Die Nutzung der Pille nimmt weiter ab. Das Ende der hormonellen Verhütung ist damit wohl nicht eingeläutet – aber Frauen wählen heute bewusster aus, wie sie verhüten.
Einmal ein gerissenes Kondom erleben war genug für Simone Gerber (Name geändert). Nach diesem Stress entschied sich die damals 19-Jährige für die Pille. Sie war zufrieden, spürte keine Nebenwirkungen. Als Studentin störte sie höchstens der hohe Preis, zumal Verhütungsmittel nicht kassenpflichtig sind. Nach ein paar Jahren vergass sie immer öfter, die Pille einzunehmen: «Meine Periode wurde wieder unregelmässiger, und der Schutz war wohl auch nicht mehr gegeben. Ausserdem störte mich die Vorstellung zunehmend, mit Hormonen in meinen Körper einzugreifen.» So wechselte sie mit ihrem Partner zurück zum Kondom. Sie ist kein Einzelfall.
Die kürzlich erschienene Schweizerische Gesundheitsbefragung 2022 zeigt: So wie Simone Gerber benutzen immer weniger Frauen die Pille. Von den 15- bis 44-jährigen Frauen greifen rund 17 Prozent zur Pille – 2012 waren es noch rund 32 Prozent. Am meisten genutzt wird die Pille noch bei der jüngsten Altersgruppe bis 24-jährig. Gleichzeitig ist bei ihnen der Rückgang am stärksten. Weiter zugelegt hat im Vergleich zur Befragung von 2017 das gegenüber der Pille unsicherere Kondom – schon bisher auf Rang 1 als häufigstes Verhütungsmittel. Rund ein Viertel aller Befragten verhütet heute hauptsächlich mit Kondom.
Die Skepsis wächst
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Befragungen in Deutschland und Österreich: Das Kondom legt zu, die Pille verliert, und die Skepsis gegenüber der hormonellen Verhütung im Allgemeinen wächst – vor allem in der jüngsten Altersgruppe. Damit stellt sich die Frage: Ist das Zeitalter der hormonellen Verhütung vorbei?
Die Antwort ist Nein, wie die detaillierten Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragung und auch Verkaufszahlen der Pharmafirmen zeigen. Der Trend geht zwar weg von der Pille, aber in zwei Richtungen: einerseits insbesondere zu hormonfreien Verhütungsmitteln wie Kondom und Kupferspirale, andererseits zu hormonellen Methoden mit tieferer Hormondosierung oder anderer Zusammensetzung. Statt wie bei der am häufigsten verwendeten kombinierten Pille mit Östrogen und Gestagen wählen Frauen zunehmend Verhütungsmittel wie die Hormonspirale, die nur Gestagen enthalten.
Diese Entwicklung stellen auch Pharmaunternehmen wie Bayer und Gedeon Richter fest, wie sie auf Anfrage mitteilen: Die Nutzung der Pille nimmt ab, diejenige der Hormonspirale steigt leicht. Frauen wenden sich also nicht grundsätzlich von den Hormonen ab. Sie tendieren aber stärker zu Präparaten mit weniger Hormonen und längerfristigen Verhütungslösungen als zur Pille.
Der Lebensstil entscheidet
Dass Frauen kritischer sind bei der Wahl der Verhütung, bestätigen Gynäkologinnen. Sibil Tschudin ist leitende Ärztin an der Frauenklinik des Universitätsspitals Basel. Sie hat bei der Analyse der Daten der Gesundheitsbefragung 2017 mitgewirkt und festgestellt: «Vor allem Frauen, die sich gesund und vielleicht vegetarisch ernähren, viel Sport treiben und Komplementärmedizin nutzen, wollen weg von hormonellen Verhütungsmitteln.»
Auch Gabriele Merki, Oberärztin und Leiterin der Sprechstunde zu Schwangerschaftsverhütung am Universitätsspital Zürich, sagt: «Die Beratung ist anspruchsvoller geworden.» Die vermehrte Skepsis gegenüber der hormonellen Verhütung und insbesondere der Pille hänge aber nicht selten mit einseitigen und auch falschen Informationen im Internet in Bezug auf die Risiken und mögliche Nebenwirkungen zusammen.
Zu den gravierendsten diskutierten Risiken gehören Thrombosen und Lungenembolien sowie Brustkrebs. Geschichten wie der «Fall Céline» 2008 hatten die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die damals 16-Jährige hatte mit der Pille verhütet, eine Lungenembolie erlitten und ist seither schwerbehindert.
Bei der Verschreibung von Verhütungsmitteln sei inzwischen viel geschehen, wie Sibil Tschudin und Gabriele Merki betonen. So werde die familiäre Vorgeschichte ebenso systematisch erfragt wie andere Faktoren – etwa Rauchen und Bluthochdruck –, die das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei der Einnahme der Pille erhöhten. «Für gesunde junge Frauen, die eine sichere Verhütung suchen, ist die Anwendung der Pille nach einer sorgfältigen Abklärung grundsätzlich unproblematisch», sagt Merki. Wenn keine Risikofaktoren vorlägen, sei das Risiko von Thrombosen etwa nur minim erhöht im Vergleich zu Frauen, die die Pille nicht einnähmen.
Liegen hingegen Risikofaktoren vor, wird von der kombinierten Pille abgeraten. Stattdessen werden beispielsweise Präparate wie die Hormonspirale empfohlen, die nur Gestagen enthält, oder die Kupferspirale. Nicht zu den Verhütungsmitteln gehören Zyklus-Apps. «Sie helfen, das Bewusstsein für den eigenen Zyklus zu stärken, und zeigen an, wann es ein Kondom braucht. Blind vertrauen sollte man ihnen aber nicht», so Tschudin.
Weg von «einmal Pille, immer Pille»
Die Beratung sei heute grundsätzlich viel individueller als früher, betonen die beiden Gynäkologinnen. Das habe auch damit zu tun, dass in den letzten Jahrzehnten neue Verhütungsmöglichkeiten für die Frau entstanden seien. Gleichzeitig wisse man mehr über die Wirkung und die Risiken der einzelnen Präparate. Ebenso wichtig sind die Wünsche und die Lebenssituation einer Frau. «Es gilt, die für die jeweilige Lebensphase passendste Form der Verhütung zu finden – mit den meisten Vorteilen und den geringsten Nachteilen», so Tschudin.
Das Motto «einmal Pille, immer Pille» sei für die meisten Frauen nicht mehr aktuell. Zu den Vorteilen der kombinierten Pille gehöre dabei für viele Frauen nach wie vor ein regelmässiger Zyklus. Dass sowohl Hormon- wie auch Kupferspirale vermehrt nachgefragt werden, zeigt gemäss Gabriele Merki, dass nicht immer die Hormone im Zentrum der Entscheidung stehen: «Die Spirale ist schlicht bequemer als die Pille, weil man nicht jeden Tag an die Verhütung denken und sie nur alle fünf Jahre ersetzen muss.»
Innovation gefragt
Wie sich die Nutzung der Pille weiterentwickelt, hängt nicht zuletzt davon ab, welche neuen Verhütungsmittel in Zukunft entstehen. Ob die Pille für den Mann dereinst doch noch kommt, ist derzeit offen. Entscheidend wird dabei auch sein, inwiefern Frauen sich mit der Idee anfreunden können, die Verhütung ganz in die Hände der Männer zu legen, und ob diese bereit sind, sie zu übernehmen.
Geforscht wird derzeit an nebenwirkungsärmeren Pillen für die Frau wie auch an neuen nicht hormonellen Wegen der Verhütung. So könnten anstelle von Hormonen dereinst Antikörper gewisse Prozesse im Körper blockieren, die zu einer Schwangerschaft führen. «Aber die Forschung dazu steckt noch in den Anfängen», so Tschudin.
Bereits stattgefunden hat aber eine andere Entwicklung, wie Tschudin und Merki erfreut feststellen. «Verhütungsfragen werden in Beziehungen heute unkomplizierter besprochen. Und gerade junge Männer sind zunehmend bereit, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen», so Merki. Während der Gebrauch des Kondoms zunehme, sei die Vasektomie, also die Unterbindung, allerdings immer noch eine sehr seltene Form der Verhütung.
Auf das Kondom setzen
Die heute 31-jährige Simone Gerber bestätigt, dass die Männer in ihrem Freundeskreis heute mehr Verantwortung für die Verhütung übernehmen wollten. Sie und ihr Partner setzen nach der Geburt des ersten Wunschkindes weiter auf das Kondom. Zur Pille zurückzukehren, kann sie sich nicht vorstellen – unter anderem, weil sie denkt, sie würde wieder oft vergessen, sie einzunehmen.
«Die Hauptverantwortung für die Verhütung liegt auch heute noch bei der Frau, die schliesslich auch die Konsequenzen einer Schwangerschaft viel direkter trägt», sagt Tschudin. Grundsätzlich nehmen die Frauen in der Schweiz die Verhütung sehr ernst, so die Erfahrung von Gabriele Merki. Dabei scheinen gerissene Kondome zu den Ausnahmesituationen zu gehören. Die Statistiken zeigen trotz dem Rückgang bei der Pille keine Zunahme bei der Pille danach und den Schwangerschaftsabbrüchen.
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