Ihre Mutter Gisèle Pelicot wurde von Dutzenden Männern vergewaltigt – weil es ihr Vater so wollte. Im Interview erklärt Caroline Darian, weshalb die Geschichte auch nach der Verurteilung der Täter längst nicht vorbei ist.
Am Abend des 2. November 2020 erhält Caroline Darian einen Anruf von ihrer Mutter Gisèle. «Caro, dein Vater wurde heute Morgen in Polizeigewahrsam genommen», sagt sie, «er wird auch nicht wieder freikommen.» Caroline Darian erfährt, dass ihr Vater Dominique Pelicot ihre Mutter jahrelang mit chemischen Substanzen betäubt und in Internetforen angeboten hat – um sie von anderen Männern vergewaltigen zu lassen, in ihrer eigenen Wohnung in Mazan.
An jenem 2. November wird Darian aus einem scheinbar glücklichen Familienleben gerissen, sie erlebt einen Albtraum aus Wut, Ohnmacht, Schlaflosigkeit und Zusammenbrüchen. Bis heute quält sie die Frage, was ihr vermeintlich liebevoller Vater ihr selber angetan haben könnte. Sie hält es für wahrscheinlich, dass «dieser Perverse» ein Serientäter ist, vielleicht ein Mörder.
Ihre Erfahrungen hat Darian in zwei Büchern verarbeitet, mit anderen Frauen kämpft sie dafür, dass Opfer von «chemischer Unterwerfung» gehört werden und leichteren Zugang zur Justiz erhalten. Derzeit ist sie auf Leserreise in Deutschland.
Die NZZ trifft sie in einem Büro des Verlags Kiepenheuer & Witsch in Köln. Vor ihr liegt eine lange Liste mit Interviewterminen, leere Kaffeetassen und eine E-Zigarette deuten auf einen anstrengenden Tag hin. «Es ist ja für eine wichtige Sache», sagt sie.
Frau Darian, am 2. November 2020 wurde Ihr altes Leben zerstört, als Sie erfuhren, was Ihr Vater Ihrer Mutter angetan hat. Wie geht es Ihnen heute?
Ich versuche, dafür zu sorgen, dass es mir gutgeht. Aber es ist schwierig, weil die Geschichte nicht abgeschlossen ist, es ist nicht vorbei.
51 Täter sind kürzlich in Avignon verurteilt worden, Ihr Vater muss 20 Jahre ins Gefängnis. Sie haben nun ebenfalls eine Klage gegen ihn eingereicht, weil er sie mindestens zweimal betäubt, in aufreizender Pose fotografiert und möglicherweise missbraucht haben soll. Gibt es bald ein neues Verfahren?
Das muss die Staatsanwaltschaft entscheiden. Ich habe keine Beweise, ich habe nur diese beiden Fotos, auf denen ich auf einem Bett liege und schlafe. Sie sind jedoch sehr aussagekräftig. Man fotografiert nicht seine Tochter mitten in der Nacht auf diese Weise. Er hat auch andere Fotos von mir in Foren geteilt, mit abscheulichen Kommentaren. Das ist kein Vater, der von seiner Tochter spricht. Das ist ein Kranker.
In Ihrem neuen Buch «Pour que l’on se souvienne» zeigen Sie sich überzeugt, dass Ihr Vater ein Serienvergewaltiger ist und es weitere Opfer gibt.
Ich bin sicher, dass die Verbrechen von Mazan nur eine Fortsetzung einer langen Laufbahn waren. Dominique hat nicht 2011 angefangen (aus jenem Jahr stammen die ersten Beweise für den Missbrauch von Gisèle Pelicot, Red.). Es gibt diese beiden Angriffe auf junge Frauen von 1991 und 1999. Die erste wurde vergewaltigt und erwürgt, die zweite konnte knapp entkommen.
Der Täter hat beide Male versucht, die Frauen zu betäuben. Sie schreiben, Ihr Vater habe damals Äther im Haus gehabt, und als Elektriker führte er Kabel im Auto mit, mit denen er die Opfer hätte fesseln können.
Ja, im zweiten Fall von 1999 hat Dominique letztes Jahr zugegeben, dass er versucht habe, die Frau zu vergewaltigen. Er konnte nicht anders, weil man damals seine DNA sichergestellt hat. Er behauptet, er habe ihr nicht weh tun wollen, was völlig unglaubwürdig ist. Den Mord von 1991 streitet er ab, leider sind dort durch Schlampereien viele Beweismittel verschwunden. Details beim Tathergang erinnern allerdings beunruhigend an seine Vorgehensweise. Ich will wissen, was er alles getan hat.
Sie beschreiben Ihren Vater in Ihren Büchern als liebevoll, fürsorglich und humorvoll, ein Grossvater, der mit seinen Enkeln tanzt und Ihrer Mutter Liebeserklärungen macht. Wie konnte derselbe Mensch derartige Verbrechen begehen?
Er hat seine dunkle Seite verborgen, so dass sie nie sein Familienleben gekreuzt hat. Das Sozialleben, das er sich konstruiert hat, ermöglichte es ihm, seinen Perversionen freien Lauf zu lassen. Er konnte sie ausleben, indem er den tollen Grossvater spielte und den tollen Ehemann. Meine Mutter wurde schon 2000 von einer Freundin gewarnt, Dominique sei nicht der, für den er sich ausgebe. Er hatte ihr Avancen gemacht. Wir wissen schlicht nicht, wer er ist. Wenn man sieht, was er seiner eigenen Frau antun konnte, ist vieles möglich.
Ihr Vater hat Ihre Erinnerungen an ein glückliches Leben zerstört. Wäre es einfacher für Sie gewesen, wenn er gestorben wäre?
Wenn man entdeckt, dass man ein Familienmitglied nicht kennt, für das man viel Respekt hatte, dem man absolut vertraut hat, ist es schwierig, ein normales Leben zu führen. Mir wäre es lieber, er wäre bei einem Autounfall gestorben. Das wäre tragisch gewesen. Aber einfacher, als all das zu erfahren, was er gemacht hat. Und nicht zu wissen, was er sonst noch getan hat.
Der Prozess gegen Ihren Vater und die 50 Mitangeklagten hat international für enormes Aufsehen gesorgt. Vor dem Verfahren schrieben Sie, man werde hoffentlich erkennen, dass die «chemische Unterwerfung» ein weit verbreitetes Phänomen sei. Hat sich diese Hoffnung erfüllt?
Was in einem Gerichtssaal passiert, ändert nichts am System. Natürlich, es gab viel Aufmerksamkeit in den Medien, doch was ändert das grundlegend? Das wird lange dauern. Damit man die Opfer nicht vergisst, habe ich ein neues Buch geschrieben. Und deshalb habe ich «M’endors pas» gegründet, eine Bewegung, die darüber aufklärt, was das heisst: «chemische Unterwerfung». Diese Vorgehensweise wird viel häufiger angewandt, als wir denken. Das ist kein «fait divers», kein Einzelfall.
Die meisten Angeklagten kamen aus der Umgebung von Mazan. Einer Ihrer Anwälte hat vor Gericht die Frage gestellt: «Wie ist es möglich, dass man in Frankreich im Jahr 2024 über 50 Männer im Umkreis von 50 Kilometern findet, die bereit sind, den leblosen Körper einer Frau zu schänden?» Was ist Ihre Erklärung?
Es gibt offensichtlich viele Sexualverbrecher. Die Männer im Gerichtssaal waren Leute, die keine Sexualerziehung hatten, die allgemein keinen Respekt vor Frauen haben. Sie fühlten sich berechtigt, meine Mutter zu vergewaltigen, weil es ihnen Dominique erlaubt hatte. Und wir reden hier nicht nur von Männern aus der Generation meines Vaters. Es gab auch Junge und Leute, die in unserem Alter waren. Sie haben zum Teil überhaupt kein Schuldbewusstsein gezeigt, versuchten alle Verantwortung abzuschieben. Frappierend war auch, dass viele Angeklagte sagten, sie seien als Kinder missbraucht und misshandelt worden. Auch Dominique ist in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Das ist keine Entschuldigung, es stellt sich jedoch die Frage, wie Missbrauch und Gewalt reproduziert werden.
Die Vergewaltiger haben sich mit Ihrem Vater auf der Website coco.gg ausgetauscht, haben dort Bilder hochgeladen, über Betäubungsmethoden diskutiert und ihre Frauen zum Missbrauch angeboten. Die Seite blieb online, nachdem ihr Vater verhaftet worden war. Warum sind die Behörden nicht eingeschritten?
Sie ist viel zu spät abgeschaltet worden, nach einem Gerichtsbeschluss im Juni 2024. Dabei gab es 23 000 Beschwerden gegen diese Seite, allein in Frankreich! Sie wurde von vielen Sexualverbrechern genutzt, trotzdem wurde der Betreiber nicht strafrechtlich verfolgt. Seine Firma ist auf der Insel Guernsey angemeldet, vielleicht war es deshalb schwierig, gegen ihn vorzugehen.
Hat der Prozess Ihre Sicht auf Männer verändert?
Ich will nicht verallgemeinern, aber die Geschichte wirft die Frage auf, wie weit man den Leuten vertrauen kann. Ich habe meinem Vater 41 Jahre lang vertraut. Ich wusste nicht, dass er ein Sexualverbrecher ist. Man denkt viel mehr nach. Ich bin viel wachsamer als früher.
Derzeit steht in Frankreich ein Chirurg vor Gericht, der Hunderte Kinder vergewaltigt haben soll. Aus den Vorstädten gibt es Berichte über junge Männer, die Frauen als «Nutten» drangsalieren, wenn sie sich zu wenig verhüllen. Und Fernsehstars wie Patrick Poivre d’Arvor werden von zahlreichen Frauen beschuldigt, sie belästigt zu haben. Gibt es in Frankreich ein strukturelles Problem mit Sexismus und sexueller Gewalt?
Es hat immer existiert, nur reden wir jetzt mehr darüber. Leider leben wir in einer Gesellschaft, in der es viele schwer Perverse und Kranke gibt. Das berührt alle Bereiche der Gesellschaft, die Filmindustrie, die Medien, die Medizin. Es ist überall.
Was muss geschehen, damit sich das ändert?
Man muss den Kindern Respekt vor den anderen vermitteln, es braucht mehr Dialog in den Familien und in den Schulen. Schon ab der ersten Klasse, nicht erst im Gymnasium. Es gibt in unseren Schulen keinen systematisierten Sexualunterricht. An vielen katholischen Schulen gibt es das gar nicht, weil die Eltern dagegen sind. Es ist gut, dass man jetzt über die Probleme spricht und schaut, was man für die Opfer tun kann. Ihre medizinische Versorgung ist ungenügend. Gerade für Frauen, die Opfer von chemischer Unterwerfung wurden, ist es schwer, Zugang zu Untersuchungen zu finden. Man weiss nicht, wohin man gehen soll, an wen man sich wenden kann. Alles ist sehr teuer. Wer Klage erheben will, steht vor einem langen Hindernislauf, einem Leidensweg, wie wir ja selber erlebt haben.
Einige der Angeklagten haben gegrinst, als die Urteile verkündet wurden. Ist die Justiz zu milde mit Vergewaltigern?
Sicher ist, dass die Strafen in Frankreich generell nicht sehr schwer sind. Die meisten Angeklagten sind mit Strafen von unter zehn Jahren Gefängnis davongekommen. Für mich sind diese Strafen nicht exemplarisch, wenn man bedenkt, was meine Mutter durchgemacht hat. Und die meisten Täter werden wohl vorzeitig entlassen. Das ist die Justiz in Frankreich.
Sie schildern in Ihrem ersten Buch, Ihre Mutter habe lange an dem Glauben festgehalten, Dominique Pelicot sei trotz allem jener «super mec» gewesen, den sie geliebt habe. Sieht sie ihn immer noch so?
Sie hat sich ja von ihm scheiden lassen. Es gibt aber einen Teil ihres Lebens an der Seite von Dominique, den sie nicht anders sehen kann. Sie hat ihm blind vertraut, hat sich selber ignoriert, obwohl sie wegen der chemischen Substanzen Aussetzer und Gedächtnislücken hatte. Sie will nicht glauben, dass er sein ganzes Leben jemand anders war: ein Schwerkrimineller. Für uns Kinder gibt es da kaum Zweifel.
Caroline Darian: Und ich werde dich nie wieder Papa nennen. Aus dem Französischen von Michaela Messner und Grit Weirauch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 224 S., Fr. 33.90; Pour que l’on se souvienne. Editions JC Lattès, Paris 2025. 180 S., EUR 19.90.