Städte wie Orléans, rund 130 Kilometer südlich der Hauptstadt, verzeichnen einen Sprung bei den Sozialfällen. Die französische Regierung bestreitet, dass Obdachlose in Provinzstädte umgesiedelt werden.
Der parteilose Bürgermeister von Orléans, Serge Grouard, war der Erste, der Ende März lautstark protestierte. Er hat festgestellt, dass in den letzten Wochen und Monaten «in aller Heimlichkeit» Hunderte von Obdachlosen, unter ihnen Asylbewerber und Migranten, aus der Pariser Hauptstadtregion in seine Stadt «transferiert» wurden. Doch er ist längst nicht der Einzige, der reklamiert und die staatlichen Behörden zu Transparenz und im Minimum zu einer Absprache mit den lokalen Volksvertretern auffordert.
Zu keinem Zeitpunkt nämlich sei er informiert oder gar um seine Zustimmung gebeten worden. Stattdessen habe er seine anfängliche Vermutung von den örtlichen Hilfsorganisationen bestätigt bekommen, die eine plötzliche Zunahme der von ihnen betreuten Sozialfälle registriert hätten. «Alle drei Wochen bringt ein Car jeweils 30 bis 50 Personen aus Paris nach Orléans.» Er schätzt die bisherige Zahl von Obdachlosen, die aus Paris zur Unterbringung in seine Stadt gebracht wurden, auf «mindestens 500».
Dabei habe Orléans bereits zu wenig Notunterkünfte und ohnehin keineswegs den Wunsch, «den Crack-Hügel von Paris» aufzunehmen. Er befürchtet, dass sich unter den Umplatzierten auch Crack-Konsumenten befinden, die aus dem nördlichen Pariser Quartier beim Place Stalingrad vertrieben worden sind.
Der Wohnungsminister weist die Vorwürfe zurück
Grouard ist wie inzwischen andere betroffene Gemeindepräsidenten überzeugt, dass die Umsiedlungsaktionen aus der Kapitale in Richtung Provinz, die zum Teil bereits im letzten Jahr begonnen hätten, zweifellos mit der Imagepflege im Rahmen der Organisation der Pariser Olympischen Sommerspiele «JO 2024» zu erklären sei. Die Region Paris habe, so Orléans Bürgermeister, vor der Olympia-Show mit Gästen aus aller Welt alles Interesse, sich im allerbesten Licht zu zeigen. Er spricht von «sozialer Säuberung» der Strassen.
Der Begriff tönt hart und wird von den Offiziellen in Paris empört zurückgewiesen. Der Minister für das Wohnungswesen, Guillaume Kasbarian, behauptet, die Entlastung der Hauptstadtregion Île-de-France stehe in keinem Zusammenhang damit.
Jedoch spricht auch die Strassburger Vizebürgermeisterin Floriane Varieras (von der Partei der Grünen) von einer verdächtigen Geheimniskrämerei. «Es gab keine Konzertierung, weder für die Wahl der Orte noch für die Zusammensetzung der umgesiedelten Bevölkerung: Wie der Maire von Orléans finde ich das undurchsichtig», erklärte sie. Aus diesem Grund weiss man in Frankreich immer noch nicht genau, welche Städte betroffen sind und in welchem Ausmass.
Noch schärfer ist in Lavaur, östlich von Toulouse, der Tonfall von Bürgermeister Bernard Carayon, ein Konservativer von der Partei Les Républicains: «Die Migranten sind keine Möbel, die man spediert. Und dies, um Paris im Vorfeld der Olympischen Spiele weisser, sauberer und präsentabler zu machen. Diese Methode ist schlicht unwürdig und heuchlerisch», antwortete er auf die Frage der Regionalzeitung «La Dépêche», was er gegen die Verteilung der Migranten im Sinn einer stärkeren Solidarität unter den Gemeinden habe.
Angeblich hatten die Betroffenen keine Wahl
Lavaur mit seinen 10 000 Einwohnern habe selbst für die örtliche Bevölkerung nur sehr beschränkte Mittel und Beherbergungsmöglichkeiten. Wenn dann aus Paris zusätzlich Flüchtlinge oder illegal eingereiste Migranten hergebracht würden, schaffe dies nicht nur Organisationsprobleme, sondern auch böses Blut bei den Einheimischen. Carayon hat seine Amtskollegen im ganzen Land öffentlich aufgerufen, sich dieser Politik zu widersetzen.
Mit anderen Argumenten sind auch humanitäre Organisationen wie Médecins du Monde (MdM) gegen Umsiedlungen von «SDF», den «sans domicile fixe», die nicht immer auf freiwilliger Basis oder mit falschen Versprechen aus Paris in die Provinz gebracht würden. Dabei gingen oft die Kontakte mit den Hilfsorganisationen verloren. Dem Fernsehsender France 3 sagte ein Mann namens Ali, ein als Flüchtling anerkannter Sudanese, man habe ihm keine Wahl gelassen, als er in einen Car nach Toulouse verfrachtet wurde. Und dies, obschon er ein Dach über dem Kopf ausserhalb von Paris und eine Arbeit im Disneyland gehabt habe. Ali wohnte in einem besetzten Abbruchobjekt.
«Die Polizisten haben unsere Ausweise eingesammelt und uns aufgefordert, uns in den Bus zu setzen», sagt er weiter. Er sei dann wenig später auf eigene Kosten mit der Bahn nach Paris zurückgereist. Andere, die zuvor auf der Strasse lebten, sagen dagegen, sie hätten es jetzt in der Provinz besser.
Aus den Augen, aus dem Sinn
Mit einer «sozialen Säuberung», die auch die Räumung von besetzten Häusern, den Abbruch von Hütten und Zelten neu entstandener Bidonvilles oder die Vertreibung von Drogenabhängigen und Prostituierten aus der Öffentlichkeit umschliesse, wolle man das existierende Elend «unsichtbar machen», kritisiert Antoine de Clerck vom Kollektiv «Le Revers de la médaille» (Die Kehrseite der Medaille). Dieses kritisiert, dass die Behörden die Schattenseiten der Gesellschaft einfach – nach dem Prinzip: aus den Augen, aus dem Sinn – verdrängten. Zum positiven Image als Austragungsort der Olympischen Spiele gehöre aber neben der Organisation des reibungslosen Ablaufs auch, dass die Stadt die Menschenrechte respektiere, mahnt der MdM-Koordinator Paul Alauzy.