Der Staatsanwalt hat bei der Erstellung der Anklageschrift im Fall des ehemaligen Raiffeisen-Chefs Pierin Vincenz einen externen Strafrechtsexperten beigezogen. Der Wirtschaftsrechtsprofessor Peter V. Kunz kritisiert das Vorgehen scharf.
Der Fall Vincenz wird für die Zürcher Staatsanwaltschaft zu einem immer grösseren Debakel. Dabei geht es längst nicht mehr um die Hauptbeschuldigten Pierin Vincenz und Beat Stocker, sondern vielmehr um den Staatsanwalt selbst.
Zuerst hob das Obergericht das Urteil im Januar auf und wies die Anklage der Staatsanwaltschaft ans Bezirksgericht Zürich zurück. Anschliessend wurde bekannt, dass der Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel den emeritierten Zürcher Professor Andreas Donatsch als Fachexperten bei der Erstellung der Anklageschrift beigezogen hatte. Im Raum steht laut der «NZZ am Sonntag» der Vorwurf, dass Jean-Richard-dit-Bressel damit das Amtsgeheimnis verletzt habe.
Eine Amtsgeheimnisverletzung ist ein Offizialdelikt, auf das bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe steht. Hinzu können disziplinarische Massnahmen kommen, die von einem Verweis bis zu einem Rücktritt reichen könnten.
Kein Kavaliersdelikt
Marc Jean-Richard-dit-Bressel und Andreas Donatsch kennen sich seit langem: Donatsch betreute die Habilitationsschrift von Jean-Richard-dit-Bressel. Der Staatsanwalt wiederum hat Donatsch als externen Sachverständigen im Fall Vincenz beigezogen.
Grundsätzlich dürfen Staatsanwälte bei einer laufenden Voruntersuchung Fachexperten beiziehen. Der Auftrag muss allerdings vom Oberstaatsanwalt genehmigt werden und im Einklang mit der Strafprozessordnung stehen. Laut dieser kann der Staat einen externen Experten konsultieren, wenn für einen Sachverhalt besondere Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich sind. Externe Sachverständige sind im Sinne der Strafprozessordnung zum Beispiel Psychiater, Statiker oder Pharmazeuten. Sie verfügen über Wissen, das der Staatsanwaltschaft fehlt.
Peter V. Kunz, Wirtschaftsrechtsprofessor an der Universität Bern, bezweifelt, dass die Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt waren: «Da Staatsanwälte selbst ausgebildete Juristen sind, ist das Einsetzen eines zusätzlichen externen Juristen nicht zulässig.»
Wenn die Staatsanwaltschaft externe Sachverständige anfordert, müssen die Beschuldigten zudem davon in Kenntnis gesetzt werden, damit sie allenfalls Befangenheit geltend machen können. Die Staatsanwaltschaft müsste ihnen die Berichte der externen Sachverständigen zukommen lassen. Das sei im Fall Vincenz offensichtlich nicht geschehen, so Kunz.
Die Staatsanwaltschaft Zürich ist sich jedoch keines Fehlers bewusst: Die Behörde schreibt auf Anfrage, dass die Geschäftsleitung zur Qualitätssicherung eine Fachperson mit der vorgängigen rechtlichen Durchsicht eines Vorentwurfs der Anklageschrift beauftragt habe. Mit Bezug auf diese Durchsicht sei die Fachperson «als ins Amtsgeheimnis eingebundene Hilfsperson» zu verstehen. Es handle sich daher nicht um eine sachverständige Person im Sinne der Strafprozessordnung.
Auf welcher Rechtsgrundlage diese Qualitätssicherung erfolgte, ist Kunz schleierhaft. Er fordert Konsequenzen: «Eigentlich hätte bereits im März eine Voruntersuchung gegen die Staatsanwaltschaft eingeleitet werden müssen, als bekannt wurde, dass Marc Jean-Richard-dit-Bressel einen externen Juristen beigezogen hatte. Die Verdachtsmomente für eine Verletzung des Amtsgeheimnisses wären dazu ausreichend.» Dazu sollte laut Kunz ein Sonderstaatsanwalt aus einem anderen Kanton eingesetzt werden.
Er fordert auch personelle Konsequenzen, zumal bei der Erarbeitung der Anklage die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit missachtet worden seien. «Mittlerweile sind wir an einem Punkt angelangt, an dem der Staatsanwalt ausgetauscht werden muss», sagt Kunz. Der Fall Vincenz sei ein «Trauerspiel für den Rechtsstaat».
Warum keine Rückweisung in erster Instanz?
Unbestritten ist: Die Staatsanwaltschaft zog nicht nur Donatsch bei, sondern investierte auch selbst viel Zeit in die mehr als 300 Seiten lange Anklageschrift. Umso mehr erstaunt es, dass das Obergericht die Anklageschrift als formell ungenügend beurteilte. Zu detailliert, so das Verdikt. Das hatte die Aufhebung des Urteils zur Folge und eine Rückweisung der Anklageschrift an das Bezirksgericht.
«Gut möglich, dass der Druck auf die Staatsanwaltschaft so gross war, dass man es zu gut machen wollte», sagt Kunz. Seiner Meinung nach hätte bereits das Bezirksgericht die Anklageschrift zurückweisen müssen. Kunz spekuliert, dass die Richter in erster Instanz trotz allen Mängeln bewusst auf eine Rückweisung verzichteten und stattdessen ein Urteil fällten, um eine Verjährung zu verhindern. «Das Urteil hob die Verjährungsfristen auf. Auch das ist rechtsstaatlich problematisch.»
Kunz ist jedenfalls der Überzeugung, dass die Anklageschrift auch inhaltlich ungenügend war. Zwar habe die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt mit Vincenz’ ungerechtfertigten Spesen gut aufgearbeitet, aber deswegen gehe niemand ins Gefängnis. Zumal die Spesen auch vom Verwaltungsratspräsidenten der Raiffeisen-Gruppe bewilligt wurden.
Bezüglich der Firmenbeteiligungen sei die Beweisführung in der Anklageschrift jedoch ungenügend, sagt Kunz. Vincenz und Stocker sollen sich heimlich an Unternehmen beteiligt haben, die später von Raiffeisen und Aduno gekauft wurden.
Dabei stellte sich das Problem des Schadensnachweises. Weil keine börsenkotierten Unternehmen involviert waren, kann der klassische Insiderhandel nicht geltend gemacht werden. Daher definierte die Staatsanwaltschaft den entgangenen Gewinn des Arbeitgebers als Schaden. Jean-Richard-dit-Bressel zog dazu ein Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahr 2018 heran, bei dem ein Vermögensverwalter wegen einbehaltener Retrozessionen verurteilt wurde.
Dieses Konzept wandte er auf Vincenz an. Dabei war Vincenz weder Vermögensverwalter noch ging es beim erwähnten Urteil des Bundesgerichts um einen Schadensnachweis. Es handelte sich vielmehr um eine fehlende Offenlegung von Kickbacks. Die Staatsanwaltschaft schlug also eine juristisch unerprobte Strategie ein.
Kunz fragt sich, wieso die Staatsanwaltschaft nicht auf die sogenannte bewährte Geschäftschancenlehre gesetzt hat. Dabei schliesst ein CEO selbst ein Geschäft ab, obwohl das Unternehmen auch die Möglichkeit dazu gehabt hätte, weswegen dem Unternehmen Gewinn entgeht. Das wäre seiner Meinung nach die bessere Strategie bei der Anklage gewesen.
Kunz rechnet damit, dass sich das Verfahren bis zu einem rechtskräftigen Urteil noch Jahre hinziehen wird. Dass Jean-Richard-dit-Bressel gegen die Aufhebung des Urteils durch das Obergericht Beschwerde beim Bundesgericht eingelegt hat, sorgt für weitere Verzögerungen. Der Wirtschaftsrechtsprofessor zeigt sich mittlerweile überzeugt: «Pierin Vincenz wird nie ins Gefängnis müssen.»