Der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) benennt klar die deutschen Baustellen: Digitalisierungsdefizit, aberwitzige Bürokratie, Bürger mit Vollkasko-Mentalität und eine SPD, die nicht auf die Sorgen der Mehrheit achtet. Deutschland müsse nun schnell den Aufbruch schaffen – dabei sei das Land besser als sein Ruf.
Herr Steinbrück, Ende Februar war die Bundestagswahl, nun steht die neue Regierung, kommende Woche wird Friedrich Merz wohl zum Kanzler gewählt – ist das der Aufbruch für Deutschland?
Diese Entwicklung allein ist noch kein Aufbruch. Aber es gibt berechtigten Grund zur Annahme, dass sich die neue Regierung des drängenden Handlungsbedarfs aus internen Versäumnissen der letzten Jahre und eines externen Drucks aus globalen Veränderungen sehr bewusst ist. Und zwar ohne schuldhaftes Zögern. Wenn die neue Bundesregierung das Vertrauen in die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit nicht wieder stärken kann, dann werden die nächsten Bundestagswahlen zu einer Nagelprobe für die deutsche Demokratie.
Im Klartext: Dann schneidet die AfD noch besser ab?
Richtig. Wir befinden uns zweifellos in einer Zeitenwende. Die zwingt die Politik zu entsprechenden Konsequenzen, was unsere Verteidigungsfähigkeit, unsere wirtschaftlichen und technologischen Fähigkeiten, die Gewährleistung des gesellschaftlichen Zusammenhalts mit einer geordneten Migration und eine ebenso effiziente wie bürgerfreundliche Verwaltung betrifft. Gelingt das nicht, dann werden tragende Institutionen unserer Demokratie infrage gestellt – zugunsten derjenigen, die daraus Funken schlagen. Das ist die AfD.
Wie kann sich Deutschland reparieren, Peer Steinbrück?
Sie sind Mitbegründer der Initiative für einen handlungsfähigen Staat. Sie setzen sich darin unter anderem für Bürokratieabbau, eine neue Sicherheitsarchitektur und Digitalisierung ein. Wird das neue Bundesministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung diese Ziele umsetzen können?
Das wird sich zeigen. Deutschland hinkt in der Digitalisierung hinterher – schon im europäischen Vergleich, wenn man insbesondere die skandinavischen oder die baltischen Länder betrachtet. Unsere Verwaltung ist reformbedürftig. Jeder Bürger, der Anträge stellt oder auf Termine wartet, weiss genau, wovon ich rede. Deswegen braucht es dringend ein solches Ministerium, das über entsprechende Kompetenzen und den entsprechenden Durchgriff verfügen muss. Das hätte schon vor Jahren passieren müssen.
Was aber nicht passiert ist. Bislang hat sich Deutschland nicht als besonders innovationsfähig erwiesen.
Das stimmt nicht. Einerseits sind wir aufgrund des Problemdrucks nun gezwungen, diese Fähigkeit zur Geltung zu bringen. Andererseits haben wir schon ein paar Mal bewiesen, dass wir zu solchen Anstrengungen in der Lage sind: die Wiedervereinigung, trotz einigen Fehlentwicklungen, die Agenda 2010, die Bewältigung der Finanzmarktkrise, die Bewältigung der Corona-Pandemie, die besser gelang als in anderen Ländern, die schnellen Lösungen für Energieengpässe nach Russlands Angriff auf die Ukraine. Deutschland ist nach wie vor die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt. Wir haben unzweifelhaft einige Defizite auszuräumen, aber ich vermute einmal, dass über 95 Prozent aller Länder lieber unsere Probleme statt die ihrigen haben würden. Was der Politik gefehlt hat, war Reformbereitschaft gepaart mit Konfliktfähigkeit und Durchsetzungswillen. Fortschritte bei der Digitalisierung und dem Bürokratieabbau gelingen einer Regierung mit einem Bundeskanzler an der Spitze, der signalisiert: Wir wollen das nachweislich umsetzen.
Und Sie glauben, dass der neue Kanzler Friedrich Merz so ein Antreiber sein kann?
Auch Heiratsschwindler glauben an die Liebe. Bei unserer Initiative für einen handlungsfähigen Staat war in den Gesprächen mit Herrn Merz und den Verhandlungsdelegationen von Union und SPD sowie einigen Ministerpräsidenten der Länder zu spüren, dass der Wille dazu vorhanden ist. Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Das ist politisches Handwerk.
Braucht Deutschland ähnlich radikale Schritte wie in den USA, wo es eine Behörde für die Effektivität der Regierung gibt?
Nein. Was Präsident Trump und Elon Musk wollen, läuft auf eine Abschaffung des Staates hinaus. Wir wollen einen starken, einen effizienten, einen digitalen und einen bürgerfreundlichen Staat. Es geht nicht darum, den Staat abzuschaffen oder zu schwächen, sondern ihn handlungsfähig zu machen.
Aber was genau macht denn einen handlungsfähigen Staat aus?
Im Englischen gibt es dafür den Begriff der «good governance» – schwer zu übersetzen. Gewiss gehören dazu politische Lösungskompetenz, eine gute Verwaltung, transparente Verfahren und Rechtssicherheit. Dabei sollte der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern mit einem Vertrauensvorschuss begegnen und nicht mit einem Misstrauen, das sich in diversen Dokumentations-, Nachweis- und Berichtspflichten ausdrückt.
In Deutschland kann man den Eindruck bekommen, dass die Bürger eher eine komplizierte Beziehung zu ihrem Staat haben. Sie wollen, dass der Staat alles regelt und ihnen sagt, wie sie es machen sollen . . .
. . . um sich anschliessend darüber zu beschweren. Das ist in der Tat verbreitet und paradox. Einerseits wird über einen paternalistischen und übergriffigen Staat geklagt. Andererseits ist eine Vollkasko-Mentalität festzustellen, nach der der Staat gefälligst gegen alle Risiken abzusichern hat. Das kostet aber und begründet Auflagen, Standards, Genehmigungsverfahren, Kontrollen usw. – also eine aberwitzige Bürokratie. Der Staat ist kein Lieferservice, und die Bürger sind Träger des Staates mit einer Eigenverantwortung. Wer in Not gerät oder Unterstützung braucht, soll die Solidarität des Sozialstaates erfahren. Er soll dann aber auch mit eigenen Anstrengungen im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür sorgen, die Solidargemeinschaft wieder zu entlasten.
Ihre Partei, die SPD, ist seit 2013 durchgängig in Regierungsverantwortung. Was hat die Partei falsch gemacht?
Die SPD hat mit den gesellschaftlichen Veränderungen und globalen Verschiebungen nicht ausreichend Schritt gehalten. Willy Brandt sprach davon, dass die SPD auf der Höhe der Zeit sein müsse und dass diese immer nach eigenen Lösungen verlange. Sie hat meines Erachtens nicht selten aus dem Blick verloren, was politisch wichtig und was weniger wichtig ist. Man kann über ein Cannabis-Gesetz reden, man kann über das Namensrecht debattieren, man kann sich auch für die Selbstbestimmung hinsichtlich des Geschlechtseintrages einsetzen, aber die Schaffung bezahlbaren Wohnraumes oder die Förderung der schulischen Ausbildung bis hin zur Ausstattung der Schulen hätte erkennbar eine höhere Priorität verdient. Aus der Addition legitimer Minderheitsinteressen gewinnt man keine parlamentarischen Mehrheiten. Im Zentrum müssen die Sorgen und Anliegen der Mehrheit der Bevölkerung stehen, derjenigen, die täglich zur Arbeit fahren, die ihre Steuern und Sozialversicherungsabgaben zahlen und ihren Kindern eine gute Ausbildung geben wollen.
Das heisst, die SPD ist mit verantwortlich für den Aufstieg der AfD?
Ein merkwürdiger Kurzschluss! Wenn es in der deutschen Geschichte eine Partei gibt, die sich unter massiven Opfern durchgängig gegen Nationalismus, Rassismus und Totalitarismus gewandt hat, dann die SPD. Inwieweit alle Parteien des demokratischen Zentrums ein politisches Vakuum haben entstehen lassen, in dem sich die AfD mit ihren Ressentiments hat ausbreiten können, ist allerdings eine legitime Frage. Die Probleme Deutschlands sind jedenfalls nicht einseitig auf die knapp vier Jahre der Ampelkoalition zurückzuführen, sondern auf Unterlassungen und Versäumnisse der vergangenen zehn bis zwölf Jahre.
Am Mittwoch hat Ihre Partei dem Koalitionsvertrag zugestimmt. Nun werden noch die Ämter verteilt. Bekommt die Co-Parteivorsitzende Saskia Esken ein Ministeramt? Die Partei geht ja immer wieder recht hart mit ihr ins Gericht.
Ich bin kein Orakel, und es steht mir auch nicht zu, über das zukünftige Personal der SPD zu spekulieren.
Ist die SPD noch Ihre Partei?
Weil ich nicht immer den parteiverträglichen Kodex singe? Ich gebe zu, dass mich diese Frage, die mir gelegentlich gestellt wird, ärgert. Ich weiss ziemlich genau, weshalb ich in der SPD bin, und das seit über 55 Jahren.
Vielleicht zeigt die Frage auch, dass man sich wiederholt wundert, warum man noch in der SPD sein soll. Warum sind Sie es?
Können Sie sich eine Demokratie vorstellen, in der es keine Mitte-links-Partei im Parlament gibt, also ein wesentlicher Teil der Bürgerschaft keine politische Repräsentanz hätte? Was hiesse das für die gesellschaftliche Integration und Stabilität? Die SPD hat nicht nur historisch immer auf der richtigen Seite gestanden – anders als Parteien im konservativen und rechtslastigen Lager. Sie hat einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau und Erhalt einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet, für einen Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital gesorgt, das hohe Kulturgut des Sozialstaates geprägt, Aufstieg durch Bildung organisiert und die europäische Einigung unterstützt. Dessen unbenommen bin ich nicht blind gegenüber ihren Schwachstellen.
Zum Schluss unserer Debatte in unserem Podcast «NZZ Machtspiel» würde ich Ihnen noch die Chance geben, um Entschuldigung zu bitten.
Sie wollen mit mir jetzt nicht über mein Verhältnis zur Schweiz sprechen?
Doch, Sie haben sich 2009 in der Debatte um das Schweizer Bankgeheimnis einmal sehr weit aus dem Fenster gelehnt . . .
. . . damals ging es um das Geschäftsmodell von Schweizer Banken, die Staatsbürger anderer Länder vorsätzlich zum Steuerbetrug an ihrem Fiskus einzuladen. Das ging so weit, dass sie bereit waren, Koffer mit Geld über die Grenze zu tragen.
Das geht heute so nicht mehr.
Genau, das ist der Punkt, um den es mir damals ging. Da ist der deutsche Fiskus am laufenden Band geschädigt worden. Und dann habe ich diese Wirtschaftskriminalität aus der Ecke des Kavaliersdeliktes herausgeholt. Es passierte dann etwas, was immer wieder verwunderlich ist. Es wurde nicht der Missstand zum Thema gemacht, sondern es wurde derjenige zum Gegenstand von Empörung gemacht, der den Missstand beschrieb.
Sie haben ja auch recht drastische Worte benutzt. Sie sprachen damals von der siebten Kavallerie, mit der man drohen müsse.
Politik arbeitet gelegentlich mit Bildern. Da war ein Thema, das zuvor tabuisiert worden ist. Tatsächlich ging es um das grosse Thema Beihilfe zum Steuerbetrug und zur Steuerhinterziehung. Wenn man das angehen will, dann kommt man nicht umhin, etwas auf die Tonne zu hauen.
Was wiederum das Bild des lauten und polternden Deutschen in der eher zurückhaltenden Schweiz bedient.
Das ist mir völlig klar, aber das ändert nichts daran, dass ich aus einer deutschen Interessenlage argumentiert habe. Mir sind als Finanzminister Steuereinnahmen verlorengegangen, die ich für Kindergärten, für Bildung, für Universitäten, für Infrastruktur gerne gehabt hätte. Da fehlt mir der Humor.
Sehen Sie eine Chance auf Aussöhnung?
Ja, die gibt es längst, da sich die Schweiz dem internationalen Abkommen zum automatischen Informationsaustausch über ausländische Kontoinhaber angeschlossen hat. Dem zolle ich Respekt. Vor wenigen Monaten war ich auf einer Veranstaltung in Davos, und Wochen zuvor hatte ich in Zürich eine Rede gehalten. Das hat sich mittlerweile wieder entspannt.