Vor sechzig Jahren begann Peter Handke noch nicht 23-jährig seine schriftstellerische Karriere. «Das war gewaltig», sagt er im Gespräch. Heute sei er manchmal in seiner Kneipe unter lauter Alten der Älteste.
Eine halbe Stunde fährt man mit dem Vorortszug von Paris nach Chaville hinaus, wo Peter Handke seit 1990 wohnt. Seine Strasse ist stark befahren und etwas hässlich oder vielmehr hässlich geworden durch viele einfallslose Neubauten. Handkes Haus aber liegt verborgen und von der Strasse zurückversetzt. Man geht durch eine kleine geduckte Allee, dann öffnet sie sich auf ein Eingangstor – und da, mitten in einem lichten Garten, umgeben von Kastanien, steht das Haus. Eine Treppe führt hinauf zur Eingangstüre, unter der nun der Hausherr erscheint. Handke wirkt etwas zu klein für das keineswegs übergrosse Haus, vielleicht ist er auch im Alter klein geworden und das Haus grösser.
Er freut sich über den Besuch. Es kämen nicht mehr viele Leute, sagt er; er scheint es nicht nur zu bedauern. Er ist vielleicht kein Einsiedler geworden, aber eine Art Eremit im Museum der eigenen Träume. Schon hinter der Türe, wo die Treppe ansteigt zu Küche und Wohnzimmer, liegen auf fast allen Stufen stapelweise Bücher und Schuhe, alles von langem Gebrauch gezeichnet. Auch im Wohnzimmer türmen sich auf jeder Stellfläche, auf jedem Tischchen und Stuhl kleine Pyramiden von Büchern. Bücher von Handke in allen Sprachen, aber auch von Paul Valéry oder René Char. Keine ordentliche Bibliothek, nur überall gefährlich wankende Türmchen. Auf einer Ablage sieht man auch eine Anzahl seiner kleinen Notizhefte mit erstaunlich bunten Umschlägen. Klein genug müssen sie sein für die Hosentasche, gleichgültig hingegen scheint ihr Aussehen zu sein, nichts Gepflegtes jedenfalls.
Handke sammelt gerade Flechten, auf dem Wohnzimmerboden hat er sie zu einem blassgrünen Flickenteppich aneinandergefügt, als würden sie herauswachsen aus der Landschaft eines Gemäldes, das etwas achtlos gegen die Wand gelehnt wurde. Das sei ein echter Camille Corot, sagt Handke, er habe unweit von Chaville gelebt, gleich hinter dem nächsten Hügel. In der Küche liegen Schalen herum mit Flechten drin: Er drückt seinen Handrücken hinein, es helfe gegen die Gicht.
Das Haus ist eine Wunderkammer voller Fundstücke: Auf dem Esstisch findet sich ein klitzekleiner Zeitungsausschnitt, darauf eine Reproduktion von Francisco de Zurbarans Bild «Agnus Dei» mit dem liegenden Lamm, dessen Vorder- und Hinterläufe gefesselt sind. Im Treppenhaus hinauf zur zweiten Etage stehen in jeder Ecke lange Stecken. Man glaubt im Haus eines Kindes zu sein, das von jedem Gang hinaus etwas nach Hause trägt, von dem es glaubt, man könne es nur so der Vergänglichkeit entreissen. Handke führt mich hinauf in sein Malzimmer, von wo er auf die Allee blicken kann, es ist wie eine Mönchszelle. Und er geleitet mich die engen Stufen hinunter ins Gartenzimmer, «nicht stürzen», sagt er, wo er die «Odyssee» auf Griechisch liest. Das Buch liegt aufgeschlagen da, als hätte er gerade erst noch darin gelesen. Ich möge mich setzen, damit ich sähe, wie er hier Buch und Garten vor sich habe.
Für unser Gespräch fahren wir die kurze Strecke nach Versailles, wo er in einem kleinen Restaurant einen Tisch bestellt hat. Bevor wir das Haus verlassen, reicht er mir drei getrocknete Kastanien aus dem Garten, die er geschält hat. Ich könne sie kochen, sagt er. Es gibt keinen besonderen Anlass zu unserem Treffen – ausser einem, der ihn selber fast am meisten erstaunt.
Peter Handke, herzlichen Glückwunsch. Sie begehen dieses Jahr Ihr sechzigstes Dienstaltersjubiläum. Grund zum Feiern?
Ich habe nichts zu schaffen damit. Machen Sie bloss nichts daraus.
Sie waren 23 Jahre alt und studierten Jurisprudenz an der Universität Graz, als der Suhrkamp-Verlag im Sommer 1965 das Manuskript Ihres Debüts «Die Hornissen» zur Publikation annahm. Sie gaben sogleich das Studium auf und sind seither freier Schriftsteller. Was hatten Sie sich damals gedacht?
Ich war noch nicht ganz 23! Ich sage immer, es sei in meinem 23. Jahr gewesen. Und ich sage es noch heute, ich stehe in meinem 83. Jahr. Und so liest man es auch auf Grabsteinen.
Hat es Ihnen nicht auch Angst eingejagt, mit noch nicht einmal 23 Jahren Schriftsteller zu werden und alles auf diese Karte zu setzen?
Damals war das gewaltig, heutzutage ist es normal. Und auch im Suhrkamp-Verlag war das etwas Ungeheuerliches. Eine Folge von verschiedenen gnädigen Momenten hatte dazu geführt. Ich arbeitete damals als Student nebenher für den Rundfunk, wo sich jemand für mein Schreiben interessierte. Dank einer Verkettung von glücklichen Umständen gelangte das Manuskript zu Suhrkamp, und Unseld wird sich gedacht haben, dass ein junger Lektor gelegentlich auch einen jungen Autor entdecken sollte. So kam ich zu Suhrkamp. Aber ich war ein anderer.
Wollen Sie sagen, es sei im Grunde ein Missverständnis gewesen?
Ja, es hatte nichts mit mir zu tun. In der «FAZ» wurde das Buch gut besprochen, sogar in der NZZ ist eine kritische, aber genaue Besprechung von Werner Weber erschienen. So ging das weiter. Ich fand das grossartig, aber ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommen würde.
Doch hatte das Ziel, Schriftsteller zu werden, damals längst festgestanden?
Mit Josef Winkler würde ich sagen: Ich bin nicht Schriftsteller, sondern jemand, der von Zeit zu Zeit schreibt. Man darf das nicht als Substantiv verwenden, allein für die Steuererklärung taugt das Wort. Es ist ein angemasster Luxus und mehr nicht.
Dass Sie von Zeit zu Zeit schreiben, ist eine masslose Untertreibung. Seit Sie schreiben können, hören Sie nicht mehr auf damit. Täglich schreiben Sie in Ihre Notizhefte, seit Jahrzehnten, Tausende von Seiten.
Seit den frühen Anfängen ist es der Jugend erster Blick, der mich führt. Bis heute. Wenn ich nicht mehr weiterweiss, werde ich mich an den Waldrand setzen und dem Wind zuhören.
Der jugendliche Impetus, man könnte es auch Zwang nennen, hat Sie ein ganzes Leben lang begleitet. Wie und wo begann es, dass Sie nicht schrieben, sondern schreiben mussten?
Ich wollte mich hinausschreiben aus einer Welt, die nicht meine war.
Dann zieht Peter Handke eines seiner Notizhefte aus seiner Hosentasche. Vorgestern sei er im Kino gewesen. Er sucht eine Notiz, als wollte er damit erklären, was er meint mit dem Hinausschreiben aus einer Welt, die nicht seine ist. Das Heft ist mit Kugelschreiber eng beschrieben, die Blätter sind davon knittrig geworden. Er blättert vor und zurück, dann findet er die Stelle. Den Film «Poil de Carotte» von Julien Duvivier aus dem Jahr 1932 habe er gesehen. Er gehe oft ins Kino, sagt er, er fahre dazu in die Stadt und besuche häufig eine späte Nachmittagsvorstellung. Wenn er, wie jetzt im Frühjahr, das Kino verlasse, sei es draussen bereits dunkel. Aus der einen Dunkelheit komme er in jene des Abends. Er möge das sehr. Dann sagt er noch, erklärend, fast entschuldigend: Wenn er nachmittags aus dem Haus gehe, möchte er erst dahin zurückkehren, wenn es dunkel geworden sei.
Erzählen Sie von dem Film.
Der ganze Film handelt davon, dass ein Kind sich das Leben nimmt. Das ist gewaltig. Und doch hat es Glück, es wird von einem trotteligen Vater gerettet. Und in diesem Augenblick fiel mir plötzlich ein, was ich all die Jahre und Jahrzehnte völlig vergessen hatte. Mit 15 oder 16 Jahren hatte ich von Hand eine Art Roman geschrieben, er handelte von einem Kind, das sich das Leben nehmen will. Es ist mir unbegreiflich, dass es mir ganz entfallen war, ich hatte keine Erinnerung mehr daran. Mit dem Film kam alles zurück. Es kam aus einer grossen Tiefe.
Und das Kind waren Sie?
Nein, das Kind war nicht ich. Die Idee muss wohl darauf zurückgehen, dass mich Kinderleichen enorm gerührt haben. Ich weiss nicht, woher das kam. Und ich würde heute gerne das Manuskript lesen. Aber ich habe keine Ahnung, was ich damit gemacht habe. Es ist verschollen oder ganz verloren, also vernichtet. Ich weiss es nicht.
Sie hatten zwar den Inhalt vergessen, aber Sie wussten stets, dass Sie damals einen Roman geschrieben hatten. War es so?
Ja, ich sehe das Manuskript deutlich vor mir und sah es eigentlich auch die ganze Zeit, es war ungefähr zwei Finger dick. Aber ich habe den Roman nicht zu Ende geschrieben.
Sie haben das Manuskript sogar bildhaft vor Augen?
Ich erinnere mich sogar noch an die Schrift, ich hatte mit blauer Tinte geschrieben, vermutlich Kugelschreiber. Wenn es das damals schon gegeben hat, Ende der 1950er Jahre. Ich erinnere mich auch daran, dass ich meine ganze Familie damit tyrannisiert habe. Meine Geschwister hatte ich niedergeschrien, damit sie still waren, weil ich da oben in meinem Dachzimmer schrieb.
Und wusste Ihre Mutter damals, dass Sie literarische Ambitionen hegten?
Sie war ganz stolz darauf. Sie hat mir auch früh schon empfohlen, was ich lesen sollte. Kafka hielt sie zurück, es entspreche nicht dem Alter, sagte sie. Dostojewski und Tolstoi fand sie angemessen. Das kenne sie von ihren Behördengängen, sagte sie. Aber ganz freundlich.
Sie haben sich aber nicht daran gehalten und haben dann doch Kafka gelesen?
Ja, ich war ein begeisterter Kafka-Leser. Das war nicht mehr der Jugend erster Blick, sondern bereits der von der Schule und der Universität geprägte, mit der Erfahrung von Geld und Einsamkeit. Das war etwas anderes.
Hatte der verschollene Roman etwas damit zu tun, was Sie vorhin als das Herausschreiben aus Ihrer Welt bezeichneten?
Kein Wort dieser Einsamkeit stand darin. Ich hätte nie die eigene Einsamkeit niederschreiben können. Ich hatte eine grosse Scheu, erst später, 1981 mit dem dramatischen Gedicht «Über die Dörfer», lernte ich Sätze zu schreiben wie: «Der ewige Frieden ist möglich.» Ich bin immer noch den Tränen nahe, wenn ich dann denke, dass ich das geschrieben habe und dass es trifft. Das ist auch völliger Blödsinn. Und trotzdem ist es so: Der ewige Frieden ist möglich.
Wie kommt ein junger Mensch dazu, mit 15 oder 16 Jahren einen Roman über ein Kind zu schreiben, das Selbstmord begehen will? Das muss doch irgendwo im Inneren eine Resonanz haben?
Das habe ich mich auch gefragt. Aber es war nicht meine eigene Bestimmung oder Geschichte, die ich darin dargestellt hatte. Schade, dass Sie kein Archäologe sind. Sie könnten dann Archäologie betreiben und das Manuskript suchen.
Siebzig Jahre hat die Erinnerung an den Roman in Ihnen geschlummert. Dann sehen Sie den Film, und die Erinnerung ist zurück. Als hätte sie auf diesen Augenblick der Wiedererweckung gewartet. Hat der Film auch genauere Erinnerungen an den Roman geweckt?
Ich weiss nur noch, dass es irgendwann ins Nichts zerfranste. Die Geschichte ist nicht zu mir gekommen. Ich glaube nicht, dass es am Suizid lag. Und ja, es brauchte den Film, um mich daran zu erinnern. Aber jetzt brauche ich etwas Wein.
Peter Handke spricht leise, mit langen Pausen, suchend und tastend. Mehrmals beschwert er sich scherzhaft, sein Glas sei leer und ich kümmere mich überhaupt nicht um ihn. Wir essen, trinken und reden. Gelegentlich blitzt in seinen Augen ein jugendlicher Schalk auf, er spottet nicht über andere, höchstens über sich. Mitunter macht er auch einen etwas melancholischen Eindruck, manchmal denkt er lange über seine Antworten nach, und immer ist er die Liebenswürdigkeit in Person. Als der Kellner unruhig zu werden scheint, weil wir so viel reden – obwohl wir ebenso viel schweigen wie reden – und vielleicht zu langsam essen für seinen Geschmack, entschuldigt sich Handke, dass es so lange dauert. «Pas de soucis», sagt der Kellner, wir sollen unbesorgt sein. «Pas de soucis», wiederholt Handke versonnen. Das sei ihm die liebste Redensart geworden in Frankreich.
Das Kind im Film hat eine Wiederbegegnung mit Ihnen als einem jungen Menschen ausgelöst. Sie seien nicht das Kind, weder das Kind im verlorenen Roman noch das Kind im Film, sagen Sie. Und dennoch muss es eine emotionale Verbindung geben.
Ich habe mich als junger Mensch immer nach der Melancholie gesehnt. Menschen um mich herum, die eine Melancholie ausgestrahlt haben, habe ich fast beneidet. Wieso, habe ich mich gefragt, bin ich nicht so schwermütig wie dieser oder jener? Fast vorwurfsvoll habe ich zu mir gesagt: Du bist ja eher ein Luftikus. Die lustigen Menschen habe ich nicht wahrgenommen, es waren die traurigen, die mich interessierten. Wenn meine Mutter sang, was sie oft und gerne tat, sie war auch insgesamt ein lustiger Mensch, habe ich immer gedacht oder sogar zu ihr gesagt: «Hör auf zu singen.»
Sie ertrugen es nicht?
Nein, es war aber nicht böse gemeint.
Waren Sie später manchmal schwermütig oder depressiv?
Ich bin manchmal in Situationen geraten, in denen ich gedacht habe, da komme ich nicht lebend heraus. Aber ich bin weitergegangen. Ich bin zu Boden gefallen, aufgestanden und weitergegangen.
Und womit hing dieses Umfallen zusammen?
Mit der Arbeit, mit dem Schreiben. Mit der Sprache, dem Rhythmus, wenn es plötzlich nur noch Beschreibung war. Das konnte mich zur Verzweiflung bringen.
Erleben Sie jetzt gelegentlich melancholische Momente?
Es ist eher das Gefühl einer universellen Trauer. Aber ich möchte mich nicht darin baden. Jetzt weiss ich, dass ich im Leben stehe. Wenn diese Universaltrauer kommt, fühle ich mich wie im Film.
Hat diese Universaltrauer mit Ihnen zu tun oder mit der Welt und ihrem Zustand insgesamt?
Es ist die Welt, was auch immer die Welt ist.
Hat es auch mit dem Alter zu tun?
Nein, das glaube ich nicht.
Sind Sie im Alter glücklicher geworden?
Das denke ich nicht. Stellen Sie die Frage sich selber.
Ich werde tatsächlich glücklicher mit fortschreitendem Alter, aber ich fürchte mich vor dem Zeitpunkt, wenn es wieder kippt. Es droht viel Ungemach.
Sie haben völlig recht, dass Sie sich davor fürchten. Ich will nicht Kassandra spielen, aber es wird im Alter nur immer schwieriger.
Gibt es eine Altersgelassenheit?
Es gibt Momente, da bin ich leutselig. Gibt’s das Wort noch?
Aber natürlich.
Manchmal kann ich nicht mehr recht Deutsch und Französisch erst recht nicht. «Leutselig» ist ein sehr schönes Wort. Wenn, dann bin ich im Alter leutselig geworden, dafür weniger naturselig. Aber ich brauche beides. Derzeit neige ich zur Leutseligkeit. Und mit Rousseaus «retour à la nature» ist es ohnehin vorüber, seit ich nicht mehr in die Wälder gehe, vielmehr gilt nun, die Natur kommt zu uns. Aber im Kleinen, jedoch ist in der Natur das Kleine nie klein, in der Natur ist das Kleine das Grosse. Vielleicht auch beim Menschen.
Die Natur komme zu uns, sagen Sie. Sie holen die Natur allerdings auch in Ihr Haus.
Um Gottes willen, nur keinen Naturalismus.
Sie sammeln Flechten. Es ist für Sie eine Heilpflanze, Sie benutzen sie zur Linderung der Arthrose. Flechten sind die Natur in ihrem kargsten Zustand, die Urform der sichtbaren Natur.
Das ist ein interessantes Thema, daran habe ich mich noch nicht versucht.
Früher gingen Sie oft und lange durch die Wälder. Verirrten Sie sich da auch? Verlieren oder verirren Sie sich im Leben oder im Schreiben?
Ich denke, dass dem, der sich verirrt, ganz recht geschieht.
Im Sinne einer Strafe?
Vielleicht ist es eine Strafe, vielleicht auch eine Gnade.
Weil es der Weg ist, um Neues zu finden?
Das liegt auf der Hand, darum soll man es vielleicht auch offenlassen.
Gerade sind einige Aufzeichnungen von Ihnen in dem schmalen Buch «Schnee von gestern, Schnee von morgen» erschienen. Es endet mit einem bemerkenswerten Satz: «Und vorher, oder auch nachher noch, sah man ihn, wenn auch wie einen Schemen, ein ums andere Mal quer über die Steppe stolpern, aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging.» Das ist bei Adalbert Stifter entlehnt, aber gilt, was hier steht, auch für Sie? Sehen Sie sich auch so, stolpernd durch eine Steppe gehen? Und bald nicht mehr gehen?
Inzwischen ja. Das steht im Buch, und ich denke, das hätte ich noch vor einiger Zeit nicht so geschrieben. Aber so geht’s doch jedem. In der Kneipe beim Bahnhof in Chaville bin ich längst der Älteste. Manchmal kommt einer plötzlich nicht mehr, das ist für mich noch viel geheimnisvoller als das Ende, da denkt man, der ist schon irgendwo im Hades, wie in der «Odyssee», die Nacht, die einen umhüllt. Und plötzlich sind sie wieder da, mit einer jungen Freundin am Arm.
Denken Sie an den Tod?
Ja, natürlich.
Sind damit Gefühle der Wehmut verbunden, weil das Leben zu Ende geht? Oder denken Sie eher angstvoll ans Sterben?
Das ist eine Prüfung. Ob ich die bestehen kann? Ich frage mich, ende ich wie Hofmannsthals Jedermann, der sich vom Tod einen Tag erbettelt oder doch wenigstens eine Nacht, schliesslich und doch vergeblich ein letztes Stündlein? Wird man so? Wird das wirklich so? Es gibt ein wirklich schönes Wort: das Zeitliche segnen. Wer das kann! Ein sehr rätselhaftes Wort. Es ist wie eine Erwartung. Ein Ideal gibt es ja nicht mehr im Sterben. Es kommt mir wie eine Herausforderung vor. Nur Politiker denken nicht an ihren Tod. Was ist schon der Tod! Es war nicht immer so.
Bekümmert Sie der Zustand der Welt? In der auch eine Seinsvergessenheit vorherrscht, die sich paradoxerweise als Verdrängung des Todes äussert?
Ich lese tägliche den «Parisien», es ist eine Scheisszeitung. Die Berichte über den Krieg in der Ukraine und die Politik erinnern mich unentwegt an Karl Kraus’ «Die letzten Tage der Menschheit». Man könnte jetzt sagen, es stünden die allerletzten Tage der Menschheit bevor. Und danach werden die allerallerletzten Tage der Menschheit kommen. Alle fünfzig Jahre kommen die noch allerletzteren Tage der Menschheit. Irgendjemand wird weiterhin Zeitungen drucken. Aber Karl Kraus hat es alles schon klar gesehen, diese Vermählung und Verbrüderung zwischen Österreich, Preussen und Russland. Die Millionen von jungen Menschen, die damals starben, das war tatsächlich ein Ende der Menschheit. Es war nicht so, dass man sie krepieren liess, man machte sie krepieren.
Sehen Sie die Welt heute an einem ähnlichen Ort?
Für mich ist die Welt etwas anderes. Ich lebe für eine andere Welt. Keine utopische, aber für die Welt, die da ist. Die topische Welt, die vorhandene Welt. Was die Politik heute macht, ist eine antitopische Welt. Eine Art der Weltzerstörung. Und das gilt nicht nur für die Russen. Ich bin sicher, dass in Europa – man darf ja nicht darüber reden – ein Frieden möglich gewesen wäre, lange vor dem Krieg wäre eine Einigung in der Ukraine möglich gewesen. Ich hasse mich selber dafür, wenn ich sage «ich bin sicher», aber ich bin sicher, dass die Europäer Selenski zum Krieg ermuntert haben: «Mach nur, mach nur. Wir unterstützen dich.» Und wofür? Selenski opfert sein Volk, die haben alle genug. Es ist ein furchtbares Leid, das Volk leidet. Die Nationen können mir gestohlen bleiben. Ich hasse Nationen. Die Vereinten Nationen soll man abschaffen. Die haben nichts mehr zu sagen. Im Wort «Nation» ist keine Erotik mehr drin, nur noch Gewalt. Wenn Liechtenstein sagen würde: «Wir sind eine Nation», dann wäre ich sofort dafür. Oder Graubünden. Entschuldigen Sie, jetzt bin ich etwas melancholisch.
Melancholisch scheint mir nicht das richtige Wort dafür. Aus Ihnen spricht eher Verzweiflung über den Zustand der Welt.
Verzweiflung, ja, das ist es. Es kommt mir so vor, als hätten wir gerade noch zehn Prozent Akkuladung. So weit sind wir mit der Welt. Das betrifft mich im Grunde nicht mehr, nicht für das, was ich vielleicht vorhabe oder nicht vorhabe oder was das Leben mit mir noch vorhat. Und trotzdem kann ich nicht wegschauen, ja, Verzweiflung.