Ausserdem im Programm: deutsche Filmemacher, die am Holocaust scheitern.
Israel-Kritiker stehen früh auf. Der palästinensische Dokumentarfilm «No Other Land» am Sonntagmorgen ist ausgebucht. Bei der Uraufführung am Abend zuvor gab es «Free Palestine»-Rufe, «zwei Männer, die Frieden für Israel und Palästina forderten, wurden niedergeschrien und beleidigt», schreibt die Deutsche Presse-Agentur.
Auch bei der zweiten Vorstellung sind die Sympathien klar verteilt. Das Palästinensertuch blitzt vielerorts in den Sitzreihen auf. «Wahrscheinlich ist alles auf Englisch, und ich verstehe nichts», sagt vor Filmbeginn eine ältere deutsche Frau zu ihren Begleiterinnen und lacht: «Aber das macht nichts.»
Tut es nicht, nein. Die Leute sind nicht gekommen, um mehr zu verstehen. Man weiss längst Bescheid. Deutschland ist ein Land von Nahostexperten. Der Kinobesuch ist vor allem eine Solidaritätsbekundung. Das ist auch ganz im Sinne der Macher von «No Other Land»: Das palästinensisch-israelische Regiekollektiv versteht sich laut eigener Aussage als Aktivisten. Sie wollen Aufmerksamkeit generieren für ihre Sache.
Eindringlicher Film
Im Zentrum: der junge Palästinenser Basel aus Masafer Yatta, südlich von Hebron im Westjordanland. Dort leben über tausend Palästinenser behelfsmässig in Weilern. Doch ihre Häuser sollen einem israelischen Truppenübungsplatz weichen. Regelmässig rückt die Armee mit Bulldozern an.
Zusammen mit einem israelischen Mitkämpfer, dem Journalisten Yuval, hat Basel die Zerstörungen gefilmt. «No Other Land» zeigt Zusammenstösse mit den Truppen. Auch jüdische Siedler greifen die Palästinenser an. Die Brutalität ist schwer erträglich. Ein aufrüttelnder Film, auch handwerklich gut gemacht. Der Schnitt ist gekonnt gesetzt, vereinzelt sind Szenen stimmungsvoll mit Musik unterlegt. Die Dokumentation verstört nicht einfach, sie nimmt emotional mit.
Aber sie legt es nicht darauf an, den Konflikt in seiner Komplexität zu vermitteln. Was man ihr sogar nachsehen mag: Vor den anrückenden Bulldozern hat Basel anderes zu tun, als zu differenzieren. Trotzdem wäre es interessant gewesen, wenn Yuval, der sich immerhin auch als Journalist versteht, ihn auf die Gewalt, den Judenhass und die politischen Versäumnisse auf palästinensischer Seite angesprochen hätte.
Vor allem aber: Abgedreht wurde «No Other Land» im Oktober 2023, kurz nach dem Massaker der Hamas. Die Attacke wird bloss in einem Satz notdürftig erwähnt, dann zeigt der Film, wie jüdische Siedler sich rächen und ein Dorf in Masafer Yatta überfallen. So nachvollziehbar der Fokus auf das eigene Leid ist: Wenn die Macher es nicht einmal über sich bringen, das Pogrom vom 7. Oktober und die Entführungen anzuklagen, wie will man dann mit ihnen ins Gespräch kommen?
In einer kurzen Diskussion nach der Vorführung werfen Yuval und Basel stattdessen der israelischen Regierung Apartheid vor, das Publikum ist sehr einverstanden. Im Saal scheint man sich einig, dass über das Leid in Gaza generell zu wenig berichtet wird. Ein junger Zuschauer bringt es fertig, in dem vollbesetzten Kino von einem Klima der Zensur in Deutschland zu sprechen. Zwei Moderatoren fungieren als Stichwortgeber für die palästinensische Sache. An einer eigentlichen Diskussion ist niemandem gelegen.
Die Berlinale-Leitung duckt sich weg
Dass die Berlinale keine Form gefunden hat, das Geschehen in Nahost sinnvoll aufzugreifen, irritiert. Ausser «No Other Land» wird einzig der neue Film des israelischen Regisseurs Amos Gitai gezeigt, der vor dem 7. Oktober entstanden ist. Dass es noch kaum abendfüllende Produktionen gibt, die sich mit der aktuellen Situation beschäftigen, ist klar. Aber wieso nicht etwa Podien mit israelischen und palästinensischen Filmemachern veranstalten?
Zumindest sollte der künstlerische Leiter Carlo Chatrian anwesend sein bei einer Vorführung wie «No Other Land»; es wäre Chefsache, ein ordentliches Gespräch zu leiten. Zum von der Hamas entführten israelischen Schauspieler David Cunio, der 2013 mit dem Film «The Youth» auf der Berlinale vertreten war, hat das Festival auch keine Stellungnahme veröffentlicht. Für eine Veranstaltung, die sich unablässig ihrer politischen DNA rühmt, ist ein dezidiert einseitiger propalästinensischer Einwurf wie «No Other Land» deutlich zu wenig.
Wenn er nicht sogar unverantwortlich ist: Der Film mag aus der Perspektive der Aktivisten schlüssig sein; der Israel-Hass eines Direktbetroffenen wie Basel ist begreiflich. Aber in der heutigen Zeit und in einem Land, in dem jüdische Menschen nicht mehr sicher sind, wenn sie sich als jüdisch zu erkennen geben, wäre die Berlinale dringend dazu angehalten, sich mehr Gedanken über die Einordnung eines solchen Films zu machen.
Blicke auf den Holocaust
In Berlin ist der Holocaust nie weit. Vom Berlinale-Palast zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas sind es 900 Meter. Man hat das Gedenken geradewegs vor der Nase. Aber es ist wie mit allem, was man ständig vor Augen hat: Man schaut irgendwann nicht mehr richtig hin. Welchen Blick kann das Kino noch eröffnen?
Deutsche Filmemacher finden kaum noch aufschlussreiche Perspektiven. Auch nicht Julia von Heinz, die ihre mit Lena Dunham («Girls») und Stephen Fry hochkarätig besetzte internationale Produktion «Treasure» vorstellte: Die Geschichte handelt von einer amerikanischen Pop-Journalistin, die 1991 mit ihrem Vater, einem Auschwitz-Überlebenden, nach Polen reist. Eine «Erinnerungstour» nach Prospekt hat die Mittdreissigerin geplant. Aber der Vater sabotiert das Unterfangen bald: Er hat keine Lust auf Gedächtnistheater.
Dunham spielt das übergewichtige amerikanische Trampeltier, das Pommes-Chips in sich hineinstopft und in einer Sinnkrise steckt. Fry verkörpert den schrulligen polnischen Slapstick-Vater: Julia von Heinz hat den Film überraschend vergnüglich angelegt, nichts dagegen. Doch spätestens nach zwei Filmdritteln, als Vater und Tochter zum erinnerungspolitischen Showdown in Auschwitz-Birkenau ankommen, wird das zum Problem: Julia von Heinz gelingt es nicht annähernd, eine Erfahrung von dem Ort zu vermitteln. Wenn ein Film über die Shoah das Vernichtungslager erreicht und jede Wirkung wegbleibt, weiss man, dass der Film etwas falsch gemacht hat.
Ein Nazi-Film ohne Nazis
Dann Andreas Dresen, deutscher Altmeister: «In Liebe, Eure Hilde» erzählt von Hilde Coppi. Mit ihrem Mann war sie im Widerstand, die Gestapo sprach von der «Roten Kapelle». Die Gruppe fliegt auf, im Gefängnis ist klar: «Von hier aus geht’s nur noch nach ‹Plötze›.» So ist es dann auch: In Plötzensee wartet das Fallbeil.
Als Hilde gefasst wird, ist sie hochschwanger, hinter Gittern bekommt sie das Baby. Dresen, einer fürs gnadenlos ungeschönte deutsche Kino, gestaltet das Drama um die Widerstandskämpferin kurz gefasst so: Brutaler als die Folter, mit der Hilde ihre Mitstreiter verraten soll, zeigt er die Geburt. Der Filmemacher legt den Fokus auf das subjektive Leiden, nicht auf die Politik. Programmatisch der Satz, als der Richter Hilde fragt, warum sie beim Widerstand mitgemacht habe: «Weil ich meinen Mann liebe.»
Das Böse bleibt bei Dresen demonstrativ gesichtslos, es geht um das menschliche Drama. Dagegen wäre nichts einzuwenden, Hildes Martyrium ist erschütternd anzusehen. Doch treibt der Filmemacher die Abstraktion so weit, dass es im Grunde gar nicht mehr um Nazis geht. Ganz zu schweigen von den Juden.
Man kann das natürlich toll finden. Rund anderthalb Stunden seien bereits vorbei, «da sagt zum ersten Mal jemand ‹Heil Hitler›», schreibt der Kritiker des «Spiegels». Keine Hakenkreuzfahnen weit und breit, endlich ein Film über den Nationalsozialismus, der es anders macht: «Zerrissene Menschen statt böser Nazis» – immerhin der deutsche Kritiker ist begeistert.