Viele Schweizer Mittelstandsfamilien ächzen unter den hohen Krankenkassenprämien. Der Ausbau der Prämienverbilligungen ist naheliegend, aber trügerisch. Um den Mittelstand wirklich zu entlasten, muss das Problem der Mengenausweitung angepackt werden.
Das Gesundheitswesen steht unter Druck: Krankenkassenprämien sind gemäss Umfragen die grösste Sorge der Schweizer Bevölkerung, Spitäler kämpfen ums Überleben, und bisherige Bemühungen, die Kosten effektiv zu senken, waren erfolglos. Eine Entlastung ist nicht in Sicht. Alles deutet darauf hin, dass die Gesundheitskosten, und damit auch die Krankenkassenprämien, weiter steigen werden. Da ist es naheliegend, über eine Ausweitung der individuellen Prämienverbilligungen nachzudenken. Damit wird das Problem jedoch nicht gelöst, sondern gar verschärft. Warum?
Anamnese des Patienten
Wie bei jeder seriösen Therapieempfehlung braucht es zuerst eine Bestandsaufnahme. Zwei gute Nachrichten vorweg: Erstens ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung in der Schweiz gesichert. Nur knapp 3 Prozent der Bevölkerung verzichten aus finanziellen Gründen auf notwendige medizinische Leistungen. Der grösste Teil davon entfällt auf zahnärztliche Leistungen, die nicht durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) gedeckt sind. Bei den rein ärztlichen Leistungen sind es gerade einmal 0,5 Prozent der Bevölkerung. Das ist im internationalen Vergleich ein sehr tiefer Wert.
Zweitens ist das Schweizer Gesundheitswesen solidarisch ausgestaltet. Die Swiss Inequality Database Health misst, basierend auf Krankenversicherungsdaten und Steuerstatistiken, die gesamte Umverteilung im Bereich der OKP. Diese Gesamtbetrachtung zeigt, dass das einkommensstärkste Viertel der Schweizerinnen und Schweizer einen Umverteilungsbeitrag in der Höhe von rund einer Jahresprämie pro Kopf leistet, indem sie weniger Leistungen beziehen oder mehr zu deren Finanzierung beitragen als der Durchschnitt.
Das Problem sind die Kosten, nicht die Verteilung
Doch: Wie ist es um die finanzielle Belastung von Herrn und Frau Schweizer durch die Krankenkassenprämien bestellt? Das wird regelmässig durch das Prämienverbilligungsmonitoring des Bundesamts für Gesundheit ermittelt. Bei einer Familie mit zwei Kindern mit Medianeinkommen macht die verbleibende mittlere Prämie – nach Abzug der individuellen Prämienverbilligungen – 11 Prozent des verfügbaren Einkommens aus. Ihre relative Belastung unterscheidet sich kaum von der einer Familie im untersten Viertel der Einkommensverteilung, da aktuell etwas mehr als jeder vierte Versicherte Prämienverbilligungen bezieht. Deutliche Unterschiede gibt es hingegen zwischen den Kantonen. Im Kanton Neuenburg ist die verbleibende Belastung der niedrigsten Einkommen mehr als viermal so hoch wie im Kanton Zug.
Die umfassende Untersuchung liefert folgenden Befund: Die Vitalwerte sind stabil. Der Zugang ist gewährleistet, die Solidarität intakt. Aber der Patient leidet unter den hohen Kosten. Die Prämienlast der Haushalte bis zum Median ist hoch und hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Die Diagnose: Kosten- statt Verteilungsproblem.
Therapie statt Schmerzmittel
Die Prämienentlastungsinitiative der SP bietet vor diesem Hintergrund bloss einen vermeintlichen Therapievorschlag. Die Versicherten sollen höchstens 10 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die Prämien aufwenden. Die Ausgaben für die Prämienverbilligungen sollen dabei zu zwei Dritteln vom Bund und zu einem Drittel von den Kantonen übernommen werden. Doch dabei handelt es sich lediglich um ein Schmerzmittel, das im Medikamentenkasten bleiben sollte.
Denn erstens bleibt die Wirkung für den Patienten namens Mittelstand unklar. Dies deshalb, weil der Mittelstand via Steuern die zusätzlichen Prämienverbilligungen mitfinanziert, was die Entlastungswirkung selbstredend reduziert. Das Schmerzmittel vermag die Symptome der finanziellen Last höchstens temporär zu lindern.
Zweitens fallen dadurch beim Bund über 3,5 Milliarden Franken an – Tendenz steigend. Dies ist nicht nur problematisch, weil der Bundeshaushalt ohnehin bereits strapaziert ist und das Gesundheitswesen in die Kantonskompetenz fällt. Es ergibt nämlich ausgerechnet in jenen Kantonen eine deutliche Lastenverschiebung hin zum Bund, die überdurchschnittlich hohe Gesundheitskosten aufweisen. Und damit wird durch die Prämienentlastungsinitiative die Wahrscheinlichkeit einer wirksamen Therapie verringert; das Schmerzmittel wird zum Betäubungsmittel. Die Kantone verspüren nicht ausreichend Druck, um die eigentliche Kostenkrankheit zu kurieren. Damit verschlimmert sie sich unbemerkt.
Die Ursachen der Kostenkrankheit sind längst bekannt. Ein wichtiger Faktor sind angebots- und nachfrageseitige Mengenausweitungen: Es kommt zu Überbehandlungen, die Ansprüche der Patienten steigen, der Leistungskatalog wächst, die Koordination zwischen den Leistungserbringern ist verbesserungswürdig. Was benötigt wird, ist eine effektive Therapie dieser ineffizienten Ausweitungen. Der Mittelstand leidet nicht unter mangelnder Solidarität. Er leidet darunter, dass die Prämien ein immer grösseres Loch in sein Portemonnaie reissen. Zu kurieren gilt es also die Kostenkrankheit. Nur so kann der Mittelstand wirklich genesen.
Melanie Häner leitet den Bereich Sozialpolitik am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.
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