Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker triumphieren im Festspielhaus Baden-Baden mit Richard Strauss’ «Elektra». Das Regieteam um Philipp Stölzl hat sich dazu ein eigenwilliges visuelles Konzept ausgedacht.
Laut und grell brüllt es uns an: «Agamemnon!», so schreit, noch wortlos, zuerst das Orchester. «Agamemnon!», ruft wenig später in höchster Erregung die Titelheldin auf dasselbe Tonmotiv und beschwört damit den Namen ihres toten Vaters herauf. Parallel dazu ruft aber noch etwas Drittes an diesem ungewöhnlichen Abend im Festspielhaus Baden-Baden: Es ist die Bühne selbst, auch sie ist ein einziger Aufschrei – in gefühlt meterhohen Lettern legt sich der Name des erschlagenen Königs von Mykene über die Kulissen und füllt gebieterisch die gesamte Szenerie.
Philipp Stölzl, bekannt unter anderem durch seine opulente Verfilmung von «Der Medicus», und sein Co-Regisseur Philipp M. Krenn haben sich etwas Besonderes einfallen lassen für diese Neuproduktion von Richard Strauss’ «Elektra» bei den Osterfestspielen Baden-Baden: Man erlebt in diesem wuchtigen Antikendrama eine Art visuelle Wortmusik oder, um einen berühmten Buchtitel Nietzsches abzuwandeln, die Geburt der Tragödie aus dem Geiste des Textes.
Lesend hören, hörend lesen
Nicht nur Namen und Signalwörter flimmern nämlich über das Bühnenbild, das Stölzl und Franziska Harm auf ein paar archaische Tempelstufen reduziert haben. Vielmehr wird hier der vollständige Text der Oper gleichermassen in Szene und in die Szene gesetzt. Mal rattern die Buchstaben die Stufen herunter wie ehedem bei einem Fernschreiber, mal verteilen sich die Wörter abwechselnd links und rechts auf unterschiedlichen Ebenen. Und wenn es besonders dramatisch wird, gleicht die Bühne bald einer Word-Cloud aus dem Internet, in der sich die Schlüsselbegriffe unheilvoll zusammenballen.
Es ist nicht irgendein Text, der da gesungen wird, sondern ein Drama des jungen Hugo von Hofmannsthal, das sich Richard Strauss in Absprache mit dem Dichter zur Vertonung eingerichtet hat. Aus der bei «Elektra» begonnenen Kooperation wird eine legendäre Künstlerpartnerschaft entstehen, die vom «Rosenkavalier» bis zur späten «Arabella» ein halbes Dutzend Welterfolge hervorgebracht und das Zusammenspiel von Musik und Libretto in der Oper neu definiert hat.
Stölzl und Krenn lassen uns nun in Baden-Baden mit der quasi lippensynchronen Projektion des gesungenen Textes lesend nachhören, wie genau der komponierende Psychologe Strauss bereits auf das präexistente, von Freudschen Theorien durchsetzte Drama Hofmannsthals reagiert hat. Normalerweise ist genau das ein Problem bei «Elektra», denn Strauss’ radikalste Partitur verlangt mit 111 Spielern eines der grössten Opernorchester der Musikgeschichte; häufig ist deshalb vom Bedeutungsreichtum des Textes nicht allzu viel zu verstehen. Hier jedoch kann man dem Text buchstäblich kaum entkommen, denn immer wieder schieben sich die Worte unmittelbar ins Gesichtsfeld.
Das hilft ohne Frage dem Verständnis des komplexen Werks. Es schafft aber auch ästhetische Probleme. Denn die über tausend wie ein Bewusstseinsstrom ineinanderfliessenden Projektionen engen den realen Spielraum der Figuren auf der Bühne empfindlich ein. Mitunter verschwinden die Protagonisten regelrecht hinter einem Buchstabensalat.
Mag sein, dass Stölzl und Krenn damit den bei Hofmannsthal zentralen Zwiespalt zwischen Sprechen und Handeln, zwischen der Vorstellung einer Tat und deren Ausführung, thematisieren wollen. Tatsächlich singt Elektra ja von nichts anderem als von ihrem Wunsch nach Rache für den Mord an ihrem Vater Agamemnon. An der schliesslich durch Orest vollzogenen Rache aber zerbricht sie. Mit der naturalistischen, stark auf die handelnden Figuren fokussierten Opernästhetik von Strauss geht das visuelle Konzept trotzdem schwer zusammen. Denn es vertraut zu wenig auf die theatrale Präsenz der durchwegs erstklassigen Sänger.
Utopie des Familienglücks
Namentlich bei Nina Stemme legt es sich wie ein Schleier über ihre flamboyante Darstellung. Elektra gehört seit Jahren zu den Paraderollen dieser Spezialistin für das hochdramatische Fach. Stemme bewältigt die schwere Partie – von einigen mittlerweile hörbaren Abnutzungserscheinungen in der Extremhöhe abgesehen – noch immer mit einer Souveränität, die an grosse Vorläuferinnen wie Birgit Nilsson und Astrid Varnay erinnert. Vor allem aber verkörpert sie die neurotische Zerrissenheit der Elektra derart facettenreich und intensiv, dass man ihr mehr Möglichkeiten zur szenischen Entfaltung gewünscht hätte.
Mindestens ebenso gilt das für die jugendlich hell strahlende Elza van den Heever in der Rolle der Schwester Chrysothemis, mit deren leidenschaftlichem Eintreten für ein «Weiberschicksal» die Regie wenig anfangen kann. Und mehr noch für die grandiose Sänger-Darstellerin Michaela Schuster in der Rolle der Mutter Klytämnestra, die einst mit ihrem lächerlichen Lover Ägisth (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) den Mord an Agamemnon begangen hat. Bevor ihre Begegnung mit Elektra in offenen Hass eskaliert, finden Mutter und Tochter hier in einem kurzen Moment zusammen: Wortlos legt Schuster ihren Kopf wie fragend in den Schoss von Stemme, und diese intime Andeutung eines utopischen Familienglücks wirkt szenisch stärker als jede Textprojektion.
Unterlaufen wird das Regiekonzept schliesslich auch noch von unerwarteter Seite, nämlich durch die Berliner Philharmoniker. Unter der Leitung von Kirill Petrenko scheinen sie geradezu den Nachweis führen zu wollen, dass die Musik die Sänger tragen kann, anstatt sie zu erdrücken; und dass dann auch der Text ohne szenische Hilfestellung fast Wort für Wort verständlich wird – zumal, wenn man die Dynamik derart subtil und differenziert gestaltet wie Petrenko. So reich, so stachelig modern, aber auch so sinnlich klingt das Stück vielleicht nur unter den Händen von Spitzenorchestern wie den Berlinern oder auch den Wiener Philharmonikern, denen 2021 mit Franz Welser-Möst eine ähnlich feinsinnige Interpretation bei den Salzburger Festspielen gelang.
Nach Salzburg werden wiederum die Berliner in zwei Jahren zurückkehren, um dann ihre 2012 beendete Orchesterresidenz bei den dortigen Osterfestspielen wiederaufzunehmen. Von Baden-Baden verabschieden sich Petrenko und seine Musiker im kommenden Jahr mit Puccinis «Madama Butterfly» und Beethovens 9. Sinfonie.