Die «New York Times» wollte Einsicht in den Nachrichtenverlauf zwischen der EU-Kommissionspräsidentin und dem Pfizer-Chef. Die Kommission lehnte ab. Ein EU-Gericht gibt der Zeitung nun Recht.
Es ist ein herber Schlag für Ursula von der Leyen: Das Gericht der Europäischen Union ist zum Schluss gekommen, dass sich die EU-Kommission im Fall des umstrittenen SMS-Verkehrs zwischen ihr und dem Chef des Pharmakonzerns Pfizer, Albert Bourla, regelwidrig verhalten hat. Der Entscheid, die Nachrichten nicht zu veröffentlichen, sei nichtig, so die Richter.
Um das Verdikt einordnen zu können, muss man sich in eine Zeit zurückversetzen, die eine Ewigkeit her scheint: Als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie ausbrach, ging ein weltweites Wettrennen um Impfstoffe los. Die EU hatte damals weder die logistischen noch rechtlichen Möglichkeiten, um daran teilzunehmen – Gesundheit ist in erster Linie eine nationalstaatliche Angelegenheit.
Um Ungleichbehandlungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern und die Verhandlungsmacht zu erhöhen, entschieden die europäischen Regierungen nach langwierigen Verhandlungen im Sommer 2020 schliesslich, die Beschaffung der Vakzine an die EU-Kommission zu delegieren.
Auftragsvolumen von 35 Milliarden Euro
Als Ende 2020 die ersten Impfstoffe auf den Markt kamen, war die EU im Rückstand. Weil in den USA, Grossbritannien und auch der Schweiz die Verteilung zügiger voranging, stieg in den EU-Ländern der öffentliche Druck – erst recht, weil das Sterben weiterging und weitreichende Kontaktbeschränkungen in Kraft waren.
Es war in dieser Zeit, als von der Leyen und Bourla in regelmässigem Austausch standen. Es ging um den dritten Liefervertrag – die ersten beiden waren verhältnismässig klein –, die Kommissionspräsidentin hatte für die Verhandlungen allerdings kein offizielles Mandat. Das Auftragsvolumen betrug 35 Milliarden Euro für die Lieferung von rund 1,8 Milliarden Impfstoffdosen.
Die «New York Times» (NYT) enthüllte im April 2021, dass die Gespräche zwischen von der Leyen und dem «lieben Albert», wie sie ihn in einer Medienmitteilung nannte, unter anderem per Textnachrichten geführt wurden. Gestützt auf die EU-Transparenzverordnung verlangte die Journalistin in der Folge Einblick in die SMS für den Zeitraum zwischen Januar 2021 und Mai 2022.
Keine plausible Erklärung
Die Kommission verweigerte den Zugang aber mit der Begründung, dass sich keine derartigen Dokumente in ihrem Besitz befänden. Das sogenannte «Pfizergate» war geboren. Die NYT ging rechtlich gegen den Entscheid vor. Auch andere Akteure, darunter EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly, verlangten mehr Transparenz.
In seinem am Mittwoch veröffentlichten Urteil erklärt das erstinstanzliche EU-Gericht den Entscheid der Kommission nun für nichtig. Durch ihre Berichterstattung sei es der NYT gelungen, die «Vermutung über die Nichtexistenz oder den Nichtbesitz der angeforderten Dokumente zu entkräften».
Das EU-Organ dürfe sich nicht einfach mit der Erklärung begnügen, nicht in Besitz der Nachrichten zu sein, sondern müsse plausibel erklären, welche Art von Nachforschungen sie betrieben habe, um die Dokumente zu finden, heisst es in der Zusammenfassung des Verdikts.
Die Kommission habe auch nicht ausreichend dargelegt, ob die SMS gelöscht worden seien und falls ja, ob dies automatisch oder freiwillig erfolgt sei, so das Gericht. Schliesslich hätte sie besser darlegen müssen, warum sie eine Aufbewahrung der Nachrichten nicht für notwendig erachte.
Weiterzug des Urteils möglich
Die Auswirkungen des Richterspruchs sind offen. Die EU-Kommission kann den Entscheid an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weiterziehen. Ob sie das zu tun gedenkt, hat die Kommission am Mittwoch nicht kommuniziert.
Auch ob die Nachrichten überhaupt noch existieren, ist nicht klar. Entsprechenden Fragen ist von der Leyens Sprecherin am Mittwoch ausgewichen. Stattdessen legte sie dar, welche Regeln sich die Kommission für den Umgang mit Textnachrichten auferlegt hat: Sie sollen grundsätzlich nur für «kurzlebige Informationsaustausche» genutzt werden.
Wenn doch relevante Inhalte in einer Nachricht enthalten sind, muss diese anderswo – zum Beispiel in einer Email – auch noch gespeichert werden. Bei früherer Gelegenheit hatte die Kommission argumentiert, dass der SMS-Austausch zwischen von der Leyen und Bourla lediglich der Terminsuche gedient habe.
Exemplarisch für von der Leyens Stil
Selbst wenn die Nachrichten noch vorhanden sind, geht aufgrund des Urteils nicht zwingend hervor, dass sie veröffentlicht werden müssen – das Gericht hat nur entschieden, dass die Begründung für die Zugangsverweigerung nichtig ist. Theoretisch wäre also denkbar, dass eine Geheimhaltung aufgrund von höherrangigen Interessen gerechtfertigt ist. In der Praxis scheint dies allerdings schwer vorstellbar, zumal sich die EU hohe Transparenzregeln auferlegt.
Kommissionspräsidentin von der Leyen konnte es als persönlichen Erfolg verbuchen, dass die EU-Staaten nach den anfänglichen Startschwierigkeiten ihre Bevölkerungen schneller durchgeimpft hatten als andere westliche Länder. Das nun erfolgte Urteil steht aber auch exemplarisch für ihr Verständnis für den Umgang mit der Öffentlichkeit.
Die 66-jährige Deutsche hat sich in Brüssel eine grosse Machtfülle angeeignet, ihren ärgsten Widersacher, Thierry Breton, ist sie losgeworden. Zusammen mit einer handverlesenen Equipe führt sie die Kommission in einem autoritären Top-Down-Stil. Die Informationsflüsse sind zentralisiert, die Kommunikation nach aussen ist auf ein Minimum beschränkt. Man kann dies als Führungsstärke sehen, die gerade im aktuellen Kontext notwendig ist – oder aber als Mangel an Transparenz.