Der 1937 in Stans geborene Germanist Peter von Matt gehörte zu den Grossen seines Fachs. In Erinnerung bleibt er als begnadeter Leser und Publizist.
Zu sagen, Peter von Matt sei temperamentvoll gewesen, wäre eine masslose Untertreibung. Er kam aus den Bergen, seine fernen Vorfahren waren Wildheuer, und im Grunde seines Herzens ist er sein Leben lang ein Bergler geblieben. Und wie jeder Bergler war er ein schlafender Vulkan. Er lächelte meistens, aber das war ein Täuschungsmanöver, hinter seinen von buschigen Brauen überwölbten Augen loderte es gefährlich.
Einmal explodierte der Vulkan vor laufenden Kameras. Das war 1991, am Wettlesen beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Die deutschen Kritiker hatten sich gerade zum zweiten Mal über die Schweizer und ihre langsame Art des Lesens mokiert. Da reckt Peter von Matt die Faust weit in die Höhe und lässt sie schmetternd auf den Tisch fallen. Um danach zu einer tobenden Tirade anzuheben und jeden Satz mit seiner fuchtelnden und dann wie ein Fallbeil heruntersausenden Faust zu skandieren.
Sobald ein Schweizer lese, heisse es gleich, der habe halt eine Zunge wie eine Waldschnecke, sagt von Matt und lässt die Faust herunterdonnern. Und ohnehin hätten die Schweizer keinen Stoff und kein Thema. Wieder donnert die Faust. «Die wohnen hinter dem weltgeschichtlichen Ofen an der Wärme, jeder ist steinreich, ist fett.» Wieder stösst die Faust gen Himmel und donnert auf den Tisch. «Ich möchte einmal die Kollegen aus der Bundesrepublik bitten, ihre Bäuche zu zeigen.» Wer denn da saturiert sei?
Die Schweizer hätten eben keine so schöne Geschichte gehabt wie die Deutschen, werde bei solchen Gelegenheiten dann auch gesagt. Wieder donnert die Faust. «Diese Niedertracht, diese tollen Schändlichkeiten haben die alle nicht. Die haben immer nur so ein bisschen halbbatzige Demokratie gehabt, haben sich die Füsse gewärmt, aber wir Deutsche haben den Russlandfeldzug.» Noch einmal donnert die Faust, und das Publikum hält sich die Bäuche vor Lachen.
Er schützte die Kunst vor den Bornierten
Der Auftritt ist legendär. Wer Peter von Matt und seine Bücher bis dahin nicht kannte, wusste spätestens nun: Da ist ein Schweizer Germanist, der redet wie einer, der aus den Bergen kommt. Doch wenn ihm der Kragen platzt, lässt er wie ein zorniger Gott seine Faust donnern.
Die Leute mögen dann lauthals lachen, er aber meint es ernst – auf seine Weise. Und das heisst: Die Kunst gilt es zu schützen vor den Bornierten ebenso wie vor den Dünkelhaften. Peter von Matt sind das Hohe und das Niedere gleich nah und fern. Nichts ist ihm fremd, doch im Unterschied zu jenen, denen immer schon alles klar vor Augen steht, muss ihm alles erst einmal fremd werden, ehe er es verstehen lernen und immer neu deuten kann.
Peter von Matt war der grosse Wünschelrutengänger der Literatur. Wo er auf die elementaren Erscheinungen des Daseins und ihre Manifestationen in der Kunst traf, hielt er es wie kaum ein anderer mit Eichendorffs Vers: «Schläft ein Lied in allen Dingen». Unter von Matts Händen geschah, was dieses zauberhaft einfache Gedicht verheisst: «Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.»
Da spielt es keine Rolle, ob einer mit dem Russlandfeldzug auftrumpft oder hinter dem Ofen hockt, ob einer mit der Zunge einer Waldschnecke liest oder mit preussisch schnarrender Stimme. Die Kunst schöpft aus vielen Quellen, trüben und klaren, und sie kennt viele Ausdrucksarten, keine ist der anderen per se überlegen. Das Schöne und Gute und Wahre findet sich in der Gosse ebenso wie in den vornehmen Gesellschaften. Alles kann Kunst sein, sofern nur darin etwas verborgen liegt, was ihre Oberfläche übersteigt. Wer daran zu rühren vermag, wer Eichendorffs «Zauberwort» trifft, der bringt die Welt zum Singen. So einer war Peter von Matt.
Der beste Schriftsteller der Schweiz
Vielleicht bestand Peter von Matts besondere Gabe darin, dass er mit den Augen auch noch hören konnte. Er las Shakespeare oder Virginia Woolf, beide gehörten zu seinen liebsten Autoren, er vertiefte sich in Patricia Highsmiths oder Max Frischs Werke, und immer schien er geradeso viel zu hören, wie er sehend las. Ihm müssen Bücher wie Partituren vorgekommen sein. Er hörte, was er sah, und wusste auch das zu lesen und zu deuten, was er hörte. Darum zählte er zu den begabtesten Lesern seiner Zeit.
Nie kam er an ein Ende mit seinen Autoren. Immer nahm er ihre Werke lustvoll wieder zur Hand, damit sie ihm noch einmal fremd werden konnten, ehe er sie neu, nicht besser, aber einfach anders verstehen lernte. Denn auch wenn es immer die gleichen Worte und Sätze waren, die er las, so hörte er doch jedes Mal auch noch anderes, was in ihnen anklang.
Und wenn der Grosskritiker Marcel Reich-Ranicki einmal von Peter von Matt behauptete, er sei der beste Schriftsteller der Schweiz, dann mochte das eine kleine boshafte Sottise gegenüber einer schwächelnden Literaturszene gewesen sein. Falsch jedenfalls war es nicht, auch wenn sich Peter von Matt nie als Schriftsteller bezeichnet hätte. Aber immerhin hatte er 2012 als bis heute einziger Autor für ein essayistisches Werk («Das Kalb vor der Gotthardpost») den Schweizer Buchpreis gewonnen.
Es war eine Watsche für die deutschsprachige Schweizer Literatur, dass ein Professor der Germanistik eine der renommiertesten literarischen Auszeichnungen des Landes davontrug. Peter von Matt nahm es hin mit stoischer Gelassenheit und liess sich die ungewöhnliche Ehrung gerne gefallen. Denn er wusste doch, was in der Schweiz ein offenes Geheimnis war: Er war nicht bloss ein begabter Leser, er war auch ein begnadeter Schreiber.
Auch das hatte mit dem Hören zu tun. Er hat seine Sätze gehört, bevor er sie schrieb. Darum sind seine Bücher ein Lesevergnügen der Sonderklasse: Kein Germanistenjargon, keine gestelzten Sätze, keine Umständlichkeiten, seine Bücher sind in gesprochener Sprache von der schönsten Art geschrieben. Man konnte Peter von Matt beim Lesen und Denken zusehen, man sah seine Ohren glühen, wenn ihm eine treffende Formulierung glückte, und man glaubte seine diebische Freude zu spüren, wenn er einen kleinen Scherz zwischen seine Sätze schmuggelte.
Erotiker des Lesens
1937 geboren und in Stans aufgewachsen, kam Peter von Matt früh mit den Bergen wie mit Büchern in Kontakt. Die Berge standen wuchtig vor der Haustür, in den Häusern drinnen waren in seiner Familie zahlreiche Buchmenschen zugange, als Buchdrucker, Verleger oder Antiquare. In Zürich studierte er Germanistik und promovierte bei Emil Staiger, dessen Assistent er wurde und dessen Lehrstuhl er 1976 übernahm. Peter von Matt war in erstaunlich vielen Hinsichten seinem Lehrer ähnlich und zugleich in entscheidenden Fragen dessen Antithese.
Beide waren sie Erotiker des Lesens, und beide hatten sie neben der Gabe der hellhörigen Lektüre auch jene des präzisen Ausdrucks. Als Hochschullehrer wirkten sie gleichermassen weit über die Universität hinaus. Doch wo Staiger Denkverbote errichtete und das Schöne vor dem Ansturm des vermeintlich Hässlichen der Moderne verteidigen wollte, da atmete von Matt den Geist des Antidogmatikers. Gerade dahin lockte es ihn, wo es wild wurde, wo das Wüste sich regte, wo das Allzumenschliche lärmend und tumultuös in die Sphären der Kunst eindrang.
Die Literatur interessierte Peter von Matt nie ausschliesslich um der Kunst willen. Stets suchte er darin nach den Spuren einer Comédie humaine, die den Menschen zeigte, wie er war: verstrickt in Widersprüche, tragisch und komisch in einem, boshaft und leidenschaftlich.
Als Germanist war Peter von Matt darum weniger der Literaturtheoretiker als vielmehr ein neugieriger Anthropologe, der unentwegt die Menschen und die vielfältigen Nöte ihres Daseins erforschte. Die Dichter mochten ihm zwar auch manches über das Dichten selber erzählen, mehr noch aber interessierte er sich für das, was sie über das Leben ahnungsvoll in ihre Bücher gelegt hatten.
Verräter und Schurken interessierten ihn
Dieser Erkenntnisdrang fand seinen Niederschlag in Peter von Matts essayistischen Werken, die den allermeisten Germanisten schon darum verdächtig schienen, weil hier einer freihändig dachte und kühn auf das Stützkorsett der Fussnoten verzichtete. Er entzog sich den Regeln der Akademie, verschmähte es regelmässig, aus der Sekundärliteratur zu zitieren, die er trotzdem bis in die Subtilitäten der Exegese kannte – und schrieb erst noch viel besser als die meisten seiner Zunft.
Obwohl Peter von Matt ein beliebter und erfolgreicher Hochschullehrer war, suchte er seine Meriten doch nicht mit universitären Leistungen. Er gab keine grossen Editionen heraus, Werkausgaben von Gottfried Keller oder Robert Walser überliess er anderen, er tat sich nicht mit grossen Symposien hervor und auch nicht mit spektakulären Forschungsvorhaben. Er brillierte als Publizist. Und allein an den Buchtiteln konnte man leicht erkennen, dass er sich lieber mit Bösewichten und Unglücksraben als mit Schöngeistern und Glückskindern herumschlug. Verrat und Verderben versprachen einfach mehr Aufregung als das bürgerliche Mittelmass.
So widmete er 1989 eine Studie den «Treulosen in der Literatur», und 1995 machte er Furore mit «verkommenen Söhnen, missratenen Töchtern», die ihm von den vielfältigen Familiendesastern in der Literaturgeschichte erzählten. Zuletzt veröffentlichte er eine Studie mit seinen Lieblingsgestalten: «Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten». Peter von Matt müsste kein Bergler gewesen sein. Er wusste, dass jene Gestalten mehr über die Welt wissen, die schräg in ihr stehen.
Zu ihnen gehörte auch der bucklige, kleinwüchsige Lichtenberg, bei dem Peter von Matt eines der schönsten, zartesten Bilder gefunden hatte. Lichtenberg sinnierte darüber, was man mit Büchern ausser dem Lesen auch noch anstellen konnte. Man könne beispielsweise, so Lichtenberg, auf ihnen stehen, um besser aus dem Fenster schauen zu können. Von Matt formte daraus einen zauberhaften Aphorismus, der zugleich das kleinste denkbare Selbstporträt ergab: «Die Erkenntnisse, die das Stehen auf dem Buch ermöglicht, gelangen so in ein Gleichgewicht zu den Erkenntnissen, die dem Lesen im Buch entspringen.»
So muss man sich Peter von Matt vorstellen: Wenn er in einem Buch las, dann tat er es im Bewusstsein, zugleich auf vielen anderen Büchern zu stehen, so wie jeder Dichter auf den Schultern seiner Vorgänger tätig ist. Immer schwingt mit, was dem eigenen Denken und Schreiben vorausgeht.
Und noch ein Letztes: Peter von Matt war nicht nur ein bedeutender Lehrer und ein grosser Autor, er war auch ein Citoyen, eine öffentliche Figur, ein Bürger, der das Wort ergriff, wenn es nottat. Er war kein genuin politischer Kopf, er hatte kein Parteibuch. Er war auch in politischen Dingen ein Freibeuter. Das sittliche Gesetz erschloss sich ihm nicht aus einer höheren Moral, sondern aus dem Bewusstsein dessen, der die menschliche Schwäche zum Massstab des dem Menschen Möglichen machte. Peter von Matt war kein Idealist, er war ein Moralist, der um die Nöte und die Verzweiflung der menschlichen Seele wusste, weil er sie aus der Dichtung und auch aus dem Leben kannte.