Tausende Pilger wollen das Papstgrab in der Kirche Santa Maria Maggiore besuchen. Damit erhält der Esquilin, ein etwas vergessenes Quartier, plötzlich neue Aufmerksamkeit. Die Bewohner freuen sich über die erhöhte Präsenz von Ordnungskräften – noch.
Bei aller Popularität des verstorbenen Papstes – damit hatte man in Rom dann doch nicht gerechnet. Auch Tage nach der Beisetzung von Franziskus stehen sie Schlange vor der Kirche Santa Maria Maggiore. Geduldig warten Gläubige und Schaulustige in der langen Kolonne, passieren die Sicherheitskontrollen und werden schliesslich vorgelassen in die Basilika, die der Pontifex als seine letzte Ruhestätte auserkoren hat.
Die Gegend sei ein zweiter Petersplatz geworden, sagen sie hier. Und meinen es erst einmal positiv. So viel Aufmerksamkeit wie jetzt hat der Esquilin, so der Name des Quartiers, in den letzten Jahren nie genossen. Kunstinteressierten und Pilgern war die Basilika zwar schon immer ein Begriff, aber die Massen konzentrierten sich bisher auf die tiefer gelegenen Quartiere der Stadt mit ihren Sehenswürdigkeiten: Forum Romanum, Kolosseum, Vatikan, Spanische Treppe, Piazza Navona.
Die Entscheidung des Papstes, sich hier beisetzen zu lassen, werde einen «überraschenden Beitrag zum Wachstum und zur Wiederentdeckung dieses Stadtteils und des Bahnhofsviertels Termini leisten», sagte dieser Tage Francesco Rutelli, der frühere Bürgermeister der Stadt, zum «Messaggero». Die Hoffnung besteht, dass der Esquilin, der zu den sieben historischen Hügeln der Stadt zählt, auch längerfristig Rombesucher anzieht und auf diese Weise zur Entflechtung der Touristenströme beiträgt.
Elvis freut sich
In den Bars und Geschäften im Umfeld der Basilika herrscht erst einmal Zufriedenheit. «Das Geschäft läuft gut», sagt der Inhaber der Gelateria Orso Bianco in der Via Carlo Alberto, die direkt zur Kirche führt. Der Gelataio nennt sich Elvis, «wie Presley», präzisiert er und lacht – und man weiss nicht so recht, ob er sich einen Scherz erlaubt. Jedenfalls ist er bester Laune und unterhält seine Gäste mit Sprüchen und Witzen.
Noch kostet der «caffè» hier 1 Euro 20 und schmeckt vorzüglich. Ob das so bleibt oder ob die Preise bald in die Höhe schnellen wie unten in der Nähe der berühmten Monumente, weiss man nicht. «Keine Ahnung, was die Zukunft bringt», sagt Elvis. Er lebe im Moment.
Auch Bewohner können dem Boom Positives abgewinnen. Er bringe endlich mehr Sicherheit ins Quartier, zitiert die «Repubblica» Emma Amiconi, eine Aktivistin des «Comitato Piazza Vittorio Partecipata», einer Art Bürgerinitiative des Esquilin. Tatsächlich ist die Zahl der Ordnungskräfte in den letzten Tage in die Höhe geschnellt, Putzequipen halten Strassen und Plätze rund um Santa Maria Maggiore sauber.
Mehr Kontrollen, bessere öffentliche Dienstleistungen – es sind alte Anliegen in einer Gegend, die als vernachlässigt gilt. Meist geht es um Kleinkriminalität oder Drogenhandel, wenn vom Esquilin die Rede ist. Es kommt vor, dass man auf den Strassen zwischen dem Römer Hauptbahnhof Termini und Santa Maria Maggiore mitunter schwer verwirrten und vernachlässigten Personen begegnet, bei denen man sich fragt, welche Dosis welchen Rauschmittels sie gerade konsumiert haben.
Hier «radical chic», dort Randständige
Genaugenommen ist der Esquilin zweigeteilt. «Es gibt eine imaginäre Linie, die genau durch die Mitte der Piazza Vittorio verläuft», sagt Golo Maurer, Leiter der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte in der Bibliotheca Hertziana in Rom. Maurer wohnt im Esquilin und hat unlängst ein Buch über das Leben in Rom verfasst.
Man kann diese unsichtbare Demarkationslinie unschwer erkennen. Nördlich der Piazza, die eigentlich eine wunderbar grüne Oase ist, eine Art «Central Park Roms», wie Maurer es formuliert, mischen sich die Ströme der Touristen mit denjenigen der Migranten. Es ist ein eigenartiges Aufeinandertreffen von Menschen mit Rollkoffern und Funktionskleidung mit solchen, die riesige Plastiktaschen schleppen und ausgelatschte Schuhe tragen. Da und dort bauen sich Obdachlose prekäre Behausungen aus Karton, Schlafsäcken und Decken.
Die Geschäfte im nördlichen Teil des Esquilin heissen «Bai Di Fashion» oder «Xing He Jewelry», die Restaurants bieten «Food of Rome and India» an. Und an der Via Principe Amedeo, wo sich einer der Eingänge zur grossen Markthalle befindet, wird kein Italienisch mehr gesprochen. Es sind meist Bangalen, die an den Ständen Textilien, Gewürze, Fisch, Fleisch oder Gemüse feilhalten.
Südlich der Piazza Vittorio herrscht eine andere Szenerie. Diese Zone ist mittlerweile leicht gentrifiziert. Kreative, Schriftstellerinnen, Journalisten oder Filmemacher wie der Oscarpreisträger Paolo Sorrentino haben sich hier in den letzten Jahrzehnten niedergelassen. Es gibt traditionelle Geschäfte, aber auch Bio-Bäckereien, Buchläden, Schallplattenläden, Bars und Cafés, «auf die der Prenzlauer Berg neidisch sein könnte», so Golo Maurer.
«Radical chic» nennen rechte Politiker spöttisch diese Szene. Aber im Unterschied zu den Städten jenseits der Alpen haben sie nicht alles weggefegt, was noch authentisch ist. Der südliche Esquilin ist nach wie vor eine raue Schönheit, wo sich Leichtigkeit mit Schwere verbindet und wo die Schattenseiten nicht weggeputzt worden sind. Golo Maurer fühlt sich hier nach Buenos Aires versetzt – ein besonders passender Vergleich, jetzt, wo der argentinische Papst Jorge Mario Bergoglio im Quartier begraben liegt.
Bald zu viel des Guten?
Noch herrschen Stolz über die neue Aufmerksamkeit und Zufriedenheit über die starke Präsenz von Sicherheitskräften vor. Es könnte aber auch sein, dass der jetzige Andrang den Bewohnern bald einmal zu viel wird. Erste Anzeichen sind schon festzustellen: Anwohner mit Einkaufstaschen, die sich entnervt einen Weg über die verstopften Trottoirs bahnen; Passanten, die die Augen rollen, als sie von schwitzenden Touristen nach dem Weg zu Santa Maria Maggiore gefragt werden – und diesen klarzumachen versuchen, dass sie direkt davorstehen.
Erst einmal will man hier den Sommer abwarten und schauen, ob sich die Situation einpendelt und normalisiert – oder ob das Quartier tatsächlich zu einem zweiten Petersplatz mutiert. Mit allen Vor- und Nachteilen.