oper kann man ein Lied davon singen. Denn die Zeiten sind vorbei, als ein Mozart noch binnen weniger Wochen mit einem Werk wie dem «Figaro» die gesellschaftlichen Spannungen vor 1789 auf die Bühne brachte und sie zugleich zu etwas Höherem veredelte. Oder als ein Jacques Offenbach die jeweils jüngsten Auswüchse der Belle Époque mit flott hingeworfenen Operetten aufzuspiessen verstand. Bei heute entstehenden Werken für das Musiktheater gibt es solche Flexibilität nicht mehr, sie entstehen zumeist mit Vorläufen von mehreren Jahren, und sie sind in der Regel zu aufwendig, als dass ein Komponist das Risiko eingehen könnte, dem Geist der Zeit buchstäblich hinterherzuschreiben.
Umso aufregender, wenn doch einmal ein neues Bühnenwerk herauskommt, das Themen der Gegenwart aufgreift, ohne sich dadurch zum Sprachrohr irgendeines modischen Diskurses zu machen. Dies gelingt dem Schweizer Beat Furrer mit seinem Musiktheater «Das grosse Feuer», das am Sonntag am Opernhaus Zürich uraufgeführt wurde.
Eine moderne Parabel
Der Komponist erzählt in dem knapp zweistündigen, in Zürich ohne Pause durchgespielten Werk von dem gestörten Verhältnis des Menschen zur Natur und der daraus resultierenden Gefährdung unserer Lebensgrundlagen. Doch «Das grosse Feuer» ist nicht einfach eine «Öko-Oper» mit grünlichem Anstrich. Furrer und sein Librettist Thomas Stangl wollen in einer modernen Parabel ergründen, wie und wann der Bruch stattgefunden hat, der die ursprünglich ganzheitlich-empathische Beziehung des Menschen zur Natur in ein überwiegend zweckorientiertes Nutzungsverhältnis verwandelt hat.
Furrer und Stangl stützen sich dabei auf den 1971 erschienenen Roman «Eisejuaz» der argentinischen Schriftstellerin Sara Gallardo, einer Vertreterin des magischen Realismus. Sie schildert das unterschiedliche Naturverständnis am Beispiel eines indigenen Stammes im Norden von Argentinien aus der Volksgruppe der Wichí. Dessen animistisches Weltbild, das den Bäumen und Tieren des Waldes Stimmen und eine Seele zugesteht, gerät in Konflikt mit dem rationalistischen Kosten-Nutzen-Denken der spanischen Kolonisatoren. Allerdings tappen weder der Roman noch Furrers Opernadaption in die Falle eines simplen Gut-Böse-Schemas, wie es heutige Kolonialismusdebatten prägt. Davor bewahrt sie nicht zuletzt die schillernde Hauptfigur: der Anführer des Stammes, genannt Eisejuaz.
Er ist in einer christlichen Mission sozialisiert worden, hat sich aber Prägungen durch die Kultur seiner Vorfahren bewahrt. Er vernimmt noch die Stimmen der Bäume – dies aber ausgerechnet dann, wenn er als Aufseher in dem lokalen Sägewerk schuftet, das der Region eigentlich Wohlstand bringen sollte. Im Inszenierungskonzept von Tatjana Gürbaca, das wegen einer Erkrankung der Regisseurin von ihrer Assistentin Vivien Hohnholz umgesetzt wurde, sieht man freilich, wohin das Abholzen und Brandroden geführt hat: zu einer verheerten Ödnis, wie man sie aus vielen Teilen Südamerikas kennt. Aus dieser Brache ragen im stilisierten Bühnenbild von Henrik Ahr bloss noch ein paar Stangen heraus – wie verkohlte Menetekel.
Dennoch ist Eisejuaz offenkundig so stark durch die Erziehung der Missionare beeinflusst, dass er nicht einfach mit seinem bisherigen Leben brechen kann – obwohl auf der Bühne, ein vielsagendes Leitmotiv, mehrmals sein letztes Hemd in Flammen aufgeht. Leigh Melrose spielt die Zerrissenheit, abwechselnd singend, sprechend, flüsternd und schreiend, mit einer Eindringlichkeit, die diesen komplexen Charakter lebendig und glaubwürdig macht. Und mehr noch: Man begreift auch, warum Eisejuaz alsbald zu einem Hiob wird; bei seinem Versuch, moderne und traditionelle Lebensweisen auszusöhnen, verliert er alles.
Als Objekt für seine Nächstenliebe wählt er ausgerechnet den gewissenlosen Kapitalisten Paqui (Andrew Moore), der ihn nach Strich und Faden ausnutzt. Gegen Ende schwingt sich dieser Kleinkriminelle sogar zu einem demagogischen Wunderheiler auf, der alle Probleme der Welt mit schlichten Schwarz-Weiss-Rezepten zu lösen verspricht. Obwohl sich die Regie den konkreten Seitenhieb verkneift, ist klar, wer gemeint ist – make the jungle great again.
Musikalische Gegenwelt
Dass dem vulgären Paqui dabei der «Scheiss-Indio» Eisejuaz in die Quere kommt, lässt die beiden ungleichen Männer zu Todfeinden werden. Ihre eskalierende Auseinandersetzung, durchaus opernhaft im herkömmlichen Sinn, bildet das Zentrum der Handlung. Ganz und gar nicht traditionell wirkt indes die Gegenwelt, die Beat Furrer mit allen Mitteln seiner feinsinnigen Klang- und Orchestrierungskunst entwirft. In einer Art obligatem Soundtrack, der dem Stück eine zweite Ebene verleiht, macht er die Stimmen des Waldes, der Tiere, ja der Flüsse und Wolken hörbar, für die einer wie Paqui keine Ohren besitzt, die aber auch in Eisejuaz, zu dessen Kummer, mehr und mehr verstummen.
So farbig und suggestiv tönt das, dass man ab und an die Augen schliessen und bloss lauschen möchte. Denn der «theatrale Raum», den der Komponist – hier selbst souverän am Pult der beeindruckend präzisen Philharmonia – mit seiner Musik eröffnet, ist grösser, und er erzählt viel mehr als das weitgehend realistisch gehaltene Bühnengeschehen. Dieses Mehr aber, das Assoziations- und Bedeutungsspielräume öffnet, ist seit vierhundert Jahren der Sinn von Opernmusik.
Bei Furrer finden darin auch die Stimmen der Indigenen ihren Platz. Sie stehen den Protagonisten in Gestalt des vorzüglichen Vokalensembles Cantando Admont als chorisches Kollektiv gegenüber. Das Leben der anderen, das gerade zerstört wird, erhält während der 41 knappen Szenen des Stücks immer nur schlaglichtartig ein individuelles Gesicht. Das schafft eine Multiperspektivität, der nicht immer leicht zu folgen ist. Aber einzelne Szenen bleiben haften, insbesondere der Schluss: Eine Frau (Sarah Aristidou) bietet Eisejuaz und Paqui eine Art Versöhnungsmahl an. Aus Unkenntnis der uralten Überlieferungen oder aus Absicht sind darin ein paar giftige Kröteneier gelandet. Die Natur schlägt zurück.