Zwei Volksinitiativen und ein Gesetzesprojekt des Bundesrats wollen die «Heiratsstrafe» bei der direkten Bundessteuer abschaffen. Eine neue Analyse der Universität Luzern lässt aber vermuten, dass Heiratsboni weit stärker verbreitet sind als Heiratsstrafen.
Die «Heiratsstrafe» bei der direkten Bundessteuer ist angeblich ein grosses Problem. Das liegt an den progressiven Steuersätzen. Bei Verheirateten bestimmt die Summe der Einkommen beider Partner den Steuersatz. Konkubinatspartner werden dagegen einzeln besteuert, was bei Doppelverdiener-Paaren zu insgesamt tieferen Steuersätzen führen kann.
Zwei Volksinitiativen wollen die steuerliche Heiratsstrafe abschaffen. Eine der Initiativen (lanciert von den FDP-Frauen) fordert die Einführung der Individualbesteuerung. Die andere (von der Mitte-Partei) fordert die Abschaffung der Heiratsstrafe bei offizieller Beibehaltung der Ehepaar-Besteuerung. Der Bundesrat hat diesen Februar seinen definitiven Vorschlag zur Einführung der Individualbesteuerung vorgelegt – im Auftrag des Parlaments und als Gegenvorschlag zur Volksinitiative für die Individualbesteuerung.
Doch es gibt bei der direkten Bundessteuer nicht nur Heiratsstrafen, sondern auch Heiratsboni. Zum einen haben Verheiratete einen günstigeren Steuertarif als Alleinstehende und Konkubinatspartner ohne Kinder. Und zum anderen gibt es einen Steuerabzug für Zweitverdiener. Für eine Gesamtbetrachtung ist somit die Saldowirkung entscheidend.
Irrungen und Wirrungen
Bis 2018 schien der Fall klar zu sein: Es gibt bei der direkten Bundessteuer im Vergleich zu Konkubinatspaaren weit mehr Ehepaare mit deutlichem Heiratsbonus als solche mit deutlicher Heiratsstrafe. Das war das Ergebnis einer Schätzung der Eidgenössischen Steuerverwaltung; «deutlich» war definiert als Differenz in der Steuerbelastung von mindestens 10 Prozent. Ab 2018 galt plötzlich das Gegenteil: Es gibt viel mehr Ehepaare mit (deutlicher) Heiratsstrafe als solche mit Heiratsbonus. Der Grund für die Wende war eine Schätzkorrektur der Steuerverwaltung. Die Verantwortlichen begründeten die Korrektur mit dem Entdecken eines groben Fehlers und der Aufdatierung der Zahlen.
Die massive Korrektur inspirierte zu Untersuchungen und führte zu einer Abstimmungsbeschwerde, welche vor dem Bundesgericht erfolgreich war. Die Lausanner Richter annullierten 2019 erstmals eine eidgenössische Volksabstimmung wegen mangelhafter Abstimmungsinformationen durch die Regierung. Es ging um die knapp abgelehnte Ehe-Initiative der CVP (heute: die Mitte), welche unter anderem die Abschaffung der steuerlichen Heiratsstrafe gefordert hatte.
Im Dezember 2022 folgte die nächste Wende in dieser kuriosen Geschichte. Der Bund lieferte in seinem Erläuterungsbericht zum Gesetzesprojekt über die Einführung der Individualbesteuerung überraschend eine neue Schätzung, die das Bild wieder umkehrte: Laut jenem Bericht gibt es bei der direkten Bundessteuer mehr Ehepaare mit deutlichem Heiratsbonus (670 000) als solche mit deutlicher Heiratsstrafe (610 000). Zählt man nur die Fälle mit Belastungsunterschieden von mindestens 10 Prozent und mindestens 500 Franken pro Jahr, ist die Zahl der bevorzugten Ehepaare laut einem technischen Begleitbericht sogar mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der benachteiligten Ehepaare. Der Bund begründete die jüngste Korrektur mit der Verfügbarkeit von besseren Daten. Er betonte allerdings, dass es noch immer erhebliche Schätzunsicherheiten gebe. Bei den kantonalen Steuern sieht das Bild derweil für die Ehepaare tendenziell eher noch besser aus als bei der Bundessteuer.
46 Prozent mit Heiratsbonus
Ein zentraler Unsicherheitsfaktor: Aus den verfügbaren Steuerdaten lässt sich bei Ehepaaren die genaue Aufteilung der Einkommen auf die beiden Partner oft nicht ableiten. Diese Aufteilung hat für die Berechnung von Heiratsstrafen und Heiratsboni ebenso wie für die Folgen von Reformen grosse Bedeutung. Bei einer prozentualen Einkommensaufteilung von 50 Prozent / 50 Prozent oder 60/40 fahren Ehepaare im geltenden System oft schlechter als Konkubinatspaare, weil der Nachteil der Steuerprogression dann relativ stark ins Gewicht fällt. Bei Aufteilung von 100/0 oder 90/10 fahren Ehepaare oft besser. Häufig kehrt sich das Bild bei einer Aufteilung zwischen 70/30 und 75/25.
Zusätzliche Hinweise liefert nun eine neue Analyse des Instituts für Wirtschaftspolitik der Universität Luzern. Diese beruht auf Daten aus den jährlichen Befragungen von rund 10 000 Haushalten aus dem Schweizer Haushalts-Panel. Die Daten enthalten laut den Studienautoren genaue Informationen über die Einkommensaufteilung bei Ehepaaren. Auf Basis der Daten für 2023 kommen die Autoren zum Schluss, dass bei der direkten Bundessteuer im Vergleich zu Konkubinatspaaren 29 Prozent der Ehepaare steuerlich benachteiligt sind und 46 Prozent einen Heiratsbonus geniessen.
Die Analyse sagt nichts aus über die Grösse der jeweiligen Heiratsstrafen und Heiratsboni. Zudem ist auch diese Schätzung mit Unsicherheiten behaftet: So lässt sich aus den besagten Daten das steuerbare Einkommen nur mit gewissen Annahmen ableiten, und die obersten Einkommen sind nicht repräsentativ abgebildet. Aber die Luzerner Schätzung erhärtet das Bild, dass es bei der direkten Bundessteuer per saldo eher einen Heiratsbonus als eine Heiratsstrafe gibt.
Das trifft längst nicht für jeden Einzelfall zu. Doch absolute Einzelfallgerechtigkeit ist im Steuersystem unmöglich, wie auch schon das Bundesgericht im Kontext der Diskussion um die Heiratsstrafe festgestellt hat. Nach dem geltenden Stand des Wissens taugt jedenfalls der Wunsch nach «Abschaffung der Heiratsstrafe» in der Gesamtbetrachtung kaum als Begründung für eine Steuerreform – ausser man will die Heiratsstrafe in jedem Einzelfall beseitigen und damit per saldo einen noch viel stärkeren steuerlichen Heiratsbonus als heute. Das würde dem Anliegen der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit deutlich stärker widersprechen als der Status quo.
Höhere Arbeitsanreize
Als wichtigstes Argument für die Individualbesteuerung bleibt die Stärkung der Arbeitsanreize für Zweitverdiener. Gemäss der internationalen Forschungsliteratur reagieren Zweitverdiener (in der Praxis immer noch oft die Frauen) mit ihrem Arbeitsangebot deutlich stärker auf Änderungen der Steuerbelastung als Erstverdiener. Bei der Einführung der Individualbesteuerung oder bei sonstigen Entlastungen für Zweitverdiener wäre deshalb mit vergrössertem Arbeitsangebot zu rechnen – selbst wenn die Belastungen für Erstverdiener zunehmen würden.
Laut den Luzerner Schätzungen würde mit dem Reformvorschlag des Bundesrats ohne Berücksichtigung von kantonalen Reformen die inländische Arbeitsmarktbeteiligung umgerechnet auf Vollzeitstellen um etwa 5200 Personen zunehmen – und dies grossenteils bei den Frauen. Das ist gemessen an den derzeit fast 4,3 Millionen Vollzeitstellen in der Schweizer Volkswirtschaft bescheiden, aber trotzdem nicht zu verachten. Die besagte Schätzung beruht auf den beobachteten Reaktionsmustern der in den jährlichen Befragungen zum Haushalts-Panel erfassten Paare. Dies liegt nahe bei der mittleren Schätzung des Bundes von 6800 Personen. Die Bundesschätzung beruht auf Ergebnissen der internationalen Forschungsliteratur zu den Reaktionsmustern.