Prabowo Subianto, der neue Präsident Indonesiens, soll während der Besetzung Osttimors an Massakern beteiligt gewesen sein. Trotzdem setzt die Regierung in Dili auf Versöhnung. Nicht alle überzeugt das.
Als Zelia Maria Ximenes das Schloss zu einem Kellergewölbe öffnet, wischt sie sich die Tränen weg. Es kommen die Erinnerungen an die Besetzung durch die indonesischen Truppen hoch. Die 54-Jährige und ihr Mann wohnen ausserhalb von Baucau, mit 20 000 Einwohnern die zweitgrösste Stadt Osttimors. Das Bauernpaar lebt in bescheidenen Verhältnissen. «Wir sind dennoch glücklich, weil wir frei sind», sagt Ximenes. Für die Freiheit haben Ximenes und ihre Landsleute einen hohen Preis zahlen müssen.
US-Präsident Gerald Ford gab das Okay
Osttimor blickt auf eine dunkle Vergangenheit zurück. Das Land ist erst seit dem 20. Mai 2002 unabhängig. Es war zunächst 450 Jahre lang eine Kolonie Portugals, bevor Indonesien unter dem Diktator Suharto in Osttimor im Dezember 1975 einmarschierte und erst 24 Jahre später wieder abzog. Wenige Tage vor der Okkupation hatten der amerikanische Präsident Gerald Ford und Aussenminister Henry Kissinger bei einem Zwischenstopp in Jakarta das Okay für die Invasion gegeben und anschliessend das indonesische Militär mit Waffen versorgt.
Es sollen während der Besetzung bis zu 200 000 Timorer gestorben oder verhungert sein. Das Genocide Studies Program an der Universität Yale schätzt, dass rund ein Fünftel der timoresischen Bevölkerung ums Leben kam. Diese Geschichte holt das kleine Land mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern durch das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Indonesien wieder ein. Die Indonesier wählten im Februar mit Prabowo Subianto nämlich einen der führenden Militärs aus der Zeit der Besetzung Osttimors zum neuen Staatsoberhaupt.
Prabowo wird vor allem die Beteiligung an zwei Massakern vorgeworfen: Im September 1983 trieb das indonesische Militär in dem Dorf Kraras, das südöstlich von Dili liegt, Einheimische in ein Flussbett und feuerte mit Maschinengewehren auf die Wehrlosen. Es sollen bis zu 181 Männer ermordet worden sein, und Prabowo wird dafür verantwortlich gemacht. Kraras ist in Osttimor als «Dorf der Witwen» bekannt.
Acht Jahre später soll Prabowo an einem Massaker auf dem Friedhof Santa Cruz in der Hauptstadt Dili beteiligt gewesen sein. Damals hatten Jugendliche und Studenten nach einer Trauerfeier friedlich demonstriert und Slogans wie «Lang lebe die Unabhängigkeit» skandiert. Die indonesischen Besetzer erschossen 270 Demonstranten, etwa gleich viele wurden verschleppt.
Prabowo weist die Anschuldigungen zurück. Die Zeitung «The Jakarta Post» veröffentlichte 2013 einen Leserbrief von ihm, in dem er schrieb, er habe sich «nicht in der Nähe des Kraras-Massakers» aufgehalten. Und er forderte jene, die ihn beschuldigten, auf, Beweise zu liefern, dass er Befehle zur Misshandlung und Tötung von Zivilisten gegeben habe.
1998 wurde Prabowo zwar unehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen. Ihm wird vorgeworfen, an der Entführung von Demonstranten in Jakarta beteiligt gewesen zu sein. Für seine möglichen Verbrechen in Osttimor musste er sich jedoch nie verantworten.
Indonesien schweigt sich wie Prabowo zu den blutigen Jahren in Osttimor aus, obwohl es einst selbst unter den niederländischen Besetzern gelitten hatte. Einer offiziellen Entschuldigung kam Susilo Bambang Yudhoyono, der zwischen 2004 und 2014 Präsident Indonesiens war, am nächsten, als er sagte: «Wir bedauern zutiefst, was geschehen ist.» Auch an den indonesischen Schulen wird die Okkupation totgeschwiegen.
Im offiziellen Osttimor hört man trotz der Vergangenheit nichts Negatives über Prabowo. Der einstige Widerstandskämpfer Jorge Alves leitet in Dili «The Archive and Museum of Timorese Resistance», in dem die Jahre der indonesischen Besetzung aufgearbeitet werden. Der inzwischen 63-jährige Alves hat einen hohen Preis für den Kampf gegen die Besetzer gezahlt. Sein Vater, ein führender Befehlshaber im Widerstand, wurde ermordet, sein Leichnam nie gefunden. «Unsere Herzen sind gebrochen, aber ich verspüre keine Rachegelüste und gratuliere Prabowo zu seiner Wahl», sagt Alves im Stile eines Diplomaten.
Fragen nach dem gewählten indonesischen Präsidenten umkurvt er höflich. Er klagt ihn nicht persönlich an. Auch im Museum werden Prabowo und andere hochrangige indonesische Militärs, die während der Okkupation gewütet hatten, nicht namentlich genannt. Indonesiens Armee als Ganzes steht am Pranger.
«Wir dürfen das Leiden und unsere Geschichte nicht vergessen und müssen sie in den Schulen und durch das Museum von Generation zu Generation weitergeben», sagt Alves. Osttimor habe nun mit Armut und Unterernährung zu kämpfen. «Wir müssen die Vergangenheit ruhen lassen und zusammen mit Indonesien für eine bessere Zukunft kämpfen.»
Für die Aussöhnung sprechen auch wirtschaftliche Gründe. Die timoresische Wirtschaft kann viele Güter und Nahrungsmittel nicht selber herstellen und ist auf Importe aus Indonesien angewiesen. 2022 kam annähernd jedes dritte eingeführte Gut aus dem Nachbarland. Es wäre Harakiri, in einer Position der Schwäche Indonesien herauszufordern. Präsident José Ramos-Horta war denn auch das erste ausländische Staatsoberhaupt, das Prabowo zu seiner Wahl gratulierte, und er lud ihn zu einem Besuch nach Osttimor ein.
Mit vier Minderjährigen auf der Flucht vor den Besetzern
Ximenes in Baucau ist weniger diplomatisch als die einstigen Widerstandskämpfer in Dili. Ihre Wunden sind auch ein Vierteljahrhundert nach dem Abzug der Besetzer noch nicht verheilt. Sie hatte während der Okkupation ein hartes Leben, unterstützte die Widerstandskämpfer und stellte ihr Grundstück für den Bau eines Kellers zur Verfügung, in dem die Guerilla Unterlagen und Funkgeräte versteckte.
1997 wurde Ximenes’ Mann, der auch im Widerstand kämpfte, von der indonesischen Armee ins Gefängnis gesteckt. Er entkam zwar, musste sich jedoch im Dschungel verstecken. Zu seiner Familie konnte er erst nach dem Abzug der indonesischen Truppen zwei Jahre später wieder zurückkehren.
Die damals 27-jährige Ximenes war mit den vier Kindern, das älteste war gerade einmal neun Jahre alt, auf sich allein gestellt. Sie mussten auf der Flucht vor der indonesischen Armee ständig die Unterkünfte wechseln. «Es waren entbehrungsreiche Jahre», sagt Ximenes. Als sie über Prabowo und die indonesischen Besetzer spricht, kommt sie ins Stocken, fängt wieder zu weinen an und sagt: «Vielleicht kann ich ihnen vergeben. Aber mein Herz bleibt gebrochen.»