Freikirchen versprechen Gemeinschaftsgefühle und Antworten auf die ganz grossen Fragen – doch der Preis ist hoch. Eine Reportage
«Willkomme dihei» steht in grossen Buchstaben an der Tür und «Welcome home» auch. Es ist Sonntagmorgen in Zürich, die Luft ist kühl. Kirchenglocken hört man keine mehr, ihr Ruf zum Gottesdienst ist bereits verklungen. Mindestens eine Messe aber steht noch an.
«Bisch du s erschti Mal da?», fragt ein lächelnder junger Mann. Er steht am Eingang zu einem grossen Mehrzweckraum an der Hohlstrasse. Ein etwas verloren blickender Neuankömmling nickt. «So schön», sagt der Begrüsser und weist den neuen Gast hinein. «Kafi git s a de Bar, sitze chasch überall, wo s na Platz hät.»
Drinnen stehen die Menschen dicht gedrängt. Es wird viel begrüsst, umarmt und gelacht. Jemand bringt zusätzliche Stühle. Scheinwerfer zeichnen eine bunte Klub-Beleuchtung an die Wände. Auf der Bühne stehen Mikrofone und Gitarren bereit. Auf jedem Stuhl liegt ein Couvert. «Werde Teil unserer Kirche», steht darauf. Bald verschwinden die Couverts aus dem Sichtfeld; der Raum für den Gottesdienst von Hillsong Zürich, einer internationalen Freikirche mit Ableger in der Schweiz, ist bis auf den letzten Platz gefüllt.
Die Freikirchen bleiben stabil
Vollbesetzung – eine Situation, die man in den Schweizer Landeskirchen selbst zu hohen kirchlichen Feiertagen kaum noch erlebt. Im Kanton Zürich etwa verzeichneten beide Landeskirchen 2023 den grössten Mitgliederschwund innerhalb eines Jahres, der je gemessen worden ist. Minus 3,7 Prozent Mitglieder bei den Katholiken, minus 3,2 Prozent bei den Reformierten.
Stabil bleiben dagegen die Mitgliederzahlen der Freikirchen. Zwischen 2019 und 2022 sind laut dem Dachverband freikirchen.ch sogar 22 neue Lokalkirchen gegründet worden. Was bietet die Gemeinschaft der Freikirchen, das den Landeskirchen fehlt?
Da war ein Vakuum
«Ich war einsam», sagt Pascal, der eigentlich anders heisst. Anschluss zu finden, fiel ihm schwer. Die Leichtigkeit einer Clique, die Verbundenheit einer Freundschaft kannte er nicht. Dann zog Pascal, kein allzu religiöser Mensch, zum Studium nach Zürich – und etwas Wunderbares geschah: Kommilitonen sprachen ihn an, luden ihn zu Treffen ein, baten ihn, den Einzelgänger, Teil ihrer Gruppe zu werden. «Sie haben dieses Vakuum gefüllt, das ich in mir spürte», sagt Pascal heute, mehr als dreissig Jahre später.
Endlich wurden für Pascal Grundbedürfnisse befriedigt: «Ich bekam Anerkennung, Beachtung, Gemeinschaft.» Und mehr als das. Im Volksmund heisst es, die Wege des Herrn seien unergründlich. Aber Pascals neue Freunde wussten auf alles eine Antwort. Sie kannten den eigenen kleinen Platz im grossen Weltgefüge und den Sinn des Lebens. Sie wussten, was Gott von den Menschen erwartet und was ihm missfällt. Die eindeutigen Regeln und klaren Strukturen gaben Pascal Sicherheit. «Und so», sagt er nüchtern, «wurde ich zum ersten Mal Teil einer evangelikalen Freikirche.»
Genug Geld für den Sinn des Lebens
«Die Schweiz ist, zusammen mit den USA, das Land mit den meisten sogenannten Sekten», sagt Christian Rossi, Religionswissenschafter an der Universität Zürich und freier Mitarbeiter bei Infosekta, der Schweizer Fachstelle für Sektenfragen. Einen Grund dafür sieht Rossi in der offenen und liberalen Tradition der Schweiz: «Man verurteilt andere Lebensweisen nicht so schnell.» Einen weiteren in ihrem Reichtum: «Schweizer haben darum zum Beispiel oft genügend Freizeit, um sich mit religiösen Themen und alternativen Modellen zu beschäftigen. Man kann es sich leisten, nach dem Sinn des Lebens zu suchen.»
Problematisch werde es, wenn eine religiöse Gemeinschaft mit verschiedenen Kontrollmechanismen und -instanzen arbeite. Herrscht ein duales Denken vor – richtig oder falsch, gut oder böse, wir gegen die andern, Erlösung oder Hölle –, dann liege meistens etwas im Argen, sagt Rossi. Auch Antworten auf alle grossen Fragen im Leben seien bei solchen Gemeinschaften kein Qualitätsmerkmal, sondern eine Alarmglocke. Bei Neumitgliedern werde zudem oft bewusst darauf geachtet, dass sie Familienangehörige oder Freunde entweder bekehren oder sich von ihnen distanzieren.
Ein wertvoller Mensch
Pascal fühlte durch seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe eine starke Aufwertung der eigenen Person. Je mehr ein Mensch Gott gebe, lehren ihn die neuen Freunde, umso wertvoller werde er. Pascal gab viel. Las die Schriften seiner Kirche und verbrachte seine Freizeit mit Arbeiten für die Gemeinschaft. Aber: «Die eigene Aufwertung ging Hand in Hand mit einer Abwertung aller andern.» Darunter litt das Verhältnis zu den Eltern.
In den vereinnahmenden und stark wertenden Strukturen seiner Gemeinschaft sah Pascal als junger Mann kein Problem. «Ich wusste damals noch nicht, dass es Gemeinschaft und Freundschaft auch ohne Druck gibt», sagt er. Dennoch stieg Pascal mit Mitte zwanzig zum erstem Mal aus: Er hatte nach dem Studium ein Praktikum in einer anderen Stadt angetreten. Das war in den neunziger Jahren – die Distanz zerriss die Verbindung zu den alten Freunden, das Leben nahm seinen Lauf.
Pascal ging seinen Weg in der Arbeitswelt, verliebte sich, feierte Hochzeit und wurde Vater. «Aber im Herzen und in Gedanken hat diese Trennung nie stattgefunden. Darum war meine Geschichte mit den Freikirchen da auch noch nicht fertig», sagt Pascal.
«Seid mutig»
An der Hohlstrasse in Zürich stimmt das Worship-Team auf der Bühne den ersten Song an. Mit den uralten Weisen in den schweren Gesangsbüchern der Landeskirche hat diese Musik allerdings gar nichts zu tun. Die Songs sind modern und eingängig, und innert kürzester Zeit fühlt sich der Mehrzweckraum an wie ein Pop-Konzert. Man tanzt und singt und preist Gottes Liebe parallel auf Englisch und Schweizerdeutsch – jeder so, wie es gerade passt. Die Texte sind massgeschneidert für beide Sprachen.
Die eigens für die Gottesdienste geschriebene Musik, die es vor allem in den USA und Australien immer wieder bis in die Charts schafft, ist ein wichtiges Merkmal von Hillsong. Die Pfingstkirche wurde 1983 in Sydney gegründete und feiert mittlerweile einen Welterfolg. Nach eigenen Angaben hat die selbsternannte Megachurch international Hunderttausende Mitglieder und verdient an deren Spenden Millionen. In Ländern wie den USA, wo man keine Landeskirchen kennt, sondern alle Kirchen privatisiert sind, gilt Hillsong als eine von vielen Kirchen.
In der Schweiz zählt Hillsong zu den Freikirchen. Ihre Mitglieder sind, wie bei vielen erfolgreichen Freikirchen, zu denen etwa auch ICF (kurz für International Christian Fellowship) gehört, jung, modern und international. Damit unterscheiden sie sich in ihrem Auftreten stark von verstaubteren Gemeinschaften, wie etwa dem Brüderverein. Doch auch hier baut man vor allem auf das, was einst auch Pascal überzeugt hat: das Gemeinschaftsgefühl.
«Seid mutig», ruft eine der Rednerinnen auf der Bühne ihrem Publikum zu. Wer spüre, dass etwas zwischen ihm und dem Glauben an Jesus stehe, solle die Hand hochhalten. Die Umstehenden legen ihre Hände auf die Schultern der Suchenden. Aus kurzen Berührungen werden lange Umarmungen. Aus einzelnen Personen Knäuel und Kreise von vielen Menschen, die sich gegenseitig die Arme um die Schultern legen.
Mittendrin steht der Neuankömmling, der am Morgen beim Eingang so verloren aussah. Eben noch allein, stützt er sich nun auf einen jungen Mann, der ihn umarmt. Plötzlich laufen Tränen über seine Wangen. Er hat diesen Moment, diese Berührung, dieses Gefühl, dazuzugehören, gebraucht. Und mit der Berührung kommt auch ein Versprechen: Dieses Gefühl der Zugehörigkeit kannst du immer haben – komm einfach wieder. Und bring etwas mit.
Freikirche oder Sekte?
Zwischen Freikirchen und Gruppen mit sektenhaften Zügen zu unterscheiden, ist nicht immer einfach. Darum existieren auch kaum gesicherte Daten. Die evangelische Informationsstelle Relinfo zählt hierzulande rund 1200 unterschiedliche Gemeinschaften, von denen etwa ein Viertel über die typischen Merkmale problematischer Gemeinschaften verfügt. Wie viele Gemeinschaften darüber hinaus existierten, sei nicht eruierbar.
Die Bezeichnung Freikirche meint eine christliche Glaubensgemeinschaft, die keiner offiziellen Landeskirche angehört. Der Begriff «Sekte» dagegen wurde historisch stets abwertend benutzt. Heute meint eine Sekte eine religiöse Gruppierung, die gegen ein oder mehrere Grundrechte verstösst. Sie verbieten ihren Mitgliedern beispielsweise die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit. Die Übergänge von einer Freikirche zu einer Sekte können fliessend sein. «Es gibt viele religiöse Gruppierungen mit mehr oder weniger sektenhaften Zügen», sagt Religionswissenschafter Rossi.
Rossi weiss nicht nur in der Theorie, wovon er spricht. Er war selbst zehn Jahre lang, von 14 bis 24 Jahren, Mitglied bei den Zeugen Jehovas. Auch ihn faszinierten die klaren Antworten auf seine grossen Fragen. Und die Prophezeiungen der Zeugen Jehovas. Eine der ältesten besagt, dass im Jahr 1914 Harmagedon, der Tag des Jüngsten Gerichts, hätte eintreten sollen. Anstelle der Apokalypse brach der Erste Weltkrieg aus. Das leitende Gremium der Sekte deutete die Apokalypse um, 1914 war nun der Beginn des Königreichs Jesu im Himmel – und das Jahr der Vertreibung Satans in die Nähe der Erde. Kein Wunder, brach augenblicklich ein Weltkrieg aus. Rossi fand, ein Weltkrieg käme einem Weltuntergang doch sehr nah – und war beeindruckt.
Neben dem bis heute immer wieder verschobenen Ende der Welt machte das leitende Gremium auch weniger gewichtige Vorhersagen, die nicht eintrafen. In den eigenen Schriften wurden sie teilweise heimlich angepasst oder entfernt. Irgendwann fühlte sich Rossi manipuliert und stieg schliesslich aus. «Draussen» wartete seine Familie auf ihn. Rossi studierte Religionswissenschaften, Psychologie und Bibelwissenschaft – «vielleicht auch ein bisschen, um mich selbst zu therapieren», sagt er.
Für eine Handvoll Geld und Zeit
Im Zürcher Gottesdienst liest Pastorin Elli, jung und gekleidet, als sei sie einer Zalando-Werbung entsprungen, ihre Predigt vom Smartphone ab. Es geht um eine arme Witwe, die Jesus zwei Münzen spendet, während reiche Männer mit Händen voller Gold ankommen. «Aber», sagt Jesus, «sie gab mehr als ihr alle – weil sie kaum etwas hat und von dem wenigen etwas für mich entbehrte.»
Bald darauf geht ein Spendenbecher herum, und auf der Leinwand hinter der Bühne wird ein QR-Code eingeblendet, um digital zu bezahlen. Elli weist auf die Couverts hin, die zu Beginn auf allen Stühlen lagen. Wer den Flyer umdreht, liest nicht mehr «Werde Teil unserer Kirche», sondern in Grossbuchstaben «Giving, Giving, Giving» – «Geben, Geben, Geben», denn «die Stärke von Hillsong liegt in der Grosszügigkeit und Hingabe seiner Mitglieder».
Mittels Couvert kann eine Bargeldspende entrichtet oder gleich ein Dauerauftrag eingerichtet werden. Auf der Bühne betont die Pastorin Elli nochmals, dass es egal sei, wie viel oder wie wenig man gebe – wichtig sei einzig, dass man etwas gebe. Denn mit einer Spende an Hillsong ehre man direkt Gott.
Später wird der QR-Code zum Einzahlen der Spende vom Programm der kommenden Woche ersetzt. «Fotografiert euch das doch», sagt jemand aus dem Worship-Team ins Mikrofon, «diese gemeinsamen Events sind wichtig für unsere Kirche.» Er sagt es mit Nachdruck und mit einem Unterton, der deutlich macht, dass es sich hier nicht nur um ein Angebot handelt. Geben soll man nicht nur Geld, auch Zeit wird erwartet.
Angst und Eifer
Pascal war Ende dreissig, als er seine «zweite Episode» hatte. Erneut fühlte er sich verloren in der Welt, erneut suchte er den Sinn im Leben, und erneut war es eine Freikirche, von der er sich Halt und Antworten versprach. Doch nun war er kein junger Student mehr, sondern Ehemann und Vater.
Die neue Freikirche, deren Name Pascal ebenfalls nicht nennen möchte, verlangte von ihren Mitgliedern, auch die Partner zu rekrutieren. Dass seine Frau nicht wollte, habe in der Gemeinschaft zu Spannungen geführt. Dass die Situation auch für sie und das Kind schwierig gewesen sei, sei ihm erst später klargeworden. «Die Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse von denen, die nicht in der Gruppe sind, ist sehr gering», sagt er.
Erst unmerklich, aber stetig stärker wurde die Angst zu einem wichtigen Faktor, der Pascal an seine Gemeinschaft band. «Ich hatte starke Schuldgefühle, weil ich den gepredigten, strengen Massstäben nicht ganz entsprochen habe. Das hat mich sehr belastet, denn es war doch Gottes Massstab», sagt Pascal. Reichten sein Glaube und Engagement, um in den Himmel zu kommen?
Obwohl – oder vielleicht gerade weil – seine Frau den Beitritt ablehnte, engagierte sich Pascal umso mehr in der Gemeinschaft. Schriften mussten gelesen, Zusammenkünfte besucht und Gottesdienste mitgestaltet werden. Zudem übernahm Pascal zahlreiche «Ämtli», durfte schliesslich sogar predigen und lehren. Erneut diese Anerkennung – das tat gut. Sie entschädigte Pascal auch dafür, dass er einen Grossteil der Kindheit seines Sohnes verpasste. Seine Zeit gehörte Gott.
Und doch blieb das Gefühl, dem Allmächtigen nicht ganz zu genügen. «Ich habe mich Gott gegenüber immer schuldiger gefühlt. Aber je mehr Energie ich in die Gruppe gesteckt habe, umso klarer wurde mir, dass ich nicht alles perfekt machen kann.» Der Druck nimmt zu, Pascal hält es kaum noch aus. Schliesslich geht es nicht mehr. Diagnose: Depression.
Zum ersten Mal beschäftigte Pascal nun eine Frage, auf die seine Gemeinschaft keine Antwort hatte: Wenn unser Gott ein guter, liebender Gott ist – warum fordert er von mir Aufopferung bis zur Erschöpfung? Pascal fand zwei Antworten. Entweder ist dieser Gott, an den er glaubt, kein guter Gott. Oder das, was seine Gemeinschaft predigt, ist gar nicht Gottes Wille.
Wenige Wochen nach dieser Erkenntnis stieg Pascal aus. Sechs Jahre ist das nun her. Statt die Ämtli seiner Kirche zu erledigen, verbringt Pascal seine Zeit nun mit dem mittlerweile 14-jährigen Sohn und seiner Frau. Und mit neuen Menschen, deren Freundschaft nicht vom regelmässigen Gebet und dem unbezahlten Engagement für die Gemeinde abhängt.
Zeichen und Wunder
An der Hohlstrasse in Zürich spielt noch immer Musik. Auf der Leinwand hinter der Bühne werden zwei Listen eingeblendet: Soll und Haben, einfache Buchhaltung. Links Dinge, die die Hillsong-Mitglieder sich in ihrem Leben wünschen, Wunder, für die sie beten. Rechts bereits erfüllte Wünsche, für die sie dankbar sind.
«Schaut nur, da wünscht sich jemand Gesundheit!» Die Rednerin auf der Bühne zeigt auf die linke Spalte. «Und da dankt jemand für Gesundheit!» Sie deutet auf die rechte Spalte. Zwei voneinander ganz und gar unabhängige Stichworte werden als Beleg für Gottes Macht beklatscht. Danach beten die Gläubigen. Nicht still und leise für sich, sondern als Gemeinschaft. Manche murmeln, andere wippen im Takt, recken die Hände in die Luft. Etwas Fiebriges liegt plötzlich in der Luft. Etwas Drängendes, Forderndes.
Einen grossen Wunsch hatte auch die Familie von Karin. Nicht weniger als ein Wunder erhoffte man sich von Gott: Karins ältere Schwester hatte das Down-Syndrom. Als sie zur Welt kam, waren die Eltern überfordert. Es waren die achtziger Jahre, kein Ultraschall hatte sie auf das behinderte Kind vorbereitet. Die Ärzte sprachen von Vernetzung mit anderen Betroffenen und medizinischer Unterstützung. Keiner sprach von Heilung.
Auch Karin heisst eigentlich anders. Wie Pascal möchte auch sie anonym bleiben. Karins Geschichte beginnt mit der Mutlosigkeit ihrer Mutter: Gläubig war diese schon lange, seit der Geburt der behinderten Tochter war sie auch verzweifelt. Da hörte sie von der Revival-Fellowship, wie Hillsong eine in Australien gegründete Pfingstkirche, die auch Gemeinden in der Schweiz und in Deutschland hat, wo Karins Familie lebt. Diese Kirche sei ein Ort, so sagte man ihr, an dem Wunder passieren könnten. Warum nicht auch eines für ihre Tochter?
Ein neuer Fokus
Freunde und Nachbarn hatten sich zurückgezogen, man wusste nicht, wie mit dem behinderten Kind und der Verzweiflung der Mutter umzugehen war. Bei Revival-Fellowship dagegen wurde zusammen mit den Eltern für das Kind gebetet. Das führte zwar nicht dazu, dass das überflüssige 21. Chromosom verschwand, es heilte die Familie dennoch.
Der Fokus verschob sich, die Familie bekam ein gemeinsames Ziel. Nicht mehr die Heilung der behinderten Tochter war wichtig, sondern die Vorbereitung auf die Rückkehr Jesu. Dafür wurde gebetet und missioniert. Gleichzeitig blieb die Familie erstaunlich liberal.
Karin und ihr Bruder durften weiterhin Freundschaften zu Nichtmitgliedern pflegen, obwohl Revival-Fellowship das eigentlich nur zu Missionszwecken erlaubte. Auch die absolute Alkoholabstinenz setzten die Eltern nicht um, weil es nirgendwo in der Bibel explizit verlangt wird. Daheim am Küchentisch wurden Bibel und Gemeinschaft auch einmal kritisch diskutiert. Das verschaffte der Familie einen rebellischen Ruf innerhalb der Kirche.
Karin, beim Eintritt in die Sekte acht Jahre alt, besuchte das Gymnasium, machte Abitur. So anders als eine Kindheit ausserhalb der Kirche sei ihre gar nicht gewesen, sagt Karin heute. Erst als Teenager spürte sie die Regeln deutlicher. Sich in jemanden verlieben, der nicht zur Kirche gehört: geht nicht. Sex vor der Ehe: verboten.
Gibt es Gott gar nicht?
Als Karin Mitte zwanzig war, wechselte sie die Gemeinde, zog von Deutschland in die Schweiz. Erhofft hatte sie sich davon mehr Freiheit, mehr Mitsprache in der noch jungen Berner Gemeinde. Stattdessen fehlten hier der kritische Geist und das freie Diskutieren am heimischen Küchentisch. Karin war unglücklich, aber sie wollte durchhalten.
Dann ging alles Schlag auf Schlag.
Ihre beste Freundin starb an Krebs, der Bruder erkrankte an einer schweren Depression. Zwei Jahre später starb Karins Vater, ein Jahr darauf die grosse Schwester. In der Gemeinde aber hiess es weiterhin: Beten, dann wird alles gut. «Aber ich habe doch gesehen, dass das nicht stimmt», sagt Karin. Je mehr Fragen sie stellte, umso weniger Antworten bekam sie.
Der Schweizer Gemeindeleiter sagte: «Wenn diese Leute nicht geheilt werden konnten, dann war der Glaube nicht stark genug.» Karin dachte: «Entweder kümmert Gott sich nicht – oder es gibt ihn gar nicht.» Die Frau des Gemeindeleiters sagte, wichtig sei doch das Leben nach dem Tod, jenes bei Gott, nicht das auf Erden. Karin sah das anders: «Ich wollte leben, bevor es zu spät ist.» Sie wollte nicht mehr ihre gesamte Zeit der Revival-Fellowship schenken, verpasste Versammlungen, begann sich zu lösen.
Die Gemeinde reagierte mit Isolation. «Es wurde mir wortwörtlich gesagt, ich sei ein schlechter Einfluss.» Eine Bedrohung für die Einigkeit der Gemeinde. Manchmal kam Karin der Gedanke, dass ihre Gemeinschaft vielleicht sektenhafte Züge haben könnte. Doch sie schob ihn weg. Denn: Wenn das so wäre, dann müsste sie doch austreten. Und was dann? Wieder bei null anfangen. Sie erinnerte sich doch kaum mehr an das Leben vor der Kirche.
Wichtig ist, worüber nicht gesprochen wird
Sechs Jahre ist es nun her, dass Karin es wagte, wieder bei null anzufangen. «Ich glaube an keinen Gott mehr», sagt sie heute, «ich will damit bitte verschont bleiben bis ans Ende meiner Tage.» Dennoch wolle sie nicht alle Glaubensgemeinschaften verteufeln.
«Für meine Mutter war und ist es ein Zufluchtsort», sagt sie. Auch wenn es schmerzhaft sei, dass die Mutter nicht zusammen mit ihr ausgestiegen ist. Karin lebt in der Schweiz, die Mutter in Deutschland. Ein- bis zweimal im Jahr treffen sie sich. Wichtig ist dann vor allem, worüber nicht gesprochen wird. Nur mit vielen Auslassungen ist es möglich, die Beziehung aufrechtzuerhalten.
Eine Art Familie hat Karin bei ihren neuen Freunden gefunden. Auch im Job laufe es gut. Nichts davon habe sie durch Beten bekommen. Was noch fehle, sei eine Liebesbeziehung, sagt sie. Aber auch dafür wird Karin nicht die Hände falten, sondern die Augen offen halten.
Geld und Gewissen
Mitglieder von Freikirchen sagen oft, es beruhe doch alles auf Freiwilligkeit. Man mache mit, weil es schön sei. Gut tue. Wo ist das Problem?
Auch Vereine fordern Mitgliederbeiträge. Doch sie machen davon nicht das Seelenheil ihrer Mitglieder abhängig. Sie verhindern einen Austritt aus dem Verein nicht mittels gezielt gestreuter Angst. Auch Freundschaften beanspruchen Zeit, aber sie bringen Freude, keinen Druck. Gruppierungen mit mehr oder weniger sektenhaften Zügen kehren eine fröhliche Seite nach aussen. Doch die gepriesene Gemeinschaft fusst oft genug auf emotionalem Druck. Auf finanziellen und zeitlichen Erwartungen, die sich fast unmerklich intensivieren, bis sie zum Zwang werden. Bis kein Platz mehr bleibt für ein freies Leben.
In Zürich ist der Gottesdienst zu Ende. Die Kaffeemaschine wird wieder in Betrieb genommen, die Gespräche verweben sich mit der Musik zu einem angenehmen Summen. Die Ersten setzen sich draussen auf die Sofas. Die Spenden-Couverts haben sie eingepackt. Wer alleine zum Gottesdienst kam, ist jetzt umgeben von Menschen.
«Gehst Du schon?», fragt ein junger Mann und schaut traurig zu der Frau, die gerade ihren Mantel nimmt. «Wie schade», sagt er. Es klingt ehrlich. Dann kehrt das Lächeln zurück: «Aber du kommst ja bestimmt wieder.»